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Divergenz der französischen und deutschen Verfassungswirklichkeit

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Um die Mitte des 17. Jahrhunderts zählte Frankreich ca. 19 Mio. Einwohner, das Reich etwa 10 Mio., bei einer gesamteuropäischen Bevölkerungszahl von maximal 110 Mio. Der Lebens- und Erfahrungsraum von neun Zehnteln der europäischen Bevölkerung war das agrarisch geprägte Land, während nur eine kleine Minderheit in städtischen Ballungsräumen lebte. Diese urbanen Ballungsgebiete nahmen nun jedoch vor allen Dingen in Westeuropa und damit auch in Frankreich zu. Frankreich gehörte zum Kreis der europäischen Erbmonarchien und beanspruchte in diesem Rahmen auch eine gewisse Führungsposition, obgleich der französische Adel weder vollständig domestiziert noch der herrschenden Dynastie der Bourbonen gänzlich unterworfen war. Das Reich hatte anders als Frankreich einen doppelten, aber nicht vollendeten Staatsbildungsprozess durchlaufen, der sich auf Reichsebene zwar in einer Reihe funktionstüchtiger Reichsinstitutionen niederschlug, aber keinen kompakten und handlungsfähigen Bundesstaat geschaffen hatte, der zu einer aktiven Außenpolitik fähig gewesen wäre. Das Reich ließe sich daher nach einer von Heinz Duchhardt geprägten Dichotomie zu den „Status-quo-Staaten“ zählen, wenn man ihm denn die Eigenschaft eines Staates zugestehen wollte. Frankreich gehörte zweifellos zu den führenden „Veränderungs-Staaten“21, die sowohl den politischen Ehrgeiz zu einer Umgestaltung der Macht- und territorialen Besitzverhältnisse als auch die politisch-militärischen Voraussetzungen und Mittel zur Verwirklichung ihrer Ambitionen besaßen. Aber dieses Entwicklungspotential war 1648 für die Zeitgenossen kaum sichtbar.

Obwohl das Königreich Frankreich weitestgehend von den direkten militärischen Kriegseinwirkungen des Dreißijährigen Krieges verschont geblieben war – nicht aber von seinen indirekten Folgen wie der Staatsschuld und der Unterbrechung internationaler Handelsbeziehungen –, steht das Jahr 1648 auch in der französischen Geschichte für eine Krisen- und Umbruchssituation: Sie bahnte sich dort mit der Fronde zu einem Zeitpunkt an, als die deutsche Krise mit den Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück gerade bewältigt worden war22. Während die Rechte der Stände und damit implizit auch des Kaisers in diesem Friedenswerk zwar nicht in jeder Hinsicht endgültig, so doch in recht umfassender Weise rechtsverbindlich und innenpolitisch mit unmittelbarer pazifikatorischer Wirkung geregelt worden waren, mussten im Königreich Frankreich die Kräfte- und Machtverhältnisse zwischen dem minderjährigen König und der Regentschaftsregierung unter der Königinmutter Anna von Österreich und dem Prinzipalminister Mazarin auf der einen Seite und den Parlamenten respektive dem Hochadel auf der anderen Seite neu austariert werden. Zur Zeit, als der französische Botschafter Abel Servien in Münster den Friedensvertrag abschließend aushandelte, standen in Paris Straßenbarrikaden23. Wenn die Zeitgenossen in Paris an den Tagen um den 24. Oktober 1648 vom „Frieden“ sprachen, war damit nicht der Westfälische Friede, sondern die Vereinbarung von Saint-Germain-en-Laye zwischen der Regierung und den Parlaments-Frondeuren gemeint24.Im 1648 eskalierenden Bürgerkrieg, der, von Bordeaux abgesehen25, insgesamt eher eine Adels- und Parlamentsrevolte denn ein Volksaufstand war, bündelten sich verschiedene, zum Teil seit den 1620er Jahren schwelende Krisensymptome zu einem Angriff auf den monarchischen Zentralismus. Die Voraussetzungen schienen dafür – angesichts der Minderjährigkeit des Königs und der Kriegssituation (Spanien gewann zeitweise deutlich die Oberhand, der hochadlige Condé paktierte mit dem Katholischen König, Mazarin musste in das kurkölnische Brühl fliehen) – durchaus günstig. So disparat wie die ökonomischen, sozialen, politischen, zum Teil konfessionellen Ursachen dieser Fronde waren, so uneinheitlich waren jedoch auch die Interessen der Frondeure. Gegen die Uneinigkeit ihrer Rädelsführer vermochte sich das Königtum letztlich durchzusetzen. Anders als im Reich spielte die Option einer stärkeren ständischen Partizipation angesichts des konsolidierten königlichen Zentralismus in der französischen Verfassungsgeschichte bis in die Regierungszeit Ludwigs XVI. (1774–1792) hinein keine Rolle mehr. Durch den Westfälischen Frieden auf der einen und den Ausgang der Fronde auf der anderen Seite wurde um 1650 somit eine unterschiedliche Entwicklung von monarchischer und ständischer Gewalt im Reich und in Frankreich festgeschrieben. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Forderung, die kaiserlicherseits wenige Jahre vor 1648 vorgetragen worden war, geradezu anachronistisch. Als Antwort auf den französischen Wunsch nach Bestätigung des künftigen Friedensvertrages durch die Reichsstände hatten die Kaiserlichen die Ratifizierung dieses Vertrages durch die französischen Generalstände gefordert26. Die Anwendung dieses Reziprozitätsprinzips hätte jedoch adäquate Verfassungsstrukturen auf beiden Seiten vorausgesetzt, die bereits vor 1648 nicht gegeben waren. Die Unterschiedlichkeit der Verfassungsentwicklungen im Reich und in Frankreich wurde durch den Sieg des Königtums über die Frondeure zusätzlich akzentuiert.

