Читать книгу Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß - Страница 13

10.

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Am Sonnabendmorgen sprühte es, als würden Schleier in verschiedenen Grautönen auf die Erde heruntergelassen. Der eben noch tobende Wind war ins Landesinnere gezogen. Himmel und See waren wie blinde Spiegel, die hier und da einen Riss zeigten, der sich gleich wieder schloss. Für den späten Abend hatte Ali den Kampf zwischen Boris und Kalinke angesetzt.

Beim Mittagessen war es ungewöhnlich still im Zelt. Selbst die Lämmsel, Pädagogikstudentin und jüngste Betreuerin, von gewaltiger Körperfülle, die mit vibrierender Stimme gewöhnlich den ganzen Tag über schwätzte, blieb stumm. Ihr Freund, ein langmähniger und vollbärtiger Kerl, war mit dem Motorrad zu Besuch gekommen. Er hatte seinen dicht behaarten Arm um ihre Schultern gelegt und blickte herausfordernd in die Runde. Die Lämmsel, die sonst immer eine Gelegenheit fand, einen der Männer überfallartig zu umhalsen und „abzubusseln“, wobei sie nur Lehrer Standke verschonte, wirkte geduckt. Aus ihren Maulwurfaugen im feuchten Puppengesicht huschten kurzsichtige Blicke durch das Zelt, als suchte sie ein Loch, durch das sie entschlüpfen könnte.

Boris sah unwillkürlich zu Ali, der angewidert auf das gigantische Pärchen blickte. Dabei war es gerade der Pionierleiter, den die Lämmsel am liebsten in ihrer Umarmung gefangen hielt. Ali hatte sie einmal so heftig zurückgestoßen, dass sie hinstürzte und zwei Frauen ihr helfen mussten wieder auf die säulenartigen Beine zu kommen. Der Pionierleiter hatte sich entschuldigt, aber es war ihm anzusehen gewesen, dass es ihm nicht leidtat.

Boris löffelte hastig etwas Suppe und verdrückte sich nach draußen. Er rutschte den Steilhang hinunter und platschte in Sandalen durch knöchelhohe See den Strand entlang. Bald wurde er von Grenzsoldaten gestoppt und zurückgewiesen. Er kletterte zurück auf die Klippe und schlenderte durch die Heide nach Dranske hinüber.

Boris wusste nicht, warum er unterwegs war. Am Tag des Kampfes noch zu üben brachte schließlich nichts. Am Vormittag hatte er eine leichte Gymnastik absolviert und ein paar Schlagkombinationen geübt. Weitere Anweisungen von Ali gab es nicht. Boris hatte nach Ralle gesucht, der auch im Zelt nicht zu finden war, wohin er sich manchmal zurückzog. Es war ihm bewusst geworden, dass Ralle beim letzten Trainingslauf nicht dabei gewesen war. Irgendwie fehlte ihm die Nähe des behäbigen Jungen mit seinen versponnenen Ansichten.

Boris fuhr herum. Der feine, aber dichte Regen ließ ihn nicht weit sehen. Kopfschüttelnd lief er weiter. Wieder schaute er sich um. Da war keiner. Wer sollte außer ihm bei diesem Hundewetter auch unterwegs sein. Im Lager wurde am Nachmittag ein französischer Film gezeigt. Die Mädchen hatten gesagt, dass man ihn gesehen haben müsste.

Die Luft war schwer und klebrig, sie roch nach verwesendem Fisch. Boris hatte sich bei Dschugaschwili nicht abgemeldet. Das würde Ärger geben. Er versuchte durchzuatmen. In der Schule hatte er gelernt, dass ein Kubikmeter Luft 1,292 Kilogramm wiegt. Wenn sie feucht ist oder warm, wird sie leichter. Bisher war sie ihm schwerelos vorgekommen, aber heute drückte sie auf seine Schultern. War er etwa nervös wegen des bevorstehenden Kräftemessens? Im Moment war ihm der Kampf eher gleichgültig, was ein Schuldgefühl gegenüber dem Trainer hervorrief. Er sagte beschwörend: „Du wirst kämpfen und siegen! Wir oder die!“ Schon nach ein paar Schritten war er wieder ohne Antrieb. Es war ihm angenehm, wie die Heidekrautbüschel nass und struppig seine nackten Füße streiften.

