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4.

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Die Zeit auf der Insel verging in schnell wechselnden Bildern. Am frühen Morgen pickten die Mädchen und Jungen sich wie Vögel aus dem Ei, sie schüttelten ihre Flügel und schon schwangen sie sich in die Lüfte. Am späten Abend landeten sie flügellahm wieder auf dem Erdboden und ließen sich in einen tiefen Schlaf fallen, um am nächsten Morgen das gleiche lustvolle Spiel zu wiederholen.

Mit jedem neuen Morgen fiel mehr Last von Boris ab. Das Gewesene blieb immer weiter zurück. Misstrauisch beobachtete er eine Szene wie aus einem Film über eine vergangene Zeit. Nach dem Waschen und dem Morgenappell fuhr täglich um die gleiche Zeit ein Tafelwagen am Essenszelt vor. Ein mächtiger rotbrauner Ochse ging im Geschirr, die großen Augen ausdrucksleer. Eine Frau mit grimmigem Männergesicht sprang gewandt vom Kutschbock und schlug mit einem Treibstock dem Tier zwischen die Hörner, dass es stehen blieb. In ihrem schmutzig-gelben Overall wirkte sie wie eine Wespe, die schlank und emsig umhersurrte. Sie zog die Milchkannen von der Ladefläche und stellte sie in schnurgerader Reihe vor dem Zelteingang auf. Mit schroffer Gebärde lehnte sie jede Hilfe ab. Wenn sie die leeren Kannen aufgeladen hatte, drosch sie abermals mit dem Stock gegen den mächtigen Schädel des Ochsen. Bevor der anruckte, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, hatte gleich die Zügel fest in der Hand und knallte mit der dünnen Peitsche. Jedes Mal wichen alle Umstehenden instinktiv zurück. Im gemächlichen Trott des Ochsen entfernte sich der Wagen. Einige der Umstehenden rissen nun Witze darüber, dass sie die Milch nicht in den üblichen Beuteln oder Flaschen, sondern frisch aus der Kuh geliefert bekämen. Und was dieser klapprige Ochsenkarren überhaupt solle? Die Bauern hätten doch genug Autos und überhaupt das meiste Moos. Boris schaute dem Gefährt fasziniert, aber auch abwehrend hinterher, bis nur noch das gelegentliche Scheppern der Kannen zu hören war.

Ali ließ sich jeden Tag etwas einfallen, mit dem er seine Schützlinge überraschte. Die Jungen und Mädchen schwammen morgens und abends in der Ostsee, spielten Volleyball, Fußball und Tischtennis. Sie setzten aufs Festland über und besuchten das mittelalterliche Stralsund mit seinen zahlreichen Toren, Kirchen und Türmen. Im Meeresmuseum standen sie stumm vor einem fünfzehn Meter langen Skelett eines Finnwals. Bei einem Bummel durch das Inselstädtchen Sassnitz besichtigten sie im Fischereihafen die nasskalten und dämmrigen Hallen der Fischverarbeitung. Junge und alte Frauen mit weißen Haarnetzen, langen Gummischürzen und in klobigen Stiefeln sortierten die Fische und verpackten sie in Kisten. Die Frauen sprachen, wenn überhaupt, knapp miteinander. Kaum eine sah mal hoch. Auch die Besucher verstummten angesichts der Düsternis, der klammen Luft und des scheinbar unter die Haut gehenden Fischgeruchs. Wieder im Licht sahen sie vom Kai aus sehnsüchtig der Eisenbahnfähre nach dem schwedischen Trelleborg hinterher. Auf dem Jasmunder Bodden setzten sie mit einem Kutter nach Ralswiek über. Hier wurde in einer Bucht zu den Festspielen die „Ballade von Klaus Störtebeker“ aufgeführt. Ali hatte die spannende Geschichte des Seeräubers, der auf Rügen geboren sein sollte, am Lagerfeuer erzählt: Der Störtebeker hatte im Streit seinen Brotherrn erschlagen, war unter Piraten geraten und selbst zum Anführer der legendären Vitalienbrüder geworden. Schließlich hatte man ihn gefasst und enthauptet. Irgendwo auf der Insel sollte er einen Schatz vergraben haben. Für die Boxgruppe war täglich eine Stunde Training angesetzt. Ali sagte, dass er den Jungen den nötigen Schliff geben würde. Der sollte die Muskeln härten, die Lungen dehnen, den Biss schärfen und vor allem das Kämpferherz formen. Der Körper brauche Kultur, vor allem, klar doch.

An einem Tag voller steifer Böen wanderten sie auf den steil zum Meer abfallenden Kreidefelsen über das Nordkap der Insel. An den Ruinen des Walles einer Tempelburg gebot Standke Halt. Der Lehrer ließ wissen, dass sich hier die Jaromasburg mit dem Standbild des slawischen Gottes Swantewit befunden habe. Elfhundertachtundsechzig sei sie vom dänischen König Waldemar I. zerstört worden.

