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1. Die Politik des Nationalismus

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Die sich während der letzten Tage des Ersten Weltkriegs über ganz Deutschland ausbreitende Revolution zwang die Deutschen zum Nachdenken über die für sie am besten geeignete Regierungsform. Während sich die konservativen Eliten über ihren durch den Sturz der Monarchie ausgelösten Machtverlust grämten, sahen andere in der Situation eine Gelegenheit zur Neugestaltung des politischen Systems. Die Kommunisten hofften auf eine vom Bolschewismus inspirierte Regierung, der Mittelstand wollte einen korporatistischen Staat, der seine Arbeit honorieren würde, die radikale Rechte wollte eine Diktatur mit starkem Führer und „Reinheit der Rasse“, und die Republikaner arbeiteten auf die Einsetzung einer parlamentarischen Demokratie hin. Im Kampf um politische Legitimität griffen alle Parteien und Vereinigungen, mit Ausnahme der Kommunisten, auf die Idee des deutschen Nationalismus zurück, um gegnerische Konzepte einer guten Regierungsführung zu diskreditieren und ihre eigenen politischen Visionen zu untermauern.

Für die politische Rechte war die neue demokratische Republik eine nationale Tragödie. Trotz heftiger interner Kämpfe innerhalb dieses Lagers – bestehend aus DNVP, NSDAP, anti-republikanischen paramilitärischen Gruppierungen wie den Freikorps und dem Stahlhelm sowie dem Alldeutschen Verband und anderen radikal-nationalistischen Vereinigungen11 – waren sich all diese Organisationen einig in ihrer Verbitterung über die deutsche Niederlage, den Versailler Vertrag, den verringerten machtpolitischen Status des Landes, Gebietsabtretungen und den sozialdemokratischen Reichspräsidenten. Auf der Suche nach Möglichkeiten, die Republik zu unterminieren, stützten sich diese disparaten Kräfte der politischen Rechten auf den deutschen Nationalismus. Ein zentrales Mittel in ihrem Kampf gegen die Demokratie und seine Befürworter war die falsche Behauptung, die Entstehung der Weimarer Republik sei nur möglich gewesen, weil Juden, Marxisten und Republikaner der deutschen Armee „den Dolch in den Rücken gestoßen“ hätten, was zur Niederlage im Ersten Weltkrieg geführt habe. Die „Dolchstoßlegende“ der Konservativen und Rechtsradikalen machte die Gründer der jungen Demokratie zu nationalen Verrätern, die Deutschland angeblich eine fremde Regierungsform übergestülpt hatten. Alfred Fletcher, ein Mitglied der DNVP, behauptete, die Republik sei das Ergebnis eines „fluchwürdigen Verbrechen[s] gegen die Nation“.12 Ähnlich schrieb auch Adolf Hitler in „Mein Kampf“, dass „heute jedoch in unserer Republik die Macht in den Händen der gleichen Männer liegt, die einst die Revolution anzettelten“, und dass „diese Revolution aber den gemeinsten Landesverrat, ja die erbärmlichste Schurkentat der deutschen Geschichte überhaupt darstellt“.13 Dieser „Verrat“ habe, der politischen Rechten zufolge, den Weg für den Versailler Vertrag geebnet und es den westlichen Alliierten ermöglicht, Deutschland die Demokratie aufzuoktroyieren. Solche Angriffe herrschten in zahlreichen Gruppierungen der politischen Rechten vor, sie erschienen in Zeitungen, Büchern, Reden und auf Plakaten und wurden bei politischen Wahlkampfveranstaltungen und Feiern beschworen.

Dieser Logik zufolge waren Demokratie und Republik keine genuin deutschen Werte, sondern ein Bruch in der deutschen Geschichte. Dabei stellten die Rechten die unglücklichen Umstände des Zustandekommens der Republik dem triumphalen Moment der Reichsgründung von 1871 gegenüber. Gruppierungen des gesamten rechten Spektrums bezeichneten die Republikaner als die „Zerstörer der Schöpfung Bismarcks“.14 In Rückgriff auf diesen „Bismarck-Mythos“ wollten die antirepublikanischen Kräfte zeigen, dass die Republik Deutschland wesensfremd sei. Die mit der Republik entstehende parlamentarische Demokratie und das Parteiensystem schüfen Fraktionen, die der Realisierung der Volksgemeinschaft im Wege ständen und das internationale Ansehen des Landes schwächten. Nur ein starker und charismatischer Führer, wie es Bismarck gewesen sei, könne das deutsche Volk einigen und Deutschlands Weltmachtstatus zurückerobern.15

