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2. Zugehörigkeiten, politische Mentalitäten und die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit

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Eine gleichmäßig integrierte Staatsbürgergesellschaft, in der alle Bürger in staatsbürgerlicher Gleichheit ihre individuellen rationalen Entscheidungen treffen und so einen Gesamtwillen erzeugen, ist eine Fiktion. Mannigfaltige Ungleichheiten, Interessen und unterschiedliche Formen von kollektiver Zugehörigkeit strukturieren jede Gesellschaft. In Deutschland hatte sich, seiner heterogenen regionalen und konfessionellen Gestalt geschuldet, seit dem Beginn des Kaiserreiches ein komplexes Gemenge vor allem von sozialer Ungleichheit, konfessioneller Bindung und regionaler Herkunft entwickelt. Diese unterschiedlichen Formen von Zugehörigkeit generierten in ihrem Zusammenspiel, so eine in der Forschung weithin konsensuelle Vorstellung, wenige, voneinander deutlich zu differenzierende Großgruppen mit klar zu unterscheidenden politischen Grundsatzbekenntnissen, die nicht einfach nach einer einzigen Kategorie von Ungleichheit (etwa Klassenzugehörigkeit) zu unterscheiden waren. Es war der Soziologe Mario Rainer Lepsius, der in einem einflussreichen Modell die deutsche Gesellschaft zwischen Reichsgründung und Ende der Weimarer Republik als ein Nebeneinander von vier relativ abgeschottet voneinander existierenden „sozialmoralischen Milieus“ beschrieb. Diese umfingen ihre Mitglieder „von der Wiege bis zur Bahre“ als eine allumfassende Deutungskultur, eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft. Lepsius betonte die „Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung“.22 Das sozialistische Arbeitermilieu, das katholische, das bürgerlich-liberale und das protestantisch-konservative Milieu lebten demgemäß nach ihren je eigenen Wertorientierungen, Lebensvollzügen und kollektiven Organisationen. Die Parteien bezeichnete Lepsius als die „politischen Ausschüsse“ dieser Milieus.

Die Bedeutung dieser Theorie lag darin, dass sie keinen „Hauptwiderspruch“ wie etwa den Klassengegensatz postulierte, sondern dass sie kulturelle, regionale, insbesondere auch konfessionelle Zugehörigkeitsmuster für gleich bedeutsam hielt, und dass sie nicht nur nach Interessen in einem rationalistischen Sinn, sondern auch nach Traditionen und Mentalitäten fragte. Wenngleich das Milieukonzept in seinen überscharfen Grenzziehungen und seiner Überschätzung der inneren Kohärenz auf Kritik gestoßen ist,23 bleibt seine Erklärungskraft hoch. Denn es kann einerseits die Stabilität politischer Gruppen in Deutschland erklären, und es ist andererseits geeignet, die Neuheit der NSDAP mit ihrer zumindest partiell milieuübergreifenden Kraft zu beschreiben. Denn dies hatte das Telos von Lepsius’ Überlegungen dargestellt.

Der Politikwissenschaftler Karl Rohe hat indes überzeugend argumentiert, dass nicht alle Milieus gleich weit voneinander entfernt waren.24 Insbesondere das bürgerlich-liberale und das konservativ-nationale Milieu hatten zueinander weniger Distanz als zu den anderen Milieus. Der Protestantismus wirkte hier ebenso als einigendes Band wie die geteilte stärkere nord- und ostdeutsche Verwurzelung. In politischer Hinsicht bildete sich damit eine Drei-Lager-Struktur aus, die innerhalb des sozialistischen, des katholischen und des nationalen Lagers mannigfaltige Übergänge kannte, zwischen den Lagern aber nur wenige.