Diesmal schnellte er herum. War da nicht eine Gestalt? Aber da war alles nur Grau. Ging man durch den einen Regenschleier, war man im nächsten. Vielleicht suchte Ralle ihn? Oder waren Kalinke und Horst hinter ihm her? Blödsinn. Es wurde Zeit, dass der Kampf stattfand. Der würde alles klar machen. Was denn klar? „Nicht fragen, tun“, sagte Ali seinen Schützlingen. „Ist so.“

Boris musste sich „hungrig“ machen. „Du musst siegen! Du wirst siegen!“ Aber die verlangte Leidenschaft wollte sich nicht einstellen. Es waren ja noch ein paar Stunden Zeit, der „Biss“ würde schon kommen.

Er erreichte ein paar kastenförmige Wohnblocks, wo im Erdgeschoss eine kleine Kaufhalle, ein Schuhgeschäft und ein Friseur untergebracht waren. Die paar Mal, die er hier vorbeigemusst hatte, waren seine Schritte schneller geworden. Manchmal kamen Menschen aus den Häusern oder gingen hinein. Nie hatte einer ihn angesehen. Einmal hatte ein Junge vor der Kaufhalle auf einem Ball gesessen. Boris hätte ihm gern was zugerufen, aber es war ihm nichts eingefallen.

Ein paar Hundert Meter weiter breitete sich die hiesige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft mit ihren ehemals weißgetünchten Gebäuden aus. Der Kalk war stellenweise abgeblättert und ließ bröckelnde rote und gelbe Ziegel sehen. Eine gewaltige windschiefe Scheune zog gleich den Blick auf sich. Ihr fehlte stellenweise das Dach, aus den Öffnungen stiegen helle Dampfsäulen, die sekundenlang durchs Grau des Regens gaukelten, bis sie aufgesogen waren. Nach einem weiträumigen Maisfeld standen wie Vorboten die ersten Häuser von Dranske. Das alte Fischerdorf zog sich zu beiden Seiten der Hauptstraße zwischen Meer und Bodden schmal und lang hin. Die unzähligen Schlaglöcher waren mit dunklem Regenwasser gefüllt. Zwischen wie hingehockten Häusern mit blanken Fensterscheiben blieben ein paar Quadratmeter Platz für ein paar Obstbäume und Gemüsebeete.

Boris ging mitten auf der Straße. Ab und zu kam ein „Trabant“ angetuckert, dem er rechtzeitig Platz machte. Der Ort wirkte wie verlassen, Konsum und Kiosk hatten geschlossen, in dem winzigen Hafen am Bodden waren ein Fischkutter und ein paar Boote vertäut. Im mageren Grasboden am Ufer steckten Stangen, zwischen denen Netze gespannt waren. Möwen hockten auf den Stangenenden, den Kopf zwischen die Flügel gezogen. Unmittelbar am Wasser saß jemand, vermutlich ein Mann, nicht größer als ein Zehnjähriger. Er hockte etwas vornübergebeugt auf einem weißen Küchenstuhl, der mit den Füßen in den feuchten Sand gesunken war. In unregelmäßigen Abständen winkte er auf den Bodden hinaus, als wischte er über eine Scheibe, um klarer sehen zu können. Im Ferienheim der Gewerkschaft, dessen Außenwände leuchtend gelb gestrichen waren, saßen im Erdgeschoss Urlauber hinter den Fenstern und schauten aufs Boddenwasser. Auf dem Vorplatz war an einem hoch aufragenden Fahnenmast die schwarz-rot-goldene Staatsflagge mit ihrem Emblem aus Ährenkranz, Hammer und Zirkel aufgezogen. Sie war in einen kaum sichtbaren Rahmen gespannt, dass es selbst bei Windstille aussah, als würde sie straff wehen.

