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7.3 Verlauf bei hochfunktionalen ASS im Erwachsenenalter

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Viele Menschen mit hochfunktionalem Autismus – unabhängig davon, ob eine Diagnose gestellt wurde oder nicht – starten in vielerlei Hinsicht spät ins Erwachsenenleben: Sowohl der Auszug aus dem Elternhaus, als auch die Aufnahme erster Liebesbeziehungen, der Beginn einer beruflichen Karriere oder die Gründung einer eigenen Familie beginnen häufig deutlich später in der Lebensspanne als bei neurotypischen Personen. Da der soziale Umgang mit Kommilitonen, Kollegen, Freunden und Partnern nicht intuitiv erworben, sondern bewusst und kognitiv erlernt wird, nimmt dieser Prozess oft viele Jahre in Anspruch. Auch führen autismusbedingte Veränderungsängste zu einer eher vorsichtigen und langsamen Verselbstständigung. Dabei stellt der Übergang ins Erwachsenenalter für Menschen mit hochfunktionalen ASS häufig eine große Herausforderung dar: Während Menschen mit niedrigfunktionalem Autismus oft schon einen institutionellen oder familiären Rahmen gefunden haben, in dem sie längerfristig leben können, entsteht für Menschen mit hochfunktionalen ASS ein doppelter Bruch. Neben dem Schritt heraus aus Elternhaus und Schule – beides meist klar strukturierte Rahmengebilde – entfällt oft auch die adäquate psychiatrische oder psychotherapeutische Versorgung: Während sich die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert hat, gibt es kaum Kliniken oder Erwachsenenpsychiater und -psychotherapeuten, die sich den störungsspezifischen Umgang mit Erwachsenen mit hochfunktionalen ASS zutrauen. Dabei ist nach unserer klinischen Einschätzung – und auch in einer Übersichtsarbeit aus Großbritannien (Pilling et al. 2012) entsprechend dokumentiert – die Anzahl derjenigen ehemaligen Kinder mit ASS nicht gering, die trotz normal entwickelter kognitiver Fähigkeiten oft nicht oder nur mit Hilfe dazu in der Lage sind, Entwicklungsaufgaben in Richtung Verselbstständigung, Beruf und Aufbau eines sozialen Netzes inklusive eigener Familie zu bewältigen. Während einige Berufsbildungswerke unterstützende Ausbildungen für Menschen mit ASS anbieten, ist die Situation für junge Erwachsene, die ein Studium aufnehmen wollen, oft nicht einfach – wobei es erfreulicherweise immer mehr Universitäten gibt, die ein spezielles Beratungsangebot für Studierende mit ASS bereithalten. In Deutschland wird die prinzipielle Möglichkeit, im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen eine Studien- oder Ausbildungsassistenz (also z.B. sozialpädagogische Hilfe zur Organisation und Durchführung eines Hochschulstudiums) zu erhalten, noch immer selten in Anspruch genommen, teils aufgrund fehlender Diagnosen, teils aufgrund verbreiteter Unkenntnis, teils aufgrund der schwierigen Antragstellung. Dies führt nicht selten dazu, dass trotz hervorragender fachlicher Fähigkeiten die Herausforderung einer Ausbildung oder eines Studiums nicht gemeistert werden kann. Passend dazu stellten Howlin und Moss in einer Übersichtsarbeit zum psychosozialen Funktionsniveau von Erwachsenen mit ASS fest, dass junge Erwachsene mit ASS und durchschnittlicher Intelligenz im Vergleich zu einem Normalkollektiv signifikant häufiger in Bezug auf Erwerbstätigkeit, soziale Beziehungen, physische und mentale Gesundheit benachteiligt sind und gesellschaftlich exkludiert werden (Howlin u. Moss 2012). Pilling et al. (2012) kamen in ihrer, die Empfehlungen des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE-Guidelines) zusammenfassenden Arbeit, zu ähnlichen Befunden und führten aus, dass zwei Drittel der Erwachsenen mit hochfunktionalen ASS undiagnostiziert waren, durch die Maschen des sozialen Netzes fielen, sehr häufig arbeitslos waren und/oder in prekären Verhältnissen lebten. Die Situation dürfte sich in den letzten zehn Jahren ein bisschen gebessert haben, in vielen Gegenden trifft der Befund aber noch immer zu. Einen nicht unerheblichen Beitrag zu der Verbesserung trug neben einer verbesserten Diagnostik und einem verbreiteteren Wissen über ASS bei, dass sich erfreulicherweise einige Firmen etablierten, die sich auf die Vermittlung von Erwachsenen mit ASS in den ersten Arbeitsmarkt spezialisiert haben.

