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7.2 Prognostische Faktoren bei ASS

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Mehrere Studien in den siebziger und achtziger Jahren zeigten, dass die Prognose bezüglich des späteren Funktionsniveaus und der Selbstständigkeit bei Kindern mit ASS und IQ < 50 eher ungünstig ist: Die mentalen Funktionen, die Fähigkeit zur Verrichtung alltäglicher Aktivitäten und die Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft werden in diesen Fällen stark durch die beeinträchtigten allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten bestimmt (Howlin et al. 2004; Cederlund et al. 2008 ; Howlin u. Magiati 2017). Bei Kindern mit Autismus und Intelligenzminderung können die IQ-Werte mit Förderung etwas steigen, bleiben allerdings oft im unterdurchschnittlichen Bereich, sodass diese Menschen im Erwachsenenalter mit wenigen Ausnahmen weiterhin komplett vom Elternhaus und betreuenden Strukturen für Behinderte abhängig sind. Erwachsene mit low-functioning Autismus brauchen oft – aufgrund der erheblichen Einschränkungen der Kommunikationsfunktionen und des ausgeprägten stereotypen und teilweise selbstverletztenden Verhaltens – spezielle auf sie abgestimmte Förderprogramme, eine stark strukturierte Umgebung und störungsspezifisch geschultes Pflegepersonal, um die Alltagsbewältigung zu gewährleisten und ihre Teilhabe zu verbessern (Biscaldi et al. 2012).

Bei hochfunktionalen ASS finden sich prognostisch deutlich günstigere Umstände. Howlin et al. (2004) konnten zeigen, dass bei der Gruppe der Kinder mit frühkindlichem Autismus und mit IQ ≥ 70 ein günstigerer Verlauf (definiert als Qualifikation der Arbeitsbeschäftigung, Ausmaß der Selbstständigkeit im Alltag, sowie Quantität und Qualität der interpersonellen Beziehungen) zu verzeichnen ist. Innerhalb dieser Gruppe sind es v.a. Symptome wie Zwänge, extreme Rigidität oder zusätzliche psychotische Symptome, die die Prognose verschlechtern können. Ressourcen wie z.B. eine gute Reflektionsfähigkeit, eine gute Balance zwischen sozialer Anpassung und Authentizität, adäquate Kommunikationsstrategien und beruflich nutzbare Hochbegabungsbereiche können die Prognose erheblich verbessern. Diese Faktoren scheinen prognostisch relevanter zu sein als eine weitere Zunahme des IQ-Wertes (Farley et al. 2009). Neue Untersuchungen zeigen zusätzlich eine starke Abhängigkeit der Prognose von sozial-kommunikativen Fähigkeiten, welche vor allem die oft beobachtete Diskrepanz zwischen IQ und adaptiven Funktionen bei Individuen mit guten intellektuellen Fähigkeiten am besten erklären können (Tillmann et al. 2019).

In eigenen Untersuchungen zum Funktionsniveau von Kindern und Jugendlichen mit HFA/AS und LFA (Paschke 2006; Reusch 2008) – ermittelt durch die Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (International Classification of Functioning, Disability and Health ICF, WHO 2001) – traten unabhängig vom Intelligenzniveau folgende beeinträchtigte Funktionen als kritische Faktoren für die spätere Prognose hervor (Biscaldi u. Rauh 2009):

Defizite in der Aufmerksamkeit, in der Fähigkeit zu emotionalem Ausdruck, in den Organisations- und Planungsfähigkeiten und im Problemlösevermögen

Beeinträchtigungen bei der Übernahme von komplexen Aufgaben, im Umgang mit Stress und anderen psychischen Anforderungen

Beeinträchtigungen bei verbalen und nicht-verbalen Mitteilungen in Konversations- und Gruppensituationen und in komplexen interpersonellen Beziehungen

Probleme beim selbstständigen Erledigen von Körperpflege

Schwierigkeiten in der Selbstversorgung und bei der Teilnahme an öffentlichen Aktivitäten

In einer weltweiten Umfrage von de Schipper et al. (2016), basiert auf ICF-Items, wurden körperliche Beschwerden und Besonderheiten der Motorik sowie ungünstige Bedingungen im Umfeld der Menschen mit ASS als weitere häufige Faktoren, die zu starken Funktionsbeeinträchtigungen führen, genannt. In dieser Studie wurden außerdem Ressourcen hervorgehoben, die z.B. als Ehrlichkeit, Fokussierung auf Details, Ausdauer und Loyalität identifiziert werden konnten (de Schipper et al. 2016). Welche prognostische Rolle das Alter bei der Erstdiagnose spielt, ist nach wie vor nicht genauer erforscht. In den oben genannten eigenen Untersuchungen bekamen Kinder mit hochfunktionalen Formen von ASS noch bis 2005 eine definitive Diagnose erst im Jugendalter (Heß 2007; Reusch 2008) und nicht selten auch im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Behandlung wegen Auftretens massiver komorbider Störungen (Schulphobie, Angststörungen, schwere Zwangsstörungen, Depressionen und – nach der Pubertät – auch psychotische Episoden). Eine Diagnosestellung erst in der Grundschulzeit oder sogar danach ist für störungsspezifische, verhaltensstrukturierende Behandlungskonzepte wie ABA oder TEACCH (s. Kap. IV.6) aber oft zu spät. Bis 2005 waren im deutschsprachigen Raum außerdem Behandlungskonzepte für Kinder und Jugendliche mit hochfunktionalen ASS, z.B. Sozialkompetenztrainingsprogramme zur Förderung der sozialen Kommunikation und Interaktion (Herbrecht et al. 2009) und pädagogische/erzieherische Angebote im Rahmen der Eingliederungshilfe (Paschke 2006), unzureichend implementiert. Daher hatten viele dieser Kinder nicht die Möglichkeit, störungsspezifische konstante und gezielte Förderprogramme zu bekommen (Reusch 2008). Es ist zu vermuten, dass eine späte Diagnosestellung auch zu einer schlechteren Prognose führt; nach eigenem klinischen Eindruck haben auch die in den letzten 10 Jahren verbesserten Rahmenbedingungen den Verlauf positiv beeinflusst. Der empirische Nachweis dafür ist bislang allerdings noch nicht erbracht.

Gemäß eigener Erfahrung dürfte auch das Wissen von Eltern und Lehrern um die Natur autistischer Störungen einen großen Einfluss auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung haben. Wenn Diagnostik und adäquate Maßnahmen rechtzeitig eingeleitet werden, können Situationen dauernder (z.B. sozialer oder organisatorischer) Überforderung oder (z.B. fachlicher) Unterforderung oder auch Mobbing und Ausgrenzung in der Schule gezielter vermieden werden und das Kind nimmt nicht zusätzlichen Schaden an Identitäts- und Selbstwertgefühl. Aber auch diesbezüglich steht eine systematische Forschung noch aus.

Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter

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