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5. Belastungspunkte und das Ende der Republik: Inwieweit war die Weimarer Verfassung schuld daran?

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Die zentrale Frage in den 1940er und 1950er Jahren lautete, ob die Weimarer Verfassung der deutschen Demokratie zum Verhängnis wurde. Das Argument, die Verfassung habe es versäumt, die Republik mit den Instrumenten zur Selbstverteidigung auszurüsten, die für das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ in Westdeutschland nach 1949 so zentral waren, stimmt nicht mit den Tatsachen überein. Artikel 48 verlieh dem Reichspräsidenten außerordentliche Vollmachten, die in der Frühphase der Republik direkt und gewaltsam gegen die Linke eingesetzt wurden und auch in der Endphase dazu dienten, kommunistische und nationalsozialistische Milizen einzuschränken. Die nationalsozialistische Sturmabteilung (SA) konnte nicht aufgrund mangelnder präsidialer Befugnisse ungehindert Gewalt ausüben, sondern weil Hindenburg die Maßnahmen gegen sie aussetzte. Das Gesetzgebungsverfahren gab dem Reichstag die Möglichkeit, Gesetze gegen die Feinde der Republik auf der Rechten und Linken zu verabschieden. Der Reichstag machte von dieser Befugnis wiederholt Gebrauch, so zum Beispiel durch Gesetze zum Schutz der Republik erst 1922 und dann nochmals 1930. Jedoch konnten diese Gesetze und Maßnahmen weder die Richter daran hindern, mildere Strafen zu verhängen, noch konnten sie Feinde der Demokratie wie Hitler davon abhalten, Prozesse zu nutzen, um sich eine größere Öffentlichkeit zu schaffen und sich als Märtyrer darzustellen. Anders gewendet: Waffen zum Schutz der Republik konnten den Gegnern auch als Grund dienen, die Republik anzugreifen. Vor allem wurden gerade diejenigen Maßnahmen, welche die Exekutive am Ende der Republik ergriff, um sie zu untergraben und schließlich zu zerstören, von ihren Verteidigern als Aktionen zur Verteidigung der Republik dargestellt: Die wehrhafte Demokratie diente im Wesentlichen als Argument für eine Militärdiktatur, welche die „nationale Einheit“ unter Ausschluss von Parteien und Ländern verteidigte. Anstatt einer moralischen Fabel über das Unvermögen liberaler Demokratien zum Selbstschutz offenbart die Erfahrung der Weimarer Republik vielmehr das Dilemma aller Demokratien, nämlich wie radikale Herausforderungen an die Demokratie unter Wahrung demokratischer Werte bewältigt werden können.

Das Argument, das Verhältniswahlrecht und die daraus resultierende Fragmentierung des Parteiensystems habe die Parlamentspolitik untergraben, übersieht erstens die Tatsache, dass Deutschland bereits vor 1914 fünf oder mehr Parteien hatte (wie heute), und zweitens, dass nicht die kleinen, sondern eher die großen Parteien die Republik zerstörten. Das Mehrheitswahlrecht hätte die Nationalsozialisten schneller und effektiver an die Macht bringen können als das Verhältniswahlrecht, das bis zum Ende für oppositionelle Stimmen sorgte.48 Einmal mehr liefert Weimar keine Geschichte eines Irrtums, sondern eröffnet das grundlegende Problem, wie Wahlen am besten zu organisieren sind und gleichzeitig die Fähigkeit der Bürger, ihre Präferenzen zu äußern, gewahrt werden kann: Es gibt kein demokratisches Wahlsystem ohne Risiko.

