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Einleitung

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Voltaire bei der „Tafelrunde“ Friedrichs II. in Sanssouci: Das ist vielleicht eines der bekanntesten „Bilder“, die man mit der deutsch-französischen Geschichte im Zeitalter von Barock und Aufklärung beiderseits des Rheins verbindet1. Diese an deutsch-französischen Berührungspunkten in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur so reichhaltigen anderthalb Jahrhunderte sind vielfach Gegenstand von Detailuntersuchungen gewesen, jedoch nur äußerst selten im Überblick behandelt worden.

Seit Bertrand Auerbachs Buch von 1912 über die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1648 und 1789 ist keine Synthese zur Gesamtepoche mehr vorgelegt worden. Ein solches Wagnis wird nach fast einem ganzen Jahrhundert nun im Rahmen der Reihe „Deutsch-Französische Geschichte“ wieder eingegangen2. Die hier vorgelegte Darstellung von eineinhalb Jahrhunderten deutschfranzösischer Geschichte auf knappstem Raum darf daher als ein ebensolches „Abenteuer“ gelten, wie es Heinz Duchhardt mit seiner europäischen Geschichte im Zeitalter des Barock und der Aufklärung unternahm3. Selbst wenn man sich wie Auerbach auf die diplomatischen Beziehungen beschränken würde, erscheinen die seit dem Vorabend des Ersten Weltkrieges von der Forschung erzielten Fortschritte unermesslich und die Verwertung ihrer wichtigsten Ergebnisse in einem nach Herausgeber- und Verlagsvorgabe schlanken Band geradezu unmöglich4. Zudem kann und darf die Geschichtsschreibung heute nicht mehr allein die politischen Aspekte untersuchen. Namentlich die gerade am deutsch-französischen Beispiel entwickelten innovativen Forschungskonzepte des Kulturtransfers und der histoire croisée ermöglichen neue Perspektiven und eine Ausweitung des Erkenntnisinteresses bei der Erforschung der deutsch-französischen Geschichte.

Trotz dieser Erweiterung ihres Gegenstandes sollte die Geschichtsschreibung die politische Geschichte jedoch nicht beiseite legen: „Es soll doch sehr deutlich zum Ausdruck kommen, daß zur Totalität der Geschichte eben auch konstitutive Elemente wie Krieg und Frieden, Diplomatie und Völkerrecht hinzugehören, denn auch durch sie ist Geschichte gestaltet – und mehr: bewegt – worden“5. Besonders im Kontext einer Kulturgeschichte des Politischen hat sich die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Politik und Diplomatie im Übrigen in Deutschland und in Frankreich in einem Maße gewandelt, das längst nicht mehr erlaubt, sie als traditionalistische Grundhaltung Ranke’scher Geschichtsauffassung zu verdammen. Es erscheint daher legitim und notwendig, das Politische angemessen in der Darstellung zu berücksichtigen.

Sowohl im Hinblick auf die Koinzidenz mit dem bereits seit 2005 vorliegenden Band der „Deutsch-Französischen Geschichte“ zur ersten Hälfte der Frühen Neuzeit als auch zur besseren Orientierung des Lesers stellt der erste Hauptteil dieses Buches die Entwicklung der politischen Geschichte in den Mittelpunkt. Angesichts eines knappen Jahrhunderts ohne einschlägige Überblicksdarstellung erschien es angemessen und wünschenswert, der Politik zumindest so viel Raum zu bieten, dass kein Rückschritt gegenüber den Erkenntnissen der Forschung durch allzu weitgehende Verkürzung vollzogen wird.

Da sich jedoch die Dimensionen der deutsch-französischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit wandelten (es ist beispielsweise an die sich intensivierenden wissenschaftlichen Beziehungen im Zeitalter der Aufklärung zu denken), waren Unterschiede gegenüber dem vorhergehenden Band dieser Reihe unvermeidlich und werden bewusst in Kauf genommen. So kehrt der zweite Hauptteil der Politik ganz den Rücken und widmet sich ausschließlich den anderen Bereichen, in denen es zu intensiven Berührungspunkten im deutsch-französischen Verhältnis kam: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Selbst der Weg zu einer deutschen „Kulturnation“ vollzog sich wesentlich in der Auseinandersetzung mit französischen Vor- und Gegenbildern. Diese Bereiche sind allerdings in vielerlei Hinsicht so rudimentär erforscht, dass die Darstellung bald an die Grenzen des Wissens stößt und in die Forschungsdiskussion vordringen muss. Daher werden diese Aspekte in der Form wissenschaftlicher Essays behandelt, die den Stand und die Perspektiven der Forschung darstellen.

