Читать книгу Aufbruch und Abgründe - Группа авторов - Страница 52

3. Die Grenzen nationaler Zugehörigkeit

Оглавление

Zwar herrschte über das gesamte politische Spektrum hinweg weitgehendes Einvernehmen darüber, dass die deutsche Nation über die ganze Welt verbreitet sei. Einen ähnlich gearteten Konsens über die Grenzen nationaler Zugehörigkeit gab es jedoch nicht. Wieder einmal lieferten sich Republikaner und die politische Rechte heftige Debatten über den Nationalismus, diesmal über die Frage, wer Teil der deutschen Nation sein könne und wer nicht. Während die Rechten strenge Auflagen an eine Mitgliedschaft in der deutschen Volksgemeinschaft knüpften, zeichneten sich die Republikaner eher durch vergleichsweise inklusive Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit aus.

In den Augen von Konservativen und Rechtsradikalen gab es vielfältige – vorübergehende und dauerhafte – Gründe für einen Ausschluss aus dem deutschen Volk. Die erste Kategorie für eine solche Exklusion bezog sich auf die politischen Ansichten einer Person. Zwar glaubte die politische Rechte, dass alle Republikaner Verräter an der deutschen Nation seien, doch die Sozialisten (und antirepublikanische Kommunisten) wurden zur besonderen Zielscheibe ihrer Attacken. Im Rückgriff auf die Argumente der Konservativen aus der Zeit des Kaiserreichs warfen sie den marxistischen Parteien vor, wegen ihres Engagements für die internationale Arbeiterklasse unpatriotisch zu sein. Die programmatische Stellungnahme der DVP von 1931 brachte diese Antipathie gegen den Sozialismus auf den Punkt. Sie warf dem Marxismus vor, „anstatt entschlossenen vaterländischen Willens eine schwächliche internationale und pazifistische Romantik“ hervorzubringen.68 Ferner behauptete die politische Rechte, die marxistischen Parteien verhinderten das Zustandekommen der Volksgemeinschaft, indem sie den Klassengegensatz über nationale Bindungen stellten. Wegen dieser beiden „Vergehen“ wollte die politische Rechte Sozialisten und Kommunisten ausschalten. Hitler erklärte in „Mein Kampf“, dass „die Frage der Zukunft der deutschen Nation die Frage der Vernichtung des Marxismus ist“.69 Doch dieser Ausschluss musste nicht zwangsläufig ein dauerhafter sein: Wer sich bereit zeigte, seine marxistische Überzeugung aufzugeben, konnte ein vollwertiger Deutscher werden.

Demgegenüber waren die sogenannten „rassisch Anderen“ vollständig und dauerhaft aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Wie schon bei der Kampagne gegen die „Rassenmischung“ im Rheinland griffen die Rechten begierig den im 19. Jahrhundert populär gewordenen pseudowissenschaftlichen Rassismus auf. Konservative und Rechtsradikale benutzten das Konzept der „Rasse“, um nicht nur Schwarze Menschen, sondern auch Juden aus der Volksgemeinschaft auszuschließen, indem sie fälschlicherweise behaupteten, Juden seien ebenfalls eine fremde Rasse. Der deutsche Journalist Wilhelm Marr prägte 1879 den Begriff des Antisemitismus für diese neue Spielart des Rassenhasses gegen Juden im Unterschied zu älteren, auf religiösen Unterschieden und der Stellung von Juden in Politik und Wirtschaft basierenden Vorstellungen.70 Die Anhänger dieses völkischen Konzepts behaupteten, dass Juden anderes Blut besäßen, sodass auch der Übertritt zum Christentum sie nicht zu Deutschen mache.