Die nüchternen und nicht enden wollenden Wissenskundgebungen des Geschichtslehrers erzeugten bei den Schülern gähnende Langeweile. Die Jungen lenkten sich mit versteckten Rempeleien und dem Erzählen von Witzen ab. Die Mädchen traten von einem Bein aufs andere, hauchten in die Hände und steckten die Köpfe zusammen. Alle sehnten sich nach einer heißen Suppe aus der Feldküche, die sie im Lager erwartete.

Boris sah hinüber zu einem weitläufigen Gelände, das mit Stacheldraht umzäunt war. Schilder, die das Betreten strengstens untersagten, wiesen auf ein Militärgelände hin. Malisch stand massig neben ihm, nickte zu den beiden Leuchttürmen hinüber, die aus dem Gelände hoch herausragten, und sagte sehnsuchtsvoll: „Von da oben kann man bestimmt große Kähne sehen. Wie sie die Ostsee durchs Kattegat und Skagerrak verlassen. Über die Nordsee in den Atlantischen Ozean. Mit ein bisschen Glück ums Kap Horn. Hinein in den Pazifischen Ozean bis zu den Cookinseln.“

Malisch malte mit eindringlichen Worten die Koralleninseln farbig aus, er erzählte von freundlichen Polynesiern, deren höchster Gott Io war. Sie sollten tatsächlich Kannibalen gewesen sein. Von weiten schneeweißen Stränden sprach er, vom Singsang des Seewindes in hohen Palmen. Von Held Maui, dem es gelungen war, sogar die Sonne vom Himmel zu holen, dass die Tage der Menschen länger wurden.

Boris musterte Ralph Malisch aus den Augenwinkeln. Der blasse Junge wirkte für gewöhnlich wie frisch gebadet. Sein voluminöses weiches Aussehen wurde unterstützt von einer Löwenmähne aus schimmernden hellen Haaren, die bis auf die Schultern herabfielen. Vom Direktor der Schule bekam er dafür scheele Blicke. Lehrer Standke hatte ihn zur Hofpause im Kreis der Jungen gefragt, was er denn mit einem solchen „Wirrkopf“ bewirken wolle? Malisch hatte sich weggedreht und war ins Schulgebäude zurückgegangen.

Was Malisch da redete, wollte nicht zu ihm passen. Die Jungen im Dorf riefen ihn „Tunte“, seitdem sie ihm am gefluteten Tagebau die Badehose heruntergezogen hatten. Sie schrien, dass „sein Pimmel verkümmert“ wäre und er „Titten wie ein Weib“ hätte. Sie hatten ihn in die Brustwarzen gekniffen und herumgestoßen. Möbius hatte sich auf ihn geworfen. Unter den Anfeuerungsrufen der anderen hatte er getan, als sei Malisch ein Mädchen, mit dem er Geschlechtsverkehr ausübte. Malisch war es schließlich gelungen, seine Sachen aufzuraffen und zu entkommen. Boris hatte abgestoßen zugesehen. Am Abend dann, als er mit den Jungen ins Dorf zurückkehrte, hatte er Malischs Fahrrad an das Haus gelehnt, in dem der Junge mit seinen Eltern wohnte.

Boris schluckte, er verspürte mit einmal Fernweh und sagte abwehrend: „Aber was willst du denn dort?“

Auf Ralph Malischs Gesicht kehrte das Lächeln zurück, das seine Gegenüber auf Distanz hielt.

„Was soll denn dort schon Großartiges sein?“

Malisch zuckte mit den abfallenden Schultern, sagte dann: „Das Paradies.“

„Das Paradies? Ja, was soll denn das sein?“

Malisch errötete. „Natürlich nicht Gott, Adam und Eva und so was.“

„Was denn dann?“

Malisch ging in die Hocke und legte einem Käfer einen Stein in den Weg, den der flink überkletterte. Boris wollte sich schon abwenden, da sagte der Junge: „Ich meine einen Ort, wo du – frei bist.“

„Frei?“

Boris erinnerte sich, dass der Vater von „frei sein“ und „Freiheit“ gesprochen hatte. Die Eltern waren darüber oft in Streit geraten. Es waren böse Worte gefallen. Einmal hatten sie aufeinander eingeschlagen. Wenig später waren beide in sein Zimmer gekommen. Die Mutter hatte Boris umarmt, dass es ihm wehtat. Der Vater, sonst sparsam mit Berührungen, hatte ihm eine Hand auf den Kopf gelegt.

„Du spinnst ja, Malisch.“

Boris ging ein paar Schritte zur Seite. Die Erinnerung tat immer noch weh. Er schloss die Augen. Da spürte er eine Hand auf der Stirn, schmal und warm. Für den Moment wusste er nicht, ob die Berührung wirklich war oder der Vergangenheit angehörte.