Die Schwerpunktsetzung in Hauptteil II bedeutet nicht, dass die Forschungsprobleme und Perspektiven der Politikgeschichte in diesem Buch ganz vernachlässigt würden. Zwar wurde mit Blick auf die Raumökonomie auf ein ursprünglich geplantes Kapitel zu den politischen Beziehungen im Lichte einer „neuen“ Diplomatiegeschichte verzichtet. Einschlägige punktuelle Forschungsprobleme werden aber im Überblicksteil zumindest skizziert, und im Forschungsüberblick werden in anderen Zusammenhängen gerade diese neuen Ansätze – etwa hinsichtlich der Diplomaten als kulturelle Vermittler im Kulturtransfer – berücksichtigt. Auch bei „klassischeren“ Fragen der politischen Geschichte hätte ein profunderer Blick sich gelohnt: Nicht vergessen werden sollte beispielsweise, dass die Frage einer geplanten Kandidatur Ludwigs XIV. auf den Kaiserthron nach einer Kontroverse in der älteren Forschung unerledigt zur Seite gelegt wurde. Für das herrscherliche Selbstverständnis des als „Sonnenkönig“ titulierten französischen Monarchen wäre die bessere Kenntnis dieser Zusammenhänge keineswegs unerheblich. Zudem gibt es bislang noch keinen Überblick über die „diplomatische Durchdringung“ des Reiches durch französische Gesandtschaften, was nicht nur in politik-, sondern auch in perzeptionsgeschichtlicher Hinsicht hilfreich wäre. Auch die Erforschung der Vertretungen der Reichsstände und insbesondere die Mehrfachvertretungen (mehrerer Reichsstände durch denselben Gesandten) in Frankreich bilden ein Desiderat der Forschung. Der vorliegende Band verwertet in dieser Hinsicht die einschlägigen Forschungsergebnisse, muss aber auf ihre systematische Weiterführung zugunsten der Ausgewogenheit der zu berücksichtigenden anderen Themenbereiche deutsch-französischer Kontakte in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit verzichten.

Obwohl der Historismus im 19. Jahrhundert die Erforschung der europäischen Mächtepolitik des Ancien Régime zur vornehmsten Aufgabe der Geschichtsschreibung erkor, sind wichtige Aspekte der deutsch-französischen politischen Beziehungen der Frühen Neuzeit bis heute nicht gut erforscht. Die Gründe für diesen defizitären Forschungsstand können hier nur kurz skizziert werden: Es liegt im Wesentlichen zum einen an der teleologisch auf den nationalen Anstalts- und politisch-militärischen Machtstaat hin orientierten Geschichtskonzeption dieser Epoche, die vielfältige Probleme der „neuen“ Geschichte der internationalen Beziehungen ausblendete. Zum anderen wurde die Relevanz politikgeschichtlicher Themen von den 1960er Jahren an in Frage gestellt, weshalb die Forschungen auf diesem Gebiet seither bis um 1990 seltener wurden.