Diese Vorstellungen über die Juden durchdrangen das Gedankengut unzähliger Parteien und Organisationen der politischen Rechten. Antisemitismus und Rassismus stellten den Kern der nationalsozialistischen Ideologie dar. Fest überzeugt von völkischen und sozialdarwinistischen Ideen glaubten die Führer der Nationalsozialisten, das deutsche Volk befinde sich in einem Kampf gegen vermeintlich minderwertige Rassen, die seine Vernichtung wollten. Vor allem waren sie der Überzeugung, „der Jude“ stelle die größte existenzielle Gefahr für die „arische Rasse“ dar, ein Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert.71 Aus diesem Grund entwickelten sie ein rein rassemäßiges Verständnis von Deutschtum, demzufolge jeder mit vermeintlich „arischem Blut“ ein Mitglied der Volksgemeinschaft werden konnte, während „rassisch Andere“ kategorisch ausgeschlossen blieben. Neuere Forschungen haben darauf hingewiesen, dass sich konservative Kreise durchaus nicht darüber einig waren, in welchem Ausmaß der Antisemitismus ihre Parteiprogramme und politischen Strategien bestimmen sollte.72 Trotz dieses „situativen Antisemitismus“, bei dem es von der politischen Situation innerhalb Deutschlands und den Erfordernissen der jeweiligen Organisationen abhing, in welchem Ausmaß sich diese dem Antisemitismus verschrieben, propagierten die Konservativen insgesamt ein Konzept der Zugehörigkeit zur Nation, das Juden ausschloss.73 Nach der Abspaltung ihrer extrem antisemitischen Mitglieder 1922 schuf die DNVP den Völkischen Reichsausschuss der Deutschnationalen Volkspartei, um weitere Parteiaustritte von Radikalantisemiten zu verhindern. Außerdem verhängte die Partei ein 1924 in Kraft tretendes Verbot der Mitgliedschaft von Juden und ihren Ehegatten.74 Auch der Stahlhelm und seine Partnerorganisation für Frauen, der Bund Königin Luise, führten Mitte der 1920er Jahre einen „Arierparagrafen“ für ihre Mitglieder ein, der verhinderte, dass Juden ihren Organisationen beitreten konnten.75 Dieser Ausschluss von Juden beruhte auf der Überzeugung, dass sie insgesamt aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgegrenzt werden sollten. Ungeachtet der unterschiedlichen Ausprägung ihres Antisemitismus benutzten alle rechten Organisationen den Judenhass, um die Weimarer Republik – oft als „Judenrepublik“ diffamiert – zu attackieren.76 Völkische Ideen waren also zentral im antirepublikanischen Nationalismus der politischen Rechten.


Abb. 6.3: Nationalistische Vereine und Verbände griffen auch in der Weimarer Republik auf traditionelle Symbole der deutschen Nationalbewegung zurück. Der Schützenverein in Treuenbrietzen (Brandenburg) feiert im Juli 1924 das „500jährige Jubiläum“ der deutschen Schützen mit einem Festzug. Im Bild ist die „Germania“ mit den sogenannten „Edelfrauen“ zu sehen.

Republikaner lehnten eine solche, eng gefasste Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit ab. Ähnlich wie die politische Rechte sprachen auch sie vom „deutschen Volk“ und der „Volksgemeinschaft“, verstanden beides aber weitaus inklusiver. Als Beispiel für ihre alternative Definition von nationaler Zugehörigkeit mag die Stellungnahme von Heinrich Eduard Jacob, dem Wiener Korrespondenten des linksliberalen „Berliner Tageblatts“ dienen, der aus einer jüdischen Familie stammte. Er machte der politischen Rechten in Deutschland und Österreich den Vorwurf, dass sie „sich beinahe täglich in Taten des Klassen- und Rassenhasses ergeht, der nicht zur deutschen Sammlung, sondern zur deutschen Zersplitterung beiträgt“.77

