Читать книгу Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß - Страница 10

7.

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Als der Pionierleiter zu den Mädchen und Jungen trat, wurde er mit Beifall begrüßt. Ali verkniff sich ein Lächeln, winkte ab und sagte, dass die beiden Raufbolde die Angelegenheit sportlich lösen sollten. Es sei Zeit, dass Kalinke wie Boris in einem fairen Boxkampf den eigenen Standort bestimmten. Termin sei in drei Tagen, die beiden hätten also ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Frau Wieland würde morgen abreisen, sie sei ja nicht mehr die Jüngste, das Küstenklima mache ihr zu schaffen.

Hinsichtlich des bevorstehenden Kampfes warf Kalinke seinem Gegner einen triumphierenden Blick zu und stieß kraftvoll die Faust in die Luft.

Boris verließ den Kreis, stieg die schmale Treppe zum Strand hinunter und kauerte sich vor die gemächlich heranrollenden Wellen. Wenig später hockte Ali sich neben ihn und sagte schroff: „Angst, oder was?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Boris. „Ich habe keine Angst.“

„Dann was?

Boris nahm einen Stein auf und warf ihn flach übers Wasser, dass es siebenmal in der untergehenden Sonne bunt aufspritzte.

„Nur zwei Dinge, die ein Mann zu fürchten hat“, sagte Ali. „Angst und Frauen, weiß ich. Also Frauen.“

„Weiß nicht.“

„Ist so.“

Ali warf einen Stein, der weiter hinten im Meer versank als der von Boris.

Der Junge dachte, dass für den Trainer alles Kampf war. Da war immer ein Gegner, mit dem er seine Kräfte messen musste. Boris wusste nicht, ob er das auch wollte, ständig kämpfen und siegen müssen. Er nahm einen zweiten Stein, richtete sich auf und warf ihn weiter als die beiden Steine zuvor.

„Nicht schlecht, Kämpfer. Sag´s doch.“

Ali wog einige Steine in der Hand, ließ sie fallen, bis er dann einen für gut befand. Er nickte Boris kurz zu. Sein Oberkörper drehte sich geschmeidig zur Seite, und während er wie in Zeitlupe den linken Arm nach hinten streckte, die Hand mit dem Stein auf Kopfhöhe, hob er den gestreckten rechten Arm in scheinbar genau vorgegebenen Winkel. Zwei, drei Sekunden verharrte er. Mit einem Schrei schleuderte er den Wurfarm nach vorn und schnellte gleichzeitig mit dem Oberkörper in seine Ausgangslage zurück, wobei er den anderen Arm steil abfallend nach hinten riss. Sie hatten Mühe, mit ihren Blicken den Flug des Steines zu folgen. Aufschlagen sahen sie ihn nicht.

Boris nickte zugleich bewundernd und beschämt. Es machte keinen Sinn, noch einen Wurf zu versuchen, so weit würde er in seinem ganzen Leben keinen Stein werfen können. Er war erleichtert, dass das Kräftemessen vorüber war. Manchmal hatte er versucht, sich auszumalen, wie es wäre, wenn er Kalinke, ja vielleicht sogar Ali besiegen würde. Er hatte das nicht zu Ende gedacht, denn die Welt, von der er sich mühsam ein Bild machte, wäre nur wieder in Unordnung geraten. Zu oft schon musste er sich neu orientieren und Menschen und Dinge einordnen, um sich halbwegs zurechtzufinden.

„Was ist, also?“, fragte der Trainer nach.

„Ich weiß nicht“, sagte Boris, er wollte ja reden, ja. Ali wusste immer, wo es lang ging, selbst beim Nachtmarsch, wenn alle die Orientierung verloren hatten und keine Karte und kein Kompass mehr was nützten.

„Ich weiß nicht, was ist.“

„Weißt schon.“

„Da gibt es - ein Mädchen. Eigentlich sind es zwei. Die eine hier. Die andere dort. Weißt du, es ist – ich habe keine Ahnung, was da ist.“

Ali nickte. Sie zogen die Schuhe aus und liefen nebeneinander im seichten Wasser. Es dämmerte, ohne dunkel zu werden. Vom Lager klang Lachen über die Klippe. Hier und da stand ein Angler im Wasser. Ein zottiger Hund lief schnüffelnd am Fuß des Steilhangs entlang. Ein paar Hundert Meter weiter blitzte es in unregelmäßigem Abstand vom Klippenrand auf. Der blendend gelbe Strahl eines Suchscheinwerfers huschte über sie weg den Strand entlang und aufs Meer hinaus.

Boris suchte nach Worten, er wollte reden, sich erklären, alles loswerden, diesem harten Pochen in sich eine Tür öffnen, es gab ja so viele Worte. Aber kein einziges erschien ihm tauglich, seinen Zustand zu beschreiben.

„Brauch keine Erklärung“, sagte Ali. „Kenne das, alles. Musst nichts sagen, mir nicht.“

Boris nickte eifrig. „Sag mir doch, was man da machen kann, Ali?“

„Eine Geschichte, kann ich erzählen“, sagte Ali. „Überschrift: Sandra. Weiß man gleich, worum´s geht, aber immer.“

Boris spürte, wie die Anspannung des Trainers sich auf ihn übertrug.