Das vorliegende Buch verbindet, wie der Titel bereits andeutet, eine politische Geschichte mit einer neuen Kulturgeschichte im umfassenderen Sinne. Die Benutzung des Terminus „Hegemonie“ im Titel geht nicht auf den Verfasser zurück. Nach anfänglichen Bedenken verzichtete er jedoch auf eine Änderung. Sicherlich wäre der gewählte Titel dann unvertretbar, wenn man „Hegemonie“ im Sinne der älteren, reduktionistischen Einflussforschung verwenden und die von der jüngeren Kulturtransfer-Forschung geleisteten Fortschritte ignorieren wollte, welche das Import-Bedürfnis in der Aufnahmekultur und die Adaptationsprozesse in den Vordergrund stellen. Begriffe wie „Vorherrschaft“ und „Hegemonie“ erfordern ganz zweifellos einen vorsichtigen und reflektierten Umgang, zumal die Forschung klar gezeigt hat, dass Deutschland in mehreren Bereichen (verwiesen sei nur auf das bekannte Beispiel des Bergbauwesens) im Zeitraum von 1648 bis 1789 durchaus führend war. Die gängigen Vorstellungen von der kulturellen und wissenschaftlichen Vormachtstellung Frankreichs sind daher zu relativieren. Pallach konstatiert in Bezug auf Architektur und Handwerk zu Recht: „Zwischen Frankreich und Deutschland verliefen die Gefällelinien in Kenntnisstand und Produktionsmöglichkeiten unübersichtlicher und weniger eindeutig, als deutsche Frankreichgegner und französische Propagandisten der eigenen Überlegenheit es gerne sehen wollten.“6 Dennoch kann als These durchaus vertreten werden, dass die Impulse im Zeitraum von 1648 bis 1789 im französisch-deutschen Verhältnis im Ganzen eher von Frankreich ausgingen. Da dies keineswegs immer so war, muss dieser Umstand als Spezifikum des behandelten Zeitraumes herausgearbeitet werden; gleichzeitig ist den aus der Historiographie und der Erinnerungskultur bekannten Überzeichnungen durch eine differenzierende Darstellung entgegenzutreten. Im Zusammenhang mit Frankreichs kulturellem Aufstieg sprach Burkhardt kürzlich von „einer zunehmenden europäischen Sprach- und Geschmackshegemonie Frankreichs“7. Deutschland habe im Grand Siècle sogar unter dem Einfluss einer „französischen Leitkultur“ gestanden, von der es sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend abgegrenzt habe, wurde jüngst unter Benutzung des tagespolitischen Vokabulars terminologisch nicht unpassend formuliert8. Der Frage, inwieweit dieses Urteil zutrifft, geht die folgende Darstellung nach.

Welche Terminologie benutzten die Zeitgenossen für diese Phänomene? Während die Geschichtsschreibung die Expansionen Ludwigs XIV. traditionell mit den Begriffen französische Vorherrschaft oder Hegemonialpolitik bezeichnet9, befürchteten im 17. Jahrhundert viele Zeitgenossen die Errichtung einer neuen Universalmonarchie durch den französischen König. Dieses Konzept richtete sich ursprünglich gegen die habsburgische, spanisch-kaiserliche Universalmonarchie, wurde im Zeitalter Ludwigs XIV. und seiner Expansionspolitik dann aber gegen Frankreich gewendet. Der Begriff „Hegemonie“ stand in der politischen Sprache einem anderen politischen Grundbegriff der Frühen Neuzeit entgegen, dessen Bedeutung um 1648 in der Geschichtswissenschaft umstritten ist, der aber zumindest seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zweifellos zum zentralen politischen Leitbegriff aufstieg: dem Konzept des „Gleichgewichts“. Um 1739 erlangte Fleurys Frankreich – wenn auch nur temporär – dennoch nochmals „eine ähnliche Dominanz und Schlüsselstellung [in den internationalen Beziehungen] wie zu den besten Zeiten Ludwigs XIV.10“.