Das Argument, Artikel 48 habe die Republik zerstört, ist nur zur Hälfte zutreffend. Indem er sich des Artikels 48 in den turbulenten Anfangsjahren der Republik bediente, rettete Reichspräsident Ebert vermutlich die Republik. Es war nicht Artikel 48 selbst, der zum Untergang der Republik beitrug, sondern es war das Versagen des Systems der gegenseitigen Kontrolle. Insbesondere Artikel 25, der dem Reichspräsidenten erlaubte, das Parlament aufzulösen, entzog dem Reichstag im Wesentlichen die Macht, die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten einzuschränken. Seine Befugnis, ein Kabinett ohne Beteiligung des Parlaments zu ernennen, öffnete den Weg zu einem Präsidialregime. Doch letztlich waren es Reichspräsident Hindenburg und seine Kamarilla, die beschlossen, die Verfassungsordnung zu nutzen, um den Reichstag an den Rand zu drängen und, so hofften sie, die Sozialdemokraten dauerhaft von der Macht auszuschließen. Und ohne die SPD konnte es keine demokratische Mehrheit geben. Es war Hindenburg, der die Lähmung des Reichstags nutzte, um sein eigenes Ziel voranzutreiben, nämlich die Macht des Reichspräsidenten zu erweitern, seine Minister vor Misstrauensvoten zu schützen und die Gesetzgebung schrittweise durch Notverordnungen zu ersetzen. Dass diese Politik letztlich die Reichsregierung selbst untergrub und sie Ende 1932 angesichts eines feindseligen und nicht länger duldsamen Reichstags gelähmt zurückließ, war eine vorhersehbare Folge. Am Ende der Weimarer Republik nutzten der Reichspräsident und die Reichsregierung die Verfassung dazu, Regeln für ein neues, autoritäres Regierungssystem aufzustellen. Sie waren bereit, hierfür das Scheitern der Verfassung hinzunehmen.49

Unterdessen hat das Argument, die in der Verfassung enthaltenen Elemente der direkten Demokratie hätten die Republik untergraben, zusehends an Überzeugungskraft verloren.50 Die direktdemokratischen Elemente spielten, wie bereits erwähnt, in der Politik nur eine sehr geringe Rolle, obwohl sie im politischen Leben durchaus von Bedeutung waren: Der Volksentscheid von 1926 über die Enteignung der ehemals regierenden Fürstenhäuser beispielsweise trieb einen Keil zwischen die Sozialdemokraten auf der linken und die liberalen Parteien auf der rechten Seite, da er die Eigentumsrechte einschränkte. Ernst Fraenkels Argument aus den 1950er Jahren über die Wirkung der direkten Demokratie scheint die Massen für Hitler verantwortlich zu machen, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, wie die Eliten die Demokratie systematisch und bewusst zerstört haben.51

Demokratische Verfassungen bestehen aus einer Anzahl an Regularien, Prozessen und Werten, die versuchen, die vielen in einer Gesellschaft existierenden Stimmen zu organisieren und ein Verfahren für legislative, exekutive oder andere Entscheidungen zu schaffen. Sie balancieren ein geschlossenes Regelsystem mit der Offenheit für Entscheidungen aus, einschließlich solcher über die Regeln selbst. Ohne diese Offenheit, die, wenn sie ernst genommen wird, immer mit Risiken verbunden ist, sind sie nicht demokratisch. Obwohl eine demokratische Verfassung sicherlich Gesetze und Maßnahmen zum Schutz gegen ihre Gegner zulassen kann – wie es die Weimarer Republik getan hat –, kann sie nicht verlangen, dass alle Menschen, einschließlich der Eliten, die Spielregeln akzeptieren. Demokratische Verfassungen können unter bestimmten Bedingungen besser oder schlechter funktionieren, aber sie verursachen nicht das Ende von Demokratien. Sie dienen politischen Handlungsträgern zwar dazu, „bestimmte Alternativen für andere attraktiver zu machen“, aber sie können nicht alle politischen Konstellationen vorhersagen.52 Einzelpersonen und Gruppen können durch ihre Handlungen Demokratien untergraben und im Extremfall zerstören, und selbst die beste Verfassung kann in einem solchen Fall kaum mehr tun, als diese destruktiven Ziele zu kanalisieren.

Kurz gesagt hat die Weimarer Verfassung die Eliten, die ihre Abschaffung verfolgten, nicht hervorgebracht, noch hat sie die deutschen Bürger gezwungen, für große Parteien zu stimmen, deren Ziel die Zerstörung der Demokratie war. Um die zu Beginn dieses Abschnitts formulierten Fragen zu beantworten, muss man über die Verfassung hinausgehen und den Bereich der politischen Kultur betrachten.53 Im Rückblick lassen sich einige Aspekte der Weimarer Verfassung identifizieren, die Schwachstellen darstellten, insbesondere das Kräfteverhältnis zwischen Reichstag und Reichspräsident. Doch die Weimarer Verfassung war nicht schuld an der fehlenden Loyalität der Eliten oder dem Verrat an der Demokratie und ihren Grundwerten durch so viele deutsche Bürger.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Insa Kummer

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