Für Republikaner schloss eine sozialistische Weltsicht nationale Gefühle keineswegs aus. SPD-Mitglieder erklärten, dass ihr internationales Engagement aus ihrer Vaterlandsliebe erwachse. Darüber hinaus bekleideten viele von ihnen führende Positionen in Organisationen für die nationale Sache, so im Österreichisch-Deutschen Volksbund, und organisierten zusammen mit ihren sozialdemokratischen Genossen aus Österreich Veranstaltungen, bei denen der Anschluss einen Leitgedanken darstellte.78 Eine Sport- und Wahlkampfveranstaltung der österreichischen Sozialdemokraten im Jahr 1927, an der neben einer Fußballmannschaft auch deutsche sozialistische Politiker teilnahmen, propagierte den Anschluss. Hermann Müller, der Leiter der deutschen Delegation und zweimaliger Reichskanzler der Republik, sprach zu einem Publikum von 35 000 Menschen:

Die Avantgarde des Anschlusses ist überall die Sozialdemokratie, die seit ihrer Gründung großdeutsch war. Wir Deutschen und Österreicher legen heute zusammen Zeugnis ab für die großdeutsche Republik. Nicht als Feiertagsgeste, nicht als Sport, sondern als Herzenssache.79

Müllers Ausführungen sind typisch für die Argumente der SPD zur Abwehr des Vorwurfes der politischen Rechten, sie sei unpatriotisch. Genau wie bei anderen prorepublikanischen historischen Narrativen behaupteten die Sozialdemokraten, dass sich ihre Partei stets für die großdeutsche Idee eingesetzt habe. In diesen Geschichten der SPD erschienen ihre Koryphäen, angefangen mit den sozialistischen Denkern Karl Marx und Friedrich Engels bis hin zu den Parteigründern August Bebel und Wilhelm Liebknecht, als Hauptverfechter einer großdeutschen gegenüber einer kleindeutschen Lösung.80 Der Rückgriff auf die großdeutsche Idee war für die Sozialisten wie auch für die weiter gefasste republikanische Koalition ein wichtiger Beweis ihres echten, aufrichtigen Engagements für den deutschen Nationalismus, wenn dieser auch anders aussah als der ihrer Gegner.


Abb. 6.4: DNVP-Wahlplakat für die Reichstagswahl im Mai 1924.

Darüber hinaus lehnten die Republikaner einen Ausschluss der Juden aus der nationalen Einheit ab. Indem Menschen mit jüdischem Hintergrund ihre Hingabe zur deutschen Nation laut und deutlich kundtaten, an nationalen Feiern teilnahmen, die von republikanischen Gruppierungen wie dem Reichsbanner organisiert wurden, und wichtige Ämter im Österreichisch-Deutschen Volksbund übernahmen, wollten sie die Fadenscheinigkeit rechter Behauptungen über Juden aufzeigen. Juden konnten diesen Organisationen beitreten, weil Republikaner mit einem nicht jüdischen Hintergrund eine antisemitische Interpretation der nationalen Einheit ablehnten.81 Eine frühe Mitgliederwerbung des Reichsbanners, die sich an Veteranen des Ersten Weltkriegs richtete, verdammte die Schar „wüster Demagogen, die schamlosen Mißbrauch mit den Begriffen Vaterland und Nation treiben, ihre eigne Schuld und heimlichen Ziele hinter Schmachvoller Judenhetze verstecken“. Dieser „blöde Antisemitismus“ ignoriere, dass Juden mit Protestanten und Katholiken „Schulter an Schulter […] gekämpft und geblutet haben“.82 Republikaner lehnten den Ausschluss von Juden aus der Volksgemeinschaft ab und bemühten sich, die Dolchstoßlegende als eine Lüge zu entlarven.