Damit sind wir bei den Grundzügen der politischen Entwicklung der Epoche. Der alte dynastische Antagonismus zwischen Valois/Bourbon und Habsburg hatte sich zunächst auf die Auseinandersetzung mit Madrid, dann mit Wien konzentriert und führte dazu, dass sich die französische und die habsburgisch/deutsche Außenpolitik grundsätzlich aufeinander bezogen. An seine Stelle traten im 18. Jahrhundert sukzessiv ein neuer französisch-englischer Gegensatz mit weitreichenden, sowohl maritim-weltpolitischen als auch kontinentaleuropäischen Konsequenzen, und ein österreichisch-preußischer Dualismus, der erhebliche Rückwirkungen auf die deutsche und die ostmitteleuropäische Geschichte hatte. Ihren bündnispolitischen Ausdruck erfuhren diese Umwälzungen durch die „diplomatische Revolution“ des Jahres 1756. Das internationale Beziehungsgeflecht wurde im 18. Jahrhundert komplexer, als es in der Zeit der axiomatischen französisch-habsburgischen Frontstellung gewesen war. Die Freund- und Feindschaften zwischen den fünf Großmächten der „Pentarchie“ (Frankreich, Österreich, Preußen, England und Russland) deckten sich nicht immer mit den offiziellen Allianzen. Bis zur großen holländischen Krise im Jahre 1787, die mit einer Demütigung Frankreichs durch Preußen endete, verwickelte sich daher die europäische Diplomatie zu einem „für den Historiker fast nicht darstellbare[n] Durcheinander“, das sich erst zu Ende des Ancien Régime zugunsten klarerer bündnispolitischer Verhältnisse langsam wieder zu entwirren begann11.

Dem Gebot der Reihe entsprechend, aber auch unter bewusster Bewahrung analytischer Unabhängigkeit, verbindet dieser Band verschiedene methodische Ansätze wie die Historische Komparatistik, das Kulturtransfer-Paradigma, das Verflechtungs-Konzept oder die histoire croisée. Für theoretische Überlegungen bleibt angesichts der Dichte des zu behandelnden Inhalts kaum Raum. Dennoch werden gelegentlich Möglichkeiten und Grenzen dieser Konzepte anhand konkreter Probleme skizziert. Aus Gründen der Raumökonomie, der sachlichen Relevanz und je nach Forschungsstand auf dem entsprechenden Sachgebiet wurde der Schwerpunkt der Darstellung teils eher auf die deutsche, teils eher auf die französische Seite gelegt. Die Auswirkungen der Verbreitung der französischen Sprache in Deutschland dürfen zum Beispiel mehr Interesse beanspruchen als die vergleichsweise weitaus geringere Neigung, die man dem Deutschen in Frankreich entgegenbrachte. Selbstverständlich ist auch nach den Gründen für Desinteresse zu fragen. Den Kern müssen jedoch die für das betrachtete Zeitalter charakteristischsten oder im Rückblick folgenreichsten Entwicklungen und Zusammenhänge bilden.

Neben der Pflicht bleibt auch im zweiten Hauptteil nur begrenzter Raum für eine Kür12. Aufgrund der Umfangsvorgaben wurden im Benehmen mit den Herausgebern ein detaillierter Überblick und ein Forschungsbericht über die Migrationsproblematik ausgegliedert, die nun in der „Francia“ erscheinen13. Die Grundzüge der Migrationsgeschichte sind gleichwohl auch im vorliegenden Band in verschiedenen Kontexten präsent. Zwei individuelle Schwerpunkte werden dennoch gesetzt: Im Zusammenhang mit den kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich erscheint es sehr wichtig, auf einen Bereich einzugehen, der in allgemeinen historischen Darstellungen leider allzu oft stiefkindlich behandelt wird – die Musik. Sicherlich ist unser heutiges Verständnis der Musik als autonomer Kunst wesentlich von den Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt. Dabei wurden gerade im 18. Jahrhundert auf der Grundlage der aus dem 17. Jahrhundert überkommenen Traditionen die entscheidenden Weichen gestellt: „Die Art und Weise des Komponierens, Interpretierens und Hörens von Musik in der Gegenwart wurde im Prinzip bereits im 18. Jahrhundert nahezu vollständig ausgebildet“14. Welche deutsch-französischen Beziehungen und Transferprozesse auf dem Gebiet der Musik im 18. Jahrhundert am Anfang dieses modernen Musikverständnisses standen, ist daher eine uns heute unmittelbar angehende Frage. Die zweite Schwerpunktsetzung betrifft die Sprachen in den deutsch-französischen Beziehungen, insbesondere die Verbreitung des Französischen in Deutschland. Obwohl auch in dieser Hinsicht Relativierungen notwendig sind und im entsprechenden Kapitel angebracht werden, erscheint das Phänomen, dass ein Land die Sprache des Nachbarlandes so weitgehend zu seiner eigenen macht, wie dies in Deutschland im 18. Jahrhundert mit dem Französischen geschah, derart außergewöhnlich, dass dieser Komplex bewusst nicht im Kapitel zu den kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen, sondern separat abgehandelt wird. Weder vor 1648 noch nach 1789 gab es ein vergleichbares sprachliches Phänomen in der deutsch-französischen Geschichte15.