War sich die politische Rechte auch in ihrer Verleumdung der Demokratie einig, herrschten intern allerdings Meinungsverschiedenheiten über den am besten zum deutschen Wesen passenden Regierungstyp. Die konservative „Kreuz-Zeitung“ schrieb 1926:

Wir lehnen deshalb die Form, in der sich das Leben des deutschen Staates heute abspielt, ab. Wir sind fest davon durchdrungen, daß wir zur Einheit und zur Freiheit nur dann zurückfinden können, wenn wir uns ein Staatsgrundgesetz schaffen, das der geschichtlichen Entwicklung des Deutschen Reiches und der Struktur des Volkslebens in ihm wirklich entspricht. Deutsches Führertum findet seinen Ausdruck und sein Symbol im monarchischen Gedanken.16

Für den Fall, dass die Wiedereinsetzung der Monarchie scheitern sollte, hofften die Konservativen ein autoritäres Regime einzusetzen, das ihnen die Macht über den Staat zurückgeben und den Ruhm des Kaiserreiches wiederherstellen würde. Es war ganz offensichtlich ihre Gleichsetzung von „Deutschtum“ mit den Werten des Kaiserreiches, die sie zu einer Ablehnung der neuen Farben der Republik – schwarz-rot-gold – veranlasste, da sie, mit den Worten des Flottenbunds Deutscher Frauen, „wesensfremd“ seien.17 Stattdessen benutzten die Konservativen weiterhin die kaiserliche schwarz-weiß-rote Flagge.18 Ihre Unterstützung Paul von Hindenburgs in den Präsidentschaftswahlen von 1925 zeigt ebenfalls diese Gleichsetzung von kaiserlichen mit nationalen Prinzipien. Als preußischer Aristokrat, „Sieger von Tannenberg“ und Chef der Dritten Obersten Heeresleitung der Weltkriegsarmee weckte Hindenburg bei seinen Anhängern die Hoffnung, dass er als „Nationalheld“ die Republik beseitigen und die Fortsetzung der „guten alten Zeit“ in die Wege leiten würde.19

Anders als die Konservativen glaubten die Nationalsozialisten, dass eine Rückkehr zur vorherigen Regierungsform nicht ausreiche, um Deutschland neue Kraft zu geben. Hitler hoffte, ein neues politisches System zu schaffen, das sich auf das Führerprinzip und die Idee der Rasse gründete. Obwohl Rasse ein soziales Konstrukt und keine biologische Tatsache ist, hatte der pseudowissenschaftliche Rassismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr Akzeptanz in Deutschland gefunden. Diese Pseudowissenschaft der Rasse spielte bei den Anhängern völkischer Überzeugungen eine zunehmend größere Rolle. In ihr verband sich romantisches Gedankengut mit der Sehnsucht nach ethnisch-kultureller Homogenität. Völkische Denker erfanden eine mythische „arische Rasse“, die sie einer vermeintlich bedrohlichen und wurzellosen „jüdischen“ oder „semitischen Rasse“ und den angeblich minderwertigen „slawischen“ und der „Negerrasse“ gegenüberstellten. Solche Ideen hatten großen Einfluss auf Hitlers Denken nach dem Ersten Weltkrieg.20 In „Mein Kampf“ schrieb er: „Der Staat ist ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen. Diese Erhaltung selber umfasst erstlich den rassenmäßigen Bestand […]“.21 Hitler betrachtete die Zerstörung der demokratischen Republik als ersten Schritt auf dem Weg zu seinen rassistischen Zielen. Trotz dieser unterschiedlichen politischen Visionen benutzten sowohl Konservative als auch Rechtsradikale den deutschen Nationalismus für ihre Angriffe auf die Weimarer Republik.