Dass Republikaner Sozialisten, Juden und sogar fremdsprachige Einwanderer und Minderheiten in die deutsche Nation mit einbeziehen wollten,83 beruhte nicht einfach darauf, dass ihr Nationalismus ein staatsbürgerlicher war, der Staatsangehörigkeit und Nationalität gleichsetzte. Das Plädoyer der Republikaner für einen Anschluss und ihre Aufrufe an die Auslandsdeutschen deuten schon darauf hin, dass die republikanische Spielart des deutschen Nationalismus auch kulturelle und ethnische Konzepte beinhaltete. Danach waren eine gemeinsame Kultur und Sprache sowie das Engagement für das deutsche Volk ungeachtet der Staatsangehörigkeit wichtige Elemente der nationalen Identität für sie. Verfechter der Demokratie mit jüdischem Hintergrund und ohne ihn benutzten außerdem Konzepte, die auf „Blut“ und „Stämmen“ basierten, zur Beschreibung einer über die Staatsgrenzen hinaus bestehenden deutschen Nation. Obwohl Historiker solche Definitionen von nationaler Einheit oft als „völkisch“ interpretiert haben,84 vermieden Republikaner meist ein völkisches Verständnis von Deutschtum in ihrer Diskussion über eine geografisch weit ausgedehnte Nation. Ebenso wie der zu Beginn dieses Kapitels zitierte Radbruch wies auch der Sozialist Konrad Haenisch darauf hin, dass die von ihm gewünschte „große deutsche Volksgemeinschaft“ nichts zu tun habe mit der „eines engherzigen und engstirnigen Rassenfanatismus“.85 Tatsächlich ermöglichte das Konzept der „Stämme“ den Juden, gleichzeitig ihre Besonderheiten und ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk zu betonen. Eine solche Sichtweise klingt vielleicht weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Präambel der Weimarer Verfassung vom deutschen Volk „einig in seinen Stämmen“ spricht.86 Republikaner griffen also auf kulturelle und ethnische Vorstellungen in einer deutlich inklusiveren Form zurück und benutzten diese zur Stärkung demokratischer Werte.

Dies heißt allerdings nicht, dass der republikanische Nationalismus gänzlich frei von abstoßenden Ideen gewesen wäre. Auch wenn die Republikaner den rassistischen Antisemitismus ablehnten, hegten einige von ihnen durchaus rassistische Vorstellungen über die Hautfarbe von Menschen. Zwar protestierten während des Kaiserreiches SPD, Zentrum und die Vorläuferin der DDP gegen ein geplantes Verbot von „Mischehen“ in den deutschen Kolonien,87 doch manche Mitglieder dieser Parteien propagierten in der Tat Rassismus gegen Schwarze Menschen. Selbst innerhalb der SPD gab es Zirkel, die sich „statt internationaler Solidarität des Proletariats also die weiße Rassensolidarität gegen den ‚Neger‘“ auf die Fahnen schrieben, wie die Wissenschaftlerin Fatima El-Tayeb gezeigt hat.88 Dieser Rassismus setzte sich in der Weimarer Republik fort. Manche Republikaner beteiligten sich zusammen mit der politischen Rechten an der Kampagne gegen die „schwarze Schmach“.89 Dies erklärt auch, warum die Parteien der Weimarer Koalition gelegentlich die Rückgabe der deutschen Überseekolonien forderten.90 Der republikanischen Interpretation von nationaler Zugehörigkeit zufolge hatte Inklusivität also durchaus ihre Grenzen, was die Verbreitung eines gegen Schwarze Menschen gerichteten Rassismus bei der Definition von „Deutschtum“ zeigt.

Während die Hetze gegen Kolonialsoldaten bei der politischen Rechten unvermindert anhielt, war diese in den republikanischen Parteien umstritten und verringerte sich bei ihnen zunehmend.91 Zwar ließen einige vereinzelte Anhänger der Demokratie rassistische, auf der Hautfarbe basiere Ideen laut werden, doch im Großen und Ganzen unterschied sich die übergreifende republikanische Version des deutschen Nationalismus erheblich von derjenigen, welche die politische Rechte vertrat. Anders als ihre Gegner akzeptierten Republikaner Sozialisten und Juden sowie fremdsprachige Minderheiten und Einwanderer als Mitglieder der Volksgemeinschaft.

Aufbruch und Abgründe

Подняться наверх