Trotz der grundlegend gewandelten politischen Bedingungen blieb das Parteiensystem bemerkenswerterweise auch in der Weimarer Republik ähnlich wie im Kaiserreich: Auf der Linken das sozialistische Lager, das jedoch seit dem Krieg tief gespalten war. Das katholische Lager mit der Zentrumspartei erhielt sich weitgehend unverändert, mit Ausnahme der regionalen Gründung der Bayerischen Volkspartei (BVP). Das nationale Lager blieb heterogen: In der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP) setzten die Liberalen die traditionelle Trennung von Links- und Rechtsliberalismus unter neuen Namen fort. Rechts im nationalen Lager etablierte sich die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) als Nachfolgerin der beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs. Durch die Betonung des Nationalen und den ganz neuen demokratischen Akzent der Volks-Partei beanspruchte die DNVP aus dem Schatten der altpreußischen Elitenkreise herauszutreten, ohne allerdings die Heterogenität – und die zeitweise tiefe Spaltung – in einen liberalen und einen reaktionären Konservatismus zu überwinden.25

Trotz dieser Stabilität kam es zu einigen charakteristischen Veränderungen in der politischen Landschaft. Die erste war die Nationalisierung der Parteienkonkurrenz. Die Milieuparteien hatten im Kaiserreich, unter anderem bedingt durch das Mehrheitswahlrecht, ausgeprägte regionale Schwerpunkte aufgewiesen: das Arbeitermilieu in den (Groß-)Städten und den Industriegebieten, das katholische Milieu im Rheinland, in Westfalen, Schlesien und Bayern, das konservative Milieu weitgehend in Altpreußen und das liberal-bürgerliche Milieu in den Städten und in Südwestdeutschland. Demgemäß waren die meisten Parteien ungeachtet ihres Anspruchs, Parteien des ganzen Volks zu sein, immer ausgeprägt regionale oder Hochburgparteien gewesen. Jetzt, mit dem Verhältniswahlrecht, waren alle Parteien gehalten, überall anzutreten. Das Wahlrecht trug so viel zu einer nationalen Integration des politischen Systems bei.

Ein zweiter Effekt war, dass die Spannungen innerhalb der politischen Lager stark zunahmen. Das lag an der nun gegebenen Möglichkeit zu regieren. War im konstitutionellen System des Kaiserreichs alle Politik Oppositionspolitik gewesen und konnte deshalb im Grundsätzlichen verbleiben, so ergaben sich nun Gestaltungsoptionen, die jedoch ein pragmatisches Agieren erforderten. Gleichzeitig waren aber die Erwartungen an die Handlungsspielräume der Parteien mit der Installierung der Demokratie gewachsen. Diese Spannung zwischen Prinzipien- und pragmatischer Politik, zusammen mit den gestiegenen Erwartungen, stellte alle Lager vor Zerreißproben. Die Sozialdemokratie hatte 1918/19 energisch die Chance zur Gestaltung ergriffen und sich damit vom revolutionären Teil der Arbeiterbewegung entfremdet. Auch auf der Rechten gerieten pragmatische Strategien, wie sie etwa Gustav Stresemann bei der DVP oder die konservativen Republikaner bei der DNVP vertraten, in Streit mit grundsätzlichen Gegnern der Republik. Selbst die Zentrumspartei musste mit ihrem republikanischen Kurs so manchen katholischen Gegner der Republik ziehen lassen und die Abspaltung der Bayerischen Volkspartei hinnehmen, der das alles zu progressistisch war und die von der Demokratie den Verrat am Katholischen befürchtete. Diese inneren Spannungen werden, wie es scheint, in Karl Rohes Konstrukt der drei Lager unterschätzt. Die Ausbildung konkurrierender Parteien innerhalb eines Milieus ist ein starker Hinweis auf dessen innere Brüchigkeit. Systemerhalt und Systemüberwindung, Moderatheit und Radikalität koexistierten künftig, institutionell in unterschiedliche Parteien ausdifferenziert, in einem Lager und fanden nicht leicht zusammen.