Für Rechtsextreme bedeutete diese Rhetorik einen Aufruf zum Handeln. Durch verschiedene, letztlich erfolglose Putschversuche waren sie bestrebt, das politische System zu stürzen, das sie als undeutsch ansahen. Die rechten Freikorps, paramilitärische Veteraneneinheiten, die sich der Demobilisierung widersetzten, inszenierten im Jahr 1920 einen Putsch, und Hitler unternahm 1923 einen erneuten Anlauf. Diese Gruppierungen begingen auch politische Anschläge und Attentate. Die Organisation Consul, ein Ableger der Freikorps, ermordete prominente Unterstützer der Republik um ihr Ziel der „weiteste[n] Pflege des nationalen Gedankens“ und der „Bekämpfung der antinationalen Weimarer Verfassung“ zu erreichen.22 1921 verübten ihre Mitglieder einen Mordanschlag auf Matthias Erzberger, einen Politiker des linken Zentrumflügels, der zu den Unterzeichnern des Waffenstillstands von November 1918 gehörte. Ein Jahr später ermordeten rechtsradikale Attentäter Walther Rathenau, einen deutschen Patrioten, Juden, Industriellen und, zum Zeitpunkt seines Todes, Reichsaußenminister. Schon vor den Mordanschlägen waren beide Männer wegen ihres angeblichen Betrugs am deutschen Volk zur Zielscheibe bösartiger Attacken von konservativen und rechten Politikern und den entsprechenden Medien geworden.23 Der extreme Nationalismus führte also zu tragischen Konsequenzen für die Republik und ihre Unterstützer.

Die DVP war eine Mitte-Rechts-Partei im politischen Spektrum der Weimarer Republik, die den deutschen Nationalismus benutzte, um die Republik abwechselnd anzugreifen und zu unterstützen.24 Unter ihrem Vorsitzenden Gustav Stresemann, der als Reichsaußenminister von 1923 bis 1929 wesentlich zur Wiederherstellung von Deutschlands internationalem Ansehen beitrug, schlug die Partei widerstrebend einen Weg zur Stabilisierung der Republik ein. Stresemann, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein bekennender Monarchist, wurde um 1922 zu einem pragmatischen Befürworter der Republik, ein Wandel, den er aus „nationalem Pflichtgefühl“ vollzog.25 Vor dieser Transformation stimmte die Partei jedoch 1919 gegen die Weimarer Verfassung.26 Nach dem Tod Stresemanns rückte die Partei weiter nach rechts und übernahm verstärkt autoritäre Vorstellungen. In ihrem Programm von 1931 erklärte sie, „[a]lles, was undeutsch und wesensfremd im Verfassungsleben ist […] muß beseitigt werden“.27

Lautstark wiesen Republikaner die Behauptung der politischen Rechten zurück, sie hätten die deutsche Nation durch ihre Unterstützung der Demokratie betrogen. Ludwig Haas, Mitglied der DDP und eine der führenden Figuren im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, erklärte 1925 auf einer Republikfeier:

Die rechtsradikalen Verbände haben auch die Lüge ins Volk getragen, als ob sie allein Vaterlandsliebe und echtes nationales Gefühl haben. […] Wir Republikaner lieben unser Vaterland mindestens ebenso. […] Wir wissen, daß es eine deutsche Zukunft nur gibt auf dem Boden der Republik. Weil wir unser Vaterland lieben, deswegen sind wir Republikaner.28

Für Haas und andere Republikaner war die neue Regierung Ausdruck eines deutschen Nationalgefühls, weil in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.

Zur Unterstützung dieses Arguments entwickelten die Republikaner ihre eigene Spielart des deutschen Nationalismus. In seinem Zentrum stand eine Österreich einschließende, großdeutsche Lösung. In Anknüpfung an diese Vorstellung wollte die republikanische Seite demonstrieren, dass die deutsche Nationalbewegung seit ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert eng mit der Forderung nach politischen Freiheiten verbunden war.29 Aus der Perspektive der republikanischen Geschichtsinterpretation nahm das Frankfurter Parlament von 1848/49 eine zentrale Stellung ein, da es versucht hatte, einen deutschen Nationalstaat mit parlamentarischem System unter Einschluss österreichischer Abgeordneter zu schaffen.

Dieser Wille zur Vereinigung, zur Zusammenfassung in einem einheitlichen Staatskörper, er ist die Erfüllung der Wünsche, die die Paulskirche im Jahre 1848 bewegte. Er ist aufgehalten worden durch die Sonderinteressen der verschiedenen deutschen Dynastien, er kann aber auf die Dauer nicht aufgehalten werden, wo die Demokratie herrscht, wo der Volkswille herrscht,