Während der Verfasser des Bandes zur ersten Hälfte der Frühen Neuzeit in der „Deutsch-Französischen Geschichte“ bewusst die französische Perspektive privilegierte, muss im vorliegenden Band gelegentlich ein Perspektivenwechsel vollzogen werden. Wie in Heinz Duchhardts Handbuchbeitrag zur Geschichte der internationalen Beziehungen16, wird auch in diesem Buch die Perspektive der hauptsächlich agierenden oder impulsgebenden Macht bzw. des in sozialer, wirt-schaflicher oder kultureller Hinsicht vorherrschenden Akteurs eingenommen. Ein besonderes Augenmerk soll im Sinne der histoire croisée dem Blick deutscher Zeitgenossen und Historiker auf die französische Geschichte (und vice versa) gelten. Nicht nur in der notwendigerweise knappen Schlussbetrachtung, sondern durch das ganze Buch hindurch soll damit auch die Frage nach der Bedeutung der behandelten Epoche in der Erinnerungskultur des jeweils anderen Landes gestellt werden. Neben der gegenseitigen Durchdringung deutsch-französischer Geschichte und ihren integrativen Impulsen werden dabei jedoch ganz bewusst auch die antagonistischen Kräfte und Entwicklungen berücksichtigt.

Nach den Inhalten und Methoden bleibt die Frage nach den chronologischen Grenzen. Die Herausgeber der Gesamtreihe entschieden sicherlich richtig, als sie die Eckdaten 1648 und 1789 festlegten. Dass sich lange kein Werk mit dem deutsch-französischen Verhältnis in diesem Gesamtzeitraum befasste, liegt sehr wahrscheinlich nicht daran, dass es nicht sinnvoll oder lohnend erschiene, sich des Themas in so umfassender Hinsicht anzunehmen, sondern wohl eher an der gewaltigen Stofffülle. Der vorliegende Band führt vom 24. Oktober 1648, dem Tag der Unterzeichnung der beiden Friedensverträge von Münster und Osnabrück in der Stadt Münster, bis zum Sommer des Revolutionsjahres 1789. Selbstverständlich muss gelegentlich, wo dies geboten oder notwendig erscheint, zurück- oder vorausgeblickt werden.

Der Westfälische Frieden gehört als internationales Friedensabkommen und zugleich als Reichsgrundgesetz zweifellos zu den deutschen Erinnerungsorten17. Vielleicht lässt sich sogar von einem „Grundgesetz für Europa“ sprechen18. In den deutsch-französischen diplomatischen Beziehungen bildete der Friedensvertrag von Münster jedenfalls eine Zäsur: Erstmals seit 1552 war der Kaiser völkerrechtlich nicht mehr im Kriegszustand mit dem König von Frankreich; fast alle folgenden deutsch-französischen Abkommen des Ancien Régime bezogen sich auf diesen „Vater aller Verträge“, welcher der französischen Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts als glänzendster Erfolg ihrer Diplomatie überhaupt galt. In allgemeinhistorischer Perspektive vielleicht noch schwerer wiegt die Tatsache, dass Deutschland und Frankreich die Zeit um 1650 auch in verfassungsrechtlicher, sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht als Epoche des Umbruchs erlebten.