Es ist Teil von Systemwechseln, dass für eine mehr oder minder lange Übergangszeit Systemfragen verhandelt werden. Das ist nicht spezifisch für die Weimarer Republik. Auch in der Dritten Französischen Republik waren Wahlen in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1871 immer auch Plebiszite über die Republik als Ganzes.26 Opposition hieß immer auch Systemopposition, und damit wurden aus alltäglichen Fragen schnell Grundsatzfragen. Gegenstände, die vordem nicht als Gegenstand politischer Entscheidungen angesehen wurden, wurden nun zu „politischen“ Themen. „Politisierung“ bedeutet vor diesem Hintergrund, dass alle möglichen Fragen in das Prokrustesbett politischer Allianzen und „Grundsätze“ gezwungen wurden.27 Eine Folge waren Polarisierungen, die der Bereitschaft zum Kompromiss enge Grenzen setzten und die sich nicht ohne Weiteres aus den Gegenständen als solchen ergaben, sondern aus einem schmalen Basiskonsens erwuchsen.

Durch die Segmentierung der Weimarer Republik in verschiedene Milieus waren diese Politisierungsmomente von besonderer Schärfe. Denn die Sinnhorizonte der Milieus schlossen einander ja prinzipiell aus. Die im Mehrparteiensystem permanent notwendigen Kompromisse und Koalitionen bedeuteten dabei von Anfang an äußerste Belastungen. Die Segmentierung und Politisierung brach sich indes am allgemeinen kollektiven Zielbegriff der Weimarer Republik: dem des Volkes.28 Die damit unterstellte Gemeinschaftlichkeit, die die partialen Zugehörigkeiten überwölben sollte, galt – abgesehen von der radikalen Linken – für alle Richtungen. In seiner konkreten Zurichtung aber wurde auch das „Volk“ als ein Konglomerat verschiedener – und eben miteinander konkurrierender – Interessengruppen verstanden, die ihrerseits zu politischen Akteuren wurden. Dieses Verständnis von einer nach beruflich-ökonomischen Interessen gegliederten Gesellschaft konnte in der Alltagsdiktion zu der Suggestion führen, dass nicht die Wähler gewählt hätten, sondern die Berufsstände: „Die Handwerkskammern haben einen Sekretär entsandt. Die Kaufmannschaft ist vertreten durch 10 Kaufleute“, schrieb die rechtsliberale Zeitung „Der Tag“ über die Zusammensetzung des Reichstags nach den Frühjahrswahlen 1924.29

Diese Zerrissenheit, sei es in Form der Milieus oder Lager, sei es in Gestalt der verschiedenen ökonomischen oder Klasseninteressen, aber auch von Konfessionen oder Regionen wurde zeitgenössisch von allen Seiten als das Grundübel des deutschen Volkes beklagt und am Gegenmodell, der Idee einer „Volksgemeinschaft“, gemessen. Damit wurde eine tiefgehende, vorpolitische Einheit des Volkes beschworen, die allerdings daran litt, dass sie (noch) nicht erreicht war. Der Volksgemeinschaftsbegriff war keineswegs nur eine Domäne der Rechten und gerade durch seine semantische Polyvalenz vielfach benutzbar. Er beschrieb seine Zielvision nicht in der Form einer pluralen Heterogenität, sondern in der Form einer homogenen Einheit. Dabei war er ebenso Hoffnungsbegriff wie Ausdruck des Leidens an der Uneinigkeit. Dies konnte sehr verschiedenen Ausdruck finden: Sozialpolitiker meinten eine Verständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und einen solidarischen Wohlfahrtsstaat, wenn sie „Volksgemeinschaft“ sagten; Zentrumspolitiker meinten die Anerkennung der Katholiken als vollgültige Staatsbürger; Agrarpolitiker meinten den Ausgleich zwischen Stadt und Land. „Echte“ oder „wahre“ Volksgemeinschaft zu wollen, gehörte zum Standardrepertoire jedes politischen Versprechens; wer Wahlen gewinnen wollte, tat gut daran, die Volksgemeinschaft zu adressieren. Der Begriff nahm ein Leiden an der Differenz auf, das aber durch seine fundamentale Begründung selbst produziert war.

Aufbruch und Abgründe

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