Kulturell konnte Frankreich aufgrund dieser inneren Krise bis um 1660 nicht in einer Weise auf Deutschland ausstrahlen, wie es in der als französische und europäische Blütezeit empfundenen persönlichen Regierungszeit des „Sonnenkönigs“ geschah. Die unmittelbare Nachkriegszeit galt in der europäischen Kultur vielmehr als „niederländisches Zeitalter“27; gerade dieses wirtschaftlich und kulturell führende republikanische Gemeinwesen der Vereinigten Provinzen oder „Generalstaaten“ hatte am 30. Januar 1648 durch seinen Separatfriedensschluss mit Spanien sein Bündnis mit Frankreich gebrochen und war aufgrund dieses Friedens endgültig aus dem Reichsverband ausgeschieden28.

1 Gazette [de France] 1648 [21], nr. 174, S. 1541–1560 (Münster); ebd., nr. 177, S. 1585–1604 (Osnabrück, Proömium und Art.I–V); ebd., nr. 181, S. 1629–1644 (Osnabrück, Art. VI–XVII). Neuabdruck: Acta Pacis Westphalicae (APW), Bd. III B 1/2 2007 [1]. Vgl. BRAUN 1999 [590]. Es fehlt bislang eine komparatistische Untersuchung der deutschen und der französischen Presse; vgl. die knappen Hinweise bei BURKHARDT 2006 [90], S. 108f.

2 Text des Friedens von Münster in APW, Bd. III B 1/1 1998 [1], S. 1–49, hier S. 5.

3 Gazette [de France] 1648 [21], nr. 171, S. 1517–1528.

4 Zur frühneuzeitlichen Staatenordnung zwischen den Friedensverträgen von 1648 und 1660 vgl. SCHILLING 2007 [97], S. 565–601.

5 GANTET 2001 [693].

6 Seine Reichszugehörigkeit und seine Inklusion nach dem Ende des französisch-spanischen Friedens wurden hingegen bestätigt.

7 Auch wenn sie den Terminus „Landeshoheit“ z.T. mit „souveraineté“ übersetzten. Vgl. BRAUN 1996 [900]; zuletzt DERS., 2007 [902], passim (mit begriffs- und übersetzungsgeschichtlichen Nachweisen vom Westfälischen Friedenskongress bis zum Siebenjährigen Krieg); Zustimmung von BURKHARDT 2006 [90], S. 39 Anm. 39.

8 Lediglich MALETTKE 1994 [730], S. 100–108, setzte sich in einer groben Skizze mit dieser Problematik in vergleichender Perspektive auseinander.

9 Vgl. stellvertretend für viele HEINERMANN 1941 [699].

10 BURKHARDT 2006 [90], S. XVI.

11 Ebd., S. 29; zur Forschungskontroverse um die Staatlichkeit des Alten Reiches und Georg Schmidts These vom komplementären Reichs-Staat vgl. neben Burkhardt auch den in Bezug auf die Erforschung des Alten Reiches weitere Perspektiven eröffnenden, jüngst publizierten Essay von DUCHHARDT 2007 [93], S. 177–188.

12 Zum Dekadenzmodell vgl. SCHMIDT 1999 [125], S. 40–44. Auch in der französischen Historiographie des 17. und 18. Jh. wurde z.T. die These des Niedergangs (décadence) von Kaisertum und Reich vertreten – im Grunde genommen ausgehend vom Ende der Karolingerherrschaft und verschärft seit dem großen Interregnum im 13. Jh. (Varillas und v.a. Maimbourg). Sie steht bisweilen in ungelöstem Widerspruch zur gleichzeitig vertretenen These einer drohenden habsburgischen Universalmonarchie unter Errichtung eines kaiserlichen Despotismus im Reich; vgl. LEFEBVRE 2001 [906]; DIES. 2003 [907], Bd. I, Teil 2, S. 375–401; BRAUN 2007 [902], Bd. II, S. 649–656 und passim (dort verzeichnet die frühere Literatur).