Er hörte Lachen, riss die Augen auf und stieß das Mädchen weg. Es war Ulrike Blau, die sie Ulli riefen, sie kam aus einer Schule des Nachbarortes. Er hatte sie erst hier beim Volleyball kennengelernt. Sie spielten gut zusammen, er gab die Vorlagen für ihre hart geschlagenen Schmetterbälle. Bisher hatten sie sich nur Kommandos zugerufen wie: „Aufpassen!“, „Jetzt!“ und „Hier!“ Wenn ihnen ein Punkt gelungen war, trafen sich kurz ihre Blicke. Früher hatte er sich nichts aus dem Ballspiel gemacht. Jetzt konnte er nicht genug bekommen. Es machte ihn stolz, wenn Ulrike Blau ihn als Ersten für ihre Mannschaft auswählte.

„Entschuldige“, sagte Ulli und zupfte eine schwarze Haarsträhne unter ihrer Strickmütze hervor, was ihr kesses Aussehen betonte. „Die dummen Hühner haben mich geschubst.“ Sie schimpfte auf Russisch: „Ty ssuma ssaschla!“

Die Mädchen lachten und riefen: „Verrückt sind wir nicht! Ulli liebt Boris! – Boris liebt Ulli!“

„Glaub ihnen kein Wort.“ Ulli drohte den Mädchen mit der Faust und lachte mit. „Die sind doch alle schwer krank.“

Boris drängte sich an ein paar Jungen vorbei. Nun stand er wieder neben Ralph Malisch.

„Hast du was mit der?“

„Dummes Zeug“, entgegnete Boris. Das sagte Anna immer, wenn sie über eine Sache nicht mehr reden wollte. Dann lenkte er ein: „Wie hast du das eigentlich gemeint vorhin?“

„Was denn?“

„Mit dem Ort. Wo man - frei ist?“

„Du weißt doch. Malisch spinnt manchmal ein bisschen.“

Boris fragte nicht weiter. Er kannte das von sich selbst. Wenn ihn jemand bedrängte, verschloss er sich. Es gab sowieso keinen Ort, wo man frei war. Was war überhaupt frei sein? Fliegen vielleicht. Wer konnte schon fliegen? Aus eigener Kraft. Menschen jedenfalls nicht. Die Vögel konnten es. Und Engel. Jetzt fing er auch noch zu spinnen an. Wie dieser schwabbelige Junge.

Standke beendete endlich seinen Vortrag, dem er schließlich nur noch selbst zugehört hatte. Mit Ali voran verließen sie das Nordkap. Sie liefen in einer langen Schlange, die bald in kleine Gruppen zerfiel, zum Lager zurück. Boris und Malisch gingen am Ende nebeneinander her. Der milchgesichtige Junge blickte manchmal zurück, wo die Entfernung Land, Meer und Himmel eins werden ließ und ins Unendliche verschob.

Obwohl Ulrike Blau weit vorn lief, trug der Wind Fetzen ihres Lachens zu Boris heran. Dann lief er unwillkürlich schneller. Nach ein paar Schritten zwang er sich stehen zu bleiben und passte sich erneut Malischs gemächlichen Schritten an.

Boris sah zu Ulli und dachte an Vera, ein Mädchen aus der Stadt, mit dem er vor ein paar Wochen zusammengekommen war. Sie hatte im Frühjahr Verwandte, die in Lerchau in der Genossenschaft arbeiteten und nebenher etwas Vieh hielten, besucht. Im Dorfkonsum, wo Boris für die Großmutter den Einkauf erledigte, hatte das Mädchen ihn gefragt: „Soll ich mein letztes Geld für Eis oder für meine Lieblingsbonbons ausgeben?“ Bis zum kleinen Gehöft der Großeltern war sie neben ihm hergegangen. Er hatte sie dann zum Grundstück ihrer Verwandten gebracht. Ihre Mutter wartete bereits, um sie mit zurück in die Stadt zu nehmen. Vera hatte noch schnell Namen und Adresse auf die inzwischen leere Bonbonschachtel gekritzelt und gesagt: „Schreib doch mal. Ich bekomme gern Briefe.“

Der erste Brief war Boris schwergefallen, obwohl er nur aus vier Worten bestand: Wie geht es Dir? Vera hatte ihm gleich geantwortet, ihre Unbekümmertheit gab ihm schnell das Gefühl von Nähe. Fast täglich gingen zwischen ihnen Briefe hin und her.

Boris erzählte keinem von ihr. Die Post fing er bei der Briefträgerin ab. Mit den derben und prahlerischen Geschichten und Witzen, die die Jungen einander über Mädchen erzählten, konnte er nichts anfangen. Er lachte mit, um nicht aufzufallen und womöglich in den Mittelpunkt ihres Spotts zu geraten. Niemals hätte er sich einem von ihnen anvertraut. Dann passierte das mit seiner Mutter. Vera hatte gefragt, warum er denn nicht mehr auf ihre Briefe antworten würde? Was ist denn bloß los, Junge? Er hatte keine Worte mehr für sie gefunden.

„Na, los doch“, mahnte Malisch. „Der große Chef hat´s nicht gern, wenn einer zurückbleibt.“

„Weiß“, sagte Boris. „Komme schon.“

Die Gewalt des Sommers

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