Eine besondere Gruppe bilden diejenigen Menschen, bei denen der Verdacht auf eine ASS erst im Erwachsenenalter gestellt wird. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. Bis Anfang der 1980er-Jahre wurde die Diagnose HFA/AS auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ausgesprochen selten gestellt, sodass viele vor 1975 geborene Menschen unter falschen Diagnosen oder Sekundärerkrankungen (Depression, „Burn-out“, Somatisierungsstörungen) behandelt wurden oder ganz ohne Diagnose blieben. Hinzu kommt, dass einige Menschen mit hochfunktionalen ASS eine so geringe Ausprägung der Symptome aufweisen oder bereits früh so gute Kompensationsstrategien entwickelten, dass sie im Rahmen eines gut strukturierten Elternhauses und klarer schulischer Strukturen bei oft sehr guten schulischen Leistungen im Kindes- und Jugendalter nie einem Kinder- und Jugendpsychiater vorgestellt wurden. Diese Menschen bekommen mit dem Auszug aus dem Elternhaus plötzlich und unvorbereitet Probleme mit der Selbstorganisation, dem Zusammenstellen von Stundenplänen, dem Knüpfen von Kontakten und Netzwerken, der Versorgung mit Nahrungsmitteln etc. und stellen sich dann (meist nach einigen Umwegen) dem Erwachsenenpsychiater oder -psychotherapeuten zur Diagnostik und Therapie vor. Oft ist es dann nicht leicht, Autismus-spezifische Unterstützung für diese Phase des Selbstständigwerdens zu finden und auch die geeigneten Kostenträger ausfindig zu machen. Nichtsdestotrotz gibt es in der Zwischenzeit neben den oben genannten Berufsbildungswerken zumindest einige wenige Rehabilitationseinrichtungen, die berufliche Erst- und Wiedereingliederungsmaßnahmen speziell für junge Menschen mit ASS anbieten.

In der „Rushhour des Lebens“, also im mittleren Lebensalter, werden Menschen mit hochfunktionalen ASS nach unserer Erfahrung dann häufig erneut an ihre Grenzen geführt, da in dieser Lebensphase Fähigkeiten gefragt sind, die ihnen besonders schwer fallen: z.B. Stressmanagement, die Fähigkeit, Relevantes zu tun und Irrelevantes liegen zu lassen, Multitasking (Beruf, Partnerschaft, eigene Kinder, evtl. Hausbau), die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen, Überblick zu bewahren, Führungsverantwortung zu übernehmen, flexibel zu reagieren, Konflikte in Partnerschaft, Familie und Beruf zu bewältigen etc. Hier brechen sorgsam entwickelte Kompensationsmechanismen (z.B. die bewusst-kognitive Steuerung von Sozialkontakten) aufgrund dessen, dass sie oft sehr anstrengend sind, zusammen und es treten gehäuft Schlafstörungen, Depressionen, Somatisierungsstörungen o.ä. auf, manchmal mit dem geradezu imperativen Bedürfnis, sich aus der sozialen Welt vollkommen zurückzuziehen und nur noch für sich zu sein. Recht gut belegt ist, dass unabhängig von der Intelligenz bei Vorliegen eines Autismus die Wahrscheinlichkeit, im Lauf des Lebens von Wohlfahrtseinrichtungen abhängig zu werden, deutlich erhöht ist (Brugha et al. 2011). Dies deckt sich auch mit eigenen Untersuchungen zu 200 in unserer Erwachsenensprechstunde diagnostizierten Menschen mit ASS, die trotz überdurchschnittlichen Ausbildungsniveaus zu über der Hälfte in keinem ihrer Ausbildung angemessenen Beschäftigungsverhältnis standen. Nicht selten brauchen Menschen mit ASS tatsächlich in der Mitte des Lebens psychiatrische oder psychotherapeutische Unterstützung, um den mannigfaltigen Herausforderungen dieser Lebensphase gewachsen zu sein. Hierbei ist es unabdingbar, dass die autistischen „Kernsymptome“ erkannt, ernst genommen und in die Therapie einbezogen werden (vgl. Pilling et al. 2012 und Kap. IV. 5). Auch eine reale Entlastung von Aufgaben (z.B. im Gespräch mit dem Arbeitgeber oder mit dem Lebenspartner, oder durch einen Behindertenstatus) ist manchmal nicht umgehbar, um die Erwerbsfähigkeit des Patienten zu erhalten.