Boris fand nichts, wo es ihn stehen bleiben ließ. Alles erschien ihm unwirklich, so stellte er sich die Kulisse für einen Film vor. Er fand sich da hineingestellt. Vielleicht war er selbst ja auch nicht echt. Alles war nur gemacht. Aber zu welchem Zweck? Für wen? Boris fröstelte, wie manchmal nachts, wenn er durch das alte Haus geisterte.

Da schob sich etwas aus den Kulissen heraus. Noch war nicht mehr als ein Umriss zu erkennen. War da doch jemand hinter ihm gewesen? Eine Gestalt kam leichtfüßig auf ihn zu. Sie schüttelte sich wie eine nasse Katze, ein herausforderndes Lachen ...

„Du?“, entfuhr es ihm.

Das Mädchen zog ihre Strickmütze vom Kopf, klopfte sie auf ihrem Oberschenkel aus und steckte sie in eine Seitentasche ihres Anoraks. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen Locken, dass sie knisterten, und sagte: „Na du?“

„Ja“, sagte Boris. Ob denn auch diese Begegnung unwirklich war? Vielleicht gehörte ja alles, sein ganzes Leben, zu einer Rolle, die er spielen sollte und nicht verstand. Aber dieses Mädchen war echt. Da gab es keinen Zweifel.

„Der blöde Film“, sagte Ulli leichthin. „Den hab ich schon zweimal gesehen. Dachte, gehst mal los.“

„Das hab ich auch gedacht.“

Boris wollte weitergehen, aber er rührte sich nicht. Es war nicht richtig, dass er mit einem Mädchen hier stand, wenn doch in ein paar Stunden der Kampf stattfand.

„Gehen wir ein Stück“, sagte Ulli. „Bevor wir hier anwachsen.“

Sie ging gezielt zu dem kleinen Hafen und lief wie im Tanz über den Bootssteg. Am Ende angekommen, drehte sie sich um und wies einladend auf einen rotbraunen Kutter, der längsseits des Stegs vertäut war.

Sie sprang auf das Fischereifahrzeug und streckte ihm die Hand entgegen. Er übersah sie und stieg umständlich an Deck. Sie kletterte wie ein Junge auf dem Kutter umher und erkundete alles.

Er sah ihr zu. Es freute ihn, dass sie sich begegnet waren. Ebenso ärgerte es ihn, dass er nicht besser aufgepasst hatte und ihr nicht ausgewichen war. Wenn Ali ihn hier so sehen würde. Er trat hinter eine Plane und suchte das Ufer ab.

„Komm schon. Komm!“

Sie hatte die Tür zum Ruderhaus aufbekommen, huschte hinein, streckte ihren erhitzten Kopf heraus. Ihre vom Regen krausen Haare glänzten tiefblau. Noch nie hatte er etwas Lebendigeres gesehen als ihre Augen. Er war zutiefst beunruhigt. So hatte ihn noch nie jemand angeschaut.

Boris folgte ihr zögerlich. Er verglich ihr Lachen, das immer wieder hell aufklang, mit dem von Vera. Beide Mädchen lachten ohne Scheu und auffordernd, und doch war da ein Unterschied. Veras Lachen war Boris vertraut, es gehörte in die Welt der Kinder, in der er sich auskannte. Ullis Lachen klang dunkler, wie das einer Frau, es lockte ihn. Aber er misstraute der Lockung. Sie kam aus der Fremde. Es war nicht richtig, dass er hier war. Er musste sich nur umdrehen und weggehen. Das war ganz einfach. Er brachte es nicht fertig.

„Hier bin ich“, rief sie und hielt ihm die Tür auf.

Boris atmete schwer, bückte sich, trat vorsichtig ein. Die Kabine war winzig und niedrig. Das Mädchen setzte sich auf eine Blechkiste neben dem Steuerrad. Sie rückte an den äußersten Rand, klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.