„Frauen“, sagte Ali. „Thema für sich. Hab meine Lektion weg, sag ich. Also Sandra. Bin ein Großstadtkind. Aus einer Arbeiterfamilie. Vater ist Gießer. Fünfzig Grad, acht Stunden lang, Tag- und Nachtschicht, gestern, heute, morgen, du verstehst. Mutter im Konsum, an der Kasse. Drei Geschwister. Nicht ganz einfach, für alle. Die Partei, hat geholfen. Zuweisung einer Neubauwohnung. Kur für Vaters kaputte Lunge. Ich konnte studieren. Sportpädagogik, einwandfrei. Auch sonst, die Genossen waren immer da.“

Ali schwieg, als wollte er Boris Gelegenheit geben, seine Worte zu bekräftigen. Schließlich sprach er weiter: „War Knirps, fing mit Boxen an. Vater meinte, das müsse man frühzeitig lernen: Einstecken und Austeilen. Der Kommunismus hätte viele Feinde. Der Arbeiter, müsse seinen Teil beitragen, sie in Schach halten. Die Halbstarken, lungerten an Ecken herum, qualmten die Lungen löchrig, inhalierten Westgeplärrr aus Kofferradios, ich los, zum Training. Jeden Tag. Gewann einen Kampf nach dem anderen. Hatte immer schon den nächsten Gegner im Blick. Auch beim Training. Immer.“

Alis Stimme klang eisern, sie räumte keinen Widerspruch mehr ein. Boris hatte den Trainer nie boxen gesehen, aber er konnte sich vorstellen, mit welch unerbittlichem Willen er seine Kämpfe gewonnen hatte.

„Trainierte, in der Hochschule für Körperkultur“, sagte Ali. „Neben der Boxhalle, probierten die Turner. Dienstag und Donnerstag, die Frauen. Sandra. Auf dem Balken. Alle Mann an der Tür. Boxer, Ringer, Handballer. Ich auch. Wusste nicht, wen das Mädchen im Blick hatte. Darfst raten, los.“

„Dich?“

„Traf mich ohne Deckung, war so. Liefen uns nun ständig über den Weg. Bei den Duschräumen. Beim Pförtner. An der Straßenbahn. Sie sagt: „Grüß dich. Du kannst ganz schön zuhauen. Ich habe dir beim Kampf zugesehen.“

Im schmalen Gesicht des Trainers traten knotig die Wangenmuskeln hervor. Ali lachte abweisend, sagte „Sandra“, als stände er vor einem unlösbaren Rätsel. Er sprach weiter, als wollte er es schnell hinter sich bringen: „Jeden Tag, waren wir zusammen. Disco. Kino. Eisdiele. Fußball. Schwimmen. Theater. Was losgehen, musste immer. Sie, konnte nicht genug kriegen. Ich, vergaß alles. Meinen Sport. Meine Eltern. Meine Partei. Meinen Kampfauftrag. Mich selbst. Wollte nur noch sie, nur sie.“

Ali schlug einen Aufwärtshaken, ließ einen Schwinger folgen und stieß verächtlich hervor: „Kurz: Wurde eine Null. Als ich eine Lusche war, ließ sie mich sitzen. Mit einem Ringer. War gerade Europameister geworden. Sandra.“

Ali hob selbstanklagend die Stimme. „Fiel mir alles wieder ein. Meine Eltern. Meine Partei. Mein Sport. Mein Ziel. Hatte alle verraten, war klar. Trainierte wieder. Härter als vorher. Unmenschlich hart, härter.“

Der Trainer holte aus, als wollte er sich selbst niederschlagen. „Vorbei. Kleine Erfolge noch. International, Ende, aus. Zu spät, alles. Die Frau. Der Biss, war weg. Sandra. War so.“

„Jetzt, hör zu, Kämpfer.“ Der Trainer blieb stehen, legte Boris die Hände auf die Schultern und sah ihn zwingend an. „Gegen Kalinke, wirst antreten. An Mädchen, denk nicht. Aus dem Kopf, schlag sie dir. Denk an den Kampf. Den Sieg, nur das.“

Boris fröstelte, ihm war heiß. Das war wohl der heilige Ernst der gerechten Sache, von dem er gehört und der ihn nun erfasst hatte. Er hob die Hand zum Schwur und sagte mit fremder Stimme: „Ja, Ali!“

„Tipp“, sagte der Trainer. „Im Ring, vergiss Kalinke, wer dein Gegner auch ist. Was gilt?“

„Wir oder die!“

Ein paar Meter vor einem militärischen Sperrschild kehrte Ali um. Sie liefen zurück durch vielfach gebrochenes Licht, als wäre über die Insel ein feinmaschiges Netz gespannt. Am Horizont irrlichterten Positionslampen von Schiffen. Ali beschleunigte seine Schritte. In der Dunkelheit war es verboten, sich am Strand aufzuhalten.

Im Lager hatten sie sich bereits schlafen gelegt. Auf der Lichtung standen die Zelte wie eine Herde schlafender Tiere. Der Trainer verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken. Boris kroch ins Zelt, sah durch einen Spalt, wie Ali die Tür des Käfigs öffnete und dem Kolkraben über das im Mondlicht perlmuttfarbene Gefieder strich. Der Vogel stieß glucksende Laute des Wohlbefindens aus, die in ein zärtlich klingendes Flöten übergingen. Der Junge robbte auf sein Lager und lauschte, bis es still war.

Die Gewalt des Sommers

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