13 Die Kreise sind noch beim Abbé de COURTALON 1774, 21798 [26] die bereits im Titel des Werkes zuerst genannte Gliederungsebene. Eine differenzierte Untersuchung zu den französischen politischen Deutschland-Karten der Frühneuzeit steht noch aus.

14 Vgl. zur kaiserlichen Stellung in der Reichsverfassung von 1648–1740 PRESS 1997 [121].

15 Zu diesem Problem der frühneuzeitlichen deutschen Verfassungsgeschichte und seiner Behandlung auf dem Westfälischen Friedenskongress vgl. NEUHAUS 1997 [118].

16 Vgl. u.a. ASBACH 2002 [898]; DERS., 2005 [899].

17 Zur Reichskriegsverfassung von 1681 vgl. unten.

18 Zum bevorstehenden Religionskrieg: Memorandum d’Avaux’ für Ludwig XIV., Osnabrück 1647 März 4, in: APW, Bd. II B 5/1 2002 [6b2], nr. 157, S. 741–748, hier S. 743; zum Elsass die in der Literatur verschiedentlich d’Avaux zugeschriebene „Censure envoyée de Paris sur le traité de la paix de l’Empire“ [vor 1648 Oktober 27], ungedruckt, archivalische Kopie: Paris, Archives diplomatiques du Ministère des Affaires étrangères, Correspondance politique, Allemagne origine–1870 (AE, CP All.), Bd. 110, fol. 533–534.

19 Vgl. OSCHMANN 1991 [783].

20 Friedensvertrag von Münster (IPM) §112 = Friedensvertrag von Osnabrück (IPO) Art. XVII § 2. Auf die Tatsache, dass mit dem französischerseits in die Verhandlungen eingeführten Begriff „leges fundamentales“ eine französische Rechtsfigur übernommen wurde, weist hin TISCHER 1999 [750], S. 229f. Anm. 64. Die kaiserlichen Gesandten sahen diese Übertragung jedoch trotz der unterschiedlichen Rechtsverhältnisse in beiden Ländern offenbar als unproblematisch an und übernahmen sie umgehend; vgl. BRAUN 2007 [902], Bd. I, S. 166–170.

21 Begriffe und Zuordnung Frankreichs nach DUCHHARDT 2007 [93], S. 2.

22 Zur Fronde vgl. unter anderem RANUM 1993 [122]; PERNOT 1994 [119].

23 Am 24. Oktober 1648 registrierte das Pariser Parlement eine königliche Erklärung, durch welche diese Institution zum Hauptmachtfaktor innerhalb des französischen Staates wurde. Voraufgegangen war unter anderem die berühmte „Journée des Barricades“ am 27. August. Vom 13. September bis 30. Oktober hatte der Hof aus Sicherheitsgründen Paris verlassen. Zur Erklärung vom 24. Oktober vgl. PERNOT 1994 [119], S. 93–95 (mit Resümee des Textes).

24 So z.B. in den „Mémoires pour servir à l’histoire d’Anne d’Autriche“ aus der Feder der Madame de MOTTEVILLE, Françoise Bertaut, ediert von DELACOMPTÉ 2003 [24], hier S. 126f.

25 Vgl. zu diesem Sonderfall KÖTTING 1983 [113]; BIRNSTIEL 1985 [102].

26 Am 10. März 1645; vgl. DICKMANN 1959, 71998 [744], S. 175f. Zu frühneuzeitlichen Vergleichen zwischen Generalständen und Reichstag vgl. SKALWEIT 1984 [910].

27 Treffende Epochensignatur nach DUCHHARDT 2007 [93], S. 7.

28 Der spanisch-niederländische Frieden entließ die nördlichen Niederlande aus der spanischen Oberherrschaft und erkannte sie als souverän an. In den Friedensverträgen mit dem Reich vom 24. Oktober 1648 fand dieses staats- und völkerrechtliche Problem jedoch keine Berücksichtigung. Anders die Schweiz, die in § 61 IPM = Art. VI IPO ausdrücklich für reichsunabhängig deklariert wurde. Die Frage, von wann an die Vereinigten Provinzen vom Reich unabhängig wurden, erfordert daher eine komplexe Antwort; vgl. die unverändert gültige Abhandlung von FEENSTRA 1952 [747].

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. IV

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