Damit ist der Beginn begründet, es bleibt die Erklärung für den Schluss. Die Forschung hat verschiedentlich die Frage aufgeworfen und zu beantworten versucht, warum 1789 in Deutschland keine Revolution ausbrach. Walter Demel hat zu Recht betont, dass diese Frage im Grunde genommen falsch gestellt sei, denn es sei vielmehr zu fragen, warum nur in Frankreich die radikale, revolutionäre Bewegung entstanden sei und die gesellschaftlichen und politischen Umstände in kurzer Zeit umgestürzt habe19. Diese Frage wäre im folgenden fünften Band der „Deutsch-Französischen Geschichte“ zu stellen und zu beantworten. Für uns ist die Triftigkeit der Epochengrenze 1789 im Hinblick auf beide Länder von Bedeutung. In Frankreich markierte dieses Jahr das Ende des Ancien Régime, der auf Privilegien fußenden, ständischen Gesellschaft und in mittelfristiger Perspektive eine erste wichtige Etappe auf dem Weg von der Monarchie zur Republik. Dass im Reich keine Revolution stattfand, bedeutet nicht die deutsche Teilnahmslosigkeit oder Unberührtheit von den französischen Ereignissen. Im Gegenteil war man im Reich in der ersten Revolutionsphase von den Vorgängen im westlichen Nachbarland trefflich unterrichtet, Presse und Intellektuelle verfolgten sie mit größter Aufmerksamkeit, und es entstand sogar ein „Revolutionstourismus“. Mehrere Reichsstände waren zudem unmittelbar oder mittelbar von der Revolution betroffen. Gerade durch die Welle französischer, zumeist adliger Emigranten und den auf deutschem Boden von ihnen entwickelten politischen Aktivismus wurde das deutsch-französische Verhältnis nachhaltig verändert, obwohl 1789 weder Frankreich noch die deutschen Fürstenhöfe und insbesondere nicht die Hofburg und Berlin einen grundlegenden außenpolitischen Paradigmenwechsel vollzogen. Bereits im Jahre 1780 beschrieb der ausgebildete Reichskammergerichts-Assessor Johann Wolfgang von Goethe das Alte Reich zwar als „überlebtes Welttheater“20, aber entscheidend für das Ende des Alten Reiches 1806 waren schließlich die in Frankreich seit 1789 eingeleiteten Umwälzungen, die auch auf Deutschland einwirkten.

Mit der Aufhebung der Feudal-Privilegien am 4. August 1789, die der deutsche Paris-Reisende Wilhelm von Humboldt in seinem Tagebuch verurteilte, weil „eine Zahl meistenteils armer Adeliger weggaben, was den Reichen gehörte“21, verließ Frankreich den bis dahin weitgehend geschlossenen Kreis der europäischen Mächte, deren gemeinsame Gesellschaftsstruktur ungeachtet aller politischen und verfassungsrechtlichen Differenzierungen ständisch geblieben war und damit auf rechtlicher Ungleichheit basierte, welche dem Prinzip der modernen Rechtsanschauungen diametral entgegensteht. Die ständische Gesellschaft, die trotz einer begrenzten Lockerung der ständischen Grundstrukturen und der Anfechtung des Exklusivitätsanspruchs des Adels im 18. Jahrhundert ständeübergreifende soziale Mobilität nur selten und dann meist graduell über mehrere Generationen hinweg erlaubte, war das gemeinsame soziale und politische Strukturmerkmal der deutschen und französischen Geschichte in der Frühen Neuzeit, von dem es auch im übrigen Europa nur wenige Ausnahmen gab. Sicherlich war Frankreich, wie neben französischen nicht zuletzt jüngere angelsächsische Forschungen belegen, schon seit der Herrschaftszeit Ludwigs XIV. durch eine große inner- und zwischenständische Mobilität geprägt, welche die Gesellschaft des französischen Ancien Régime deutlich von der strengen klassischen Ständeordnung in anderen Ländern – auch im „modernen“ Preußen des 18. Jahrhunderts – abhebt und eine ständeübergreifende am öffentlichen Finanzsystem des Landes partizipierende und davon profitierende, zumindest bis 1763 herrschaftsstabilisierende Elite kreierte. Aber grundsätzlich blieb diese Gesellschaft ungeachtet aller Flexibilität doch auf Privilegien und ständische Distinktion gegründet. Daher gewinnt der 4. August 1789 nicht nur für die Geschichte der Französischen Revolution eine vielleicht größere Bedeutung als der 14. Juli, sondern ließe sich zugespitzt auch als der eigentliche Endpunkt Alteuropas ausmachen.