erklärte Paul Löbe, der langjährige sozialdemokratische Reichstagspräsident, 1925 auf einer „Anschluss“-Kundgebung in Wien.30 Diese direkte Verbindungslinie zwischen dem Frankfurter Parlament und der Weimarer Republik sollte nach republikanischer Auffassung beweisen, dass die Demokratie weder von fremden Mächten aufoktroyiert worden, noch das Ergebnis eines Dolchstoßes im Krieg war. Vielmehr stellte sie eine nationale, tief in der Geschichte Deutschlands verankerte Tradition dar. Darüber hinaus argumentierten Löbe und andere Republikaner, dass gerade die monarchische Staatsform die Umsetzung der deutschen Einheit verhindert habe, da die Monarchien die Schuld für das Scheitern des Frankfurter Parlaments und den Ausschluss Österreichs aus Deutschland durch den Deutschen Krieg von 1866 zwischen Preußen und Österreich trugen. Nur eine repräsentative Staatsform könne nationale über partikulare Interessen stellen, um die großdeutsche Lösung zu verwirklichen.

Angesichts der Einmischung der Monarchien in die nationale Bewegung und Bismarcks kleindeutscher Lösung behaupteten die Republikaner, weit bessere Deutsche als ihre politischen Gegenspieler zu sein. Der Vorsitzende der Potsdamer Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, einer Veteranenorganisation zum Schutz der Republik, erklärte: „Unser Nationalismus ist von ganz anderer Art, als der unserer Gegner“. Ihr „konservative[r] Nationalismus“ sei nicht weiter als „das geistige Erbe der Kleindeutschen“, das „10 Millionen Deutsche“ in Österreich aus Deutschland ausgeschlossen habe. Der republikanische großdeutsche Nationalismus jedoch reiche bis ins Jahr 1848 zurück und sei daher älter. Er „spürt den Herzschlag des ganzen deutschen Volkes, nicht nur Preußens“.31 Die Republikaner schufen ihre eigene Spielart des Nationalismus zur Legitimierung der Demokratie, indem sie ihren Nationalismus auf die Idee einer großdeutschen Lösung gründeten. Aus diesem Grund sprach Radbruch in der eingangs zitierten Schrift von seinen „Stammesbrüdern“ in Österreich und Haas in seiner Rede von seinem Wunsch nach einer deutsch-österreichischen Einheit.

Obwohl die politische Rechte weiterhin die Republik und ihre Anhänger als undeutsch verunglimpfte, fand der republikanische Nationalismus große Resonanz. Zur Propagierung der neuen Staatsform inszenierten die Republikaner zahlreiche Festlichkeiten und Kundgebungen, die die Demokratie feierten und das republikanisch-nationale und großdeutsche Argument betonten. Das Reichsbanner mit seiner fast eine Million starken Mitgliederbasis wurde zum wichtigsten Koordinator solcher Veranstaltungen.32 Zusammen mit dem Republikanischen Schutzbund, dem paramilitärischen Arm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, organisierte es grenzüberschreitende Ausflüge anlässlich der Feier von Verfassungstagen und Reichsbanner-Jubiläen, der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, sowie Sport- und chormusikalischen Veranstaltungen. Damit sollte – in den Worten des Reichbanners – „eine machtvolle Demonstration für den republikanischen und großdeutschen Gedanken“ erreicht werden.33 Die Besucher erlebten Fackelzüge, sahen ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen, hörten von Musikkapellen gespielte patriotische Lieder und konnten Feuerwerke bestaunen. Solche Attraktionen zogen imponierende Menschenmengen an, die größte von ihnen, das 1929 vom Reichsbanner ausgerichtete zehnjährige Jubiläum der Weimarer Verfassung in Berlin, zählte ein Publikum von 800 000 Menschen, darunter 1500 Schutzbund-Mitglieder. Beobachter berichteten, dass bei jeder dieser Veranstaltungen die Anwesenheit von Österreichern in Deutschland und die von Deutschen in Österreich besondere Begeisterungsstürme auslöste.34 Der republikanische großdeutsche Nationalismus erfreute sich in der Tat großer emotionaler Resonanz, was zeigt, dass die Weimarer Republik nicht, wie manche ältere Geschichtsbücher behauptet haben, eine „Republik ohne Republikaner“, mit lediglich „rationalen Republikanern“ oder gar eine Demokratie ohne Symbole war.35


Abb. 6.2: Die Republikaner bemühten sich um einen Schulterschluss mit Gleichgesinnten in der Republik Österreich und vertraten einen großdeutschen, republikanischen Nationalismus. Das Foto zeigt den Reichstagspräsidenten Paul Löbe 1925 bei einer Kundgebung in Wien.

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