Der Himmel riss auf. Das durch die Glasscheiben hereinflutende Licht reflektierte in den Messingstreben des Steuerrades Ullis Gesicht. Wie aus einer Vielzahl von kleinen Spiegeln, von denen bald die einen und bald die anderen aufblitzten, kam es ihm verzerrt entgegen. Gleich zog sich der Himmel wieder zu. Wieder bedeutete Ulli ihm, sich neben sie zu setzen.

Boris blieb an der Tür stehen, schob seine Hände tief in die Hosentaschen und presste seine Lippen aufeinander. Es ist wie im Kampf, dachte er und hörte Ali sagen: „Keine Blöße geben, nie. Doppeldeckung, oben behalten, logisch.“

Obwohl er sie nicht ansah, spürte er eine Veränderung bei ihr.

„Was ist los, Junge?“, sagte sie geradezu. „Ich meine mit dir?“

„Nichts“, entgegnete er grob. Die Tür war hinter ihm ins Schloss gefallen. Das Mädchen, ihre Nähe bedrängte ihn. Er konnte sie riechen. Er atmete tief ein. Seine Mutter, sie hatte nach – ja, nach Lindenblüten gerochen. Das Mädchen, diese Ulli, sie roch wie – er fand kein Wort dafür. Nach etwas, das ihm zu schaffen machte.

„Und doch ist was“, sagte Ulli. „Ist es die Klopperei mit Kalinke heute Abend?“

Boris dachte, dass er von hier weg musste. Einfach abhauen? Das wäre feige. Ali würde wollen, dass er geht. Aber er wollte nicht, dass sie dachte, er sei feige.

„Nun sag doch was, Junge.“

Sollte er nicht doch alles auf den bevorstehenden Kampf schieben? Das Mädchen würde sich damit zufriedengeben. „Jeder Kampf ist ein Endkampf“, hörte er Ali. „Musst du wissen, immer.“

„Nein“, sagte er. „Es ist nichts.“

Ulli sprang auf, stellte sich hinters Steuerrad, drehte daran, wandte sich zu ihm um und sagte: „Du gehst mir aus dem Weg. Beim Volleyball spielst du mich nicht mehr an. Und überhaupt.“

„He“, sagte sie leise und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Eine Frau fühlt so was doch.“

Boris spürte die Stelle, wo Ulli ihn berührte, heiß werden. Die Hitze erfasste seinen ganzen Körper, ballte sich hinter der Stirn. Ihm wurde es in sich selbst zu eng.

Sie lehnte sich an ihn und raunte: „Weißt du, ich mag dich. Und du? Magst du mich auch?“

Er stieß sie zurück, wuchtete die Tür auf, rannte übers Deck und klammerte sich an der Reling fest. Ihm war, als wäre er auf hoher See und um ihn wütete ein Sturm. Er wünschte sich, dass eine Welle ihn über Bord werfen sollte. Es wäre leicht, sich sinken zu lassen, bis auf den Grund, und nie wieder aufzutauchen. Dann würde er wissen, was wirklich war und was nicht.

Sie stand vor dem Ruderhaus und rief: „Aber was ist denn? Geht´s dir nicht gut?“

Der Kutter krängte leicht und begann schwerfällig zu schaukeln. Das Boddenwasser kräuselte sich, sein stumpfes Grau wurde von silbernem Glanz abgedeckt. Wind war aufgekommen und kroch kühl unter die Haut. Der Himmel zeigte eine tiefe Kluft, seine eben noch dichte Decke zerriss in bunte Fetzen, die flink auseinandertrieben.

Boris fand wieder Platz in sich und sagte: „Lass mich einfach in Ruhe. Bitte.“

Nichts war zu hören, dann sah er die Möwen in der Luft und hörte ihr „Kjau, Giejä“ und das raue „Haha agag“. Als er an ihr vorbeiging, hörte er sie sagen: „Du bist ja dumm. Weißt du, wie dumm du bist?“

Ihre Stimme klang nicht böse, auch nicht verletzt, nur überrascht. Er hätte ihr gern was gesagt, das sie beide verstehen konnten. Aber da gab es nichts zu sagen. Er musste nur weitergehen.

Die Gewalt des Sommers

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