Epochengrenzen müssen aus pragmatischen Gründen gezogen werden, sie dürfen jedoch die vorhandenen Kontinuitäten nicht verdecken. Der eigentliche Umschwung der französischen Außen- und Reichspolitik setzte beispielsweise nicht 1789, sondern erst 1792 ein. Bis dahin bestanden deutliche Kontinuitäten in Zielen und Methoden sowie auch beim Botschafter- und Gesandtenpersonal der diplomatischen Vertretungen, nicht zuletzt am Kaiserhof. Doch wenden wir zunächst den Blick auf den Beginn der Epoche: die Umbruchssituation in der deutsch-französischen Geschichte um 1650!


1 Zu diesem Sujet vgl. MERVAUD 1985 [414].

2 Zu danken ist für die kritische Lektüre des Manuskripts Frau Prof. Ute Daniel (Braunschweig), Herrn Prof. Heinz Duchhardt (Mainz), Herrn Prof. Olivier Chaline (Paris), meinen ehemaligen Kollegen Frau Dr. Sabine Ehrmann-Herfort (Musikgeschichtliche Abt. DHI Rom) und Herrn PD Rainer Babel (DHI Paris) sowie für die Begleitung in allen Phasen der Entstehung des Buches den Direktoren des DHI Paris, Herrn Prof. Werner Paravicini und Frau Prof. Gudrun Gersmann.

3 Vgl. DUCHHARDT 2007 [93], Zitat S. XI (aus dem Vorwort zur ersten Aufl., 1987).

4 MALETTKE 2001 [779] legte vor wenigen Jahren eine Gesamtdarstellung für die bilateralen Beziehungen von Richelieu bis zu Ludwig XIV. vor und hatte für diese Monographie 747 Seiten zur Disposition, ohne dass man dem Verfasser Langatmigkeit vorwerfen könnte.

5 DUCHHARDT 1986 [808], S. 127.

6 PALLACH 1992 [313], S. 93.

7 BURKHARDT 2006 [90], S. 108.

8 MEIER, Einleitung, in: HäSELER, MEIER 2005 [639], S. 9–12, Zitat S. 10.

9 SAGNAC, SAINT-LEGER 31949 [792] erschienen 1935 mit dem Obertitel „La prépondé-rance française“. Bereits die zweite Aufl. von 1944 verzichtete auf diesen Obertitel. Die Referenzen auf die französische politische Hegemonie in Europa, die ihren Zenit zwischen dem Frieden von Nimwegen (1678/79) und dem Jahr der Revokation des Ediktes von Nantes (1685) erlebt habe, blieben jedoch auch in der dritten Aufl. erhalten.

10 DUCHHARDT 1997 [92], S. 300.

11 HOCHEDLINGER 2000 [851], S. 163.

12 Der ursprüngliche Entwurf des Buches musste für die vorliegende Druckfassung um zwei Fünftel gekürzt werden.

13 Den Anlass dazu bot die reichhaltige jüngere Forschung gerade im Migrationsbereich (namentlich zur administrativen Kontrolle von Migrationsbewegungen in Frankreich), die einen separaten Forschungsbericht ohnehin sehr wünschenswert erscheinen ließ. Der Beitrag „Deutsche Präsenz in Frankreich, französische Präsenz in Deutschland von 1648–1789. Überblick und Probleme der Forschung“ ist in Francia 35 (2008), S. 381–430, erschienen. Vgl. zur Literaturlage im vorliegenden Buch Abschnitt 2.7 der Bibliographie.

14 Vgl. BIMBERG 1997 [493], S. 1.

15 Vergleichbar ist es allenfalls mit der heutigen Dominanz des Englischen.

16 Vgl. DUCHHARDT 1997 [92], S. XVIf.

17 Vgl. DERS. 1999 [687] und GANTET 2001 [694].

18 Diese hier nicht näher zu erörternde Frage wurde zumindest gestellt; STEIGER 1996 [798].

19 DEMEL 2005 [91], S. 295.

20 Vgl. BEETZ 1995 [681].

21 Zit. nach RUIZ 2001 [330], S. 155.

WBG Deutsch-Französische Geschichte Bd. IV

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