Nach dem Auszug der eigenen Kinder aus dem Elternhaus verbessert sich nach unseren Beobachtungen gelegentlich der psychische Zustand von Menschen mit ASS. Es entsteht mehr Zeit, wieder eigenen Interessen nachzugehen und die notwendigen Routine-, Ruhe- und Regenerationszeiten wieder einzuhalten. Langeweile hingegen ist bei Menschen mit ASS kaum ein Problem. Manchmal beginnt ein Prozess der Selbstfindung und der Selbstakzeptanz, der zu einer verbesserten Integration des eigenen Anders-Seins in die Identität führen kann. Patienten, die sich in dieser Lebensphase zur Erstdiagnostik einer ASS vorstellen, weisen manchmal oft nur noch erstaunlich wenig Leidensdruck auf und sind eher von dem Bedürfnis, besser über sich selbst Bescheid wissen zu wollen, motiviert.

Über den weiteren Verlauf von ASS in der letzten Lebensphase ist bislang wenig bekannt (vgl. Howlin u. Moss 2012; Howlin u. Magiati 2017) – abgesehen davon, dass ASS auch dann nicht verschwinden (Brugha et al. 2011). In einer jüngeren Studie konnte gezeigt werden, dass die Lebensqualität im höheren Alter im gleichen Maße im Vergleich zu Normalpersonen reduziert ist wie bei jüngeren Menschen (Heijst u. Geurts 2015). Hier kann nur anhand individueller Beispiele von Menschen mit ASS wie z.B. Donald Gray Triplett – einem der ersten in den USA 1943 diagnostizierten Autisten – oder Temple Grandin – geboren 1947, Universitäts-Dozentin und führende US-amerikanische Spezialistin für den Entwurf von Anlagen für die kommerzielle Tierhaltung – gezeigt werden, dass ein erfülltes Leben bis ins Alter auf jeden Fall auch für Menschen mit ASS möglich ist (Donvan u. Zucker 2010). In einem vor kurzem erschienen Buch, das von Temple Grandin (2012) herausgegeben wurde, werden Geschichten von Menschen mit hochfunktionalem Autismus erzählt, denen Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung in besonderer Weise gelungen sind. Dabei wird auch beschrieben, welche kindheitlichen und lebensgeschichtlichen Faktoren als hilfreich und unterstützend erlebt wurden. Laut Grandin besitzen viele autistische Menschen ein hohes Potenzial, einzigartige kognitive Fähigkeiten zu entfalten, die von „neurotypischen“ Menschen in der Regel ignoriert würden. Sie ist davon überzeugt, dass dieses Potenzial, wenn adäquat gepflegt, sehr nützlich für den Menschen selbst, seine Mitmenschen und die ganze Gesellschaft sein kann. Ihre eigene Geschichte kann dies nur bestätigen.

Dieser Beitrag basiert auf einem Zeitschriftenbeitrag der Autoren (Biscaldi et al. 2012). Mit freundlicher Genehmigung der Schattauer GmbH.

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