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6.

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Am nächsten Morgen, beim Appell unter der blauen Fahne der Thälmannpioniere, fing Boris einen Blick Ullis auf. Die beiden Mädchengesichter verdrängten wieder sein eigenes Bild. Die Unruhe kehrte in ihn zurück, eine Frage bedrängte ihn, die er nicht formulieren konnte.

Er blickte zu Ali, der schallend sein Lieblingslied anstimmte: „Von all unseren Kameraden ...!“

Die Jungen und Mädchen stimmten willig ein, dass der Chor weithin schmetterte: „ ... war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut ...!“

Ullis dunkle Augen, in denen ein Lachen hüpfte, blickten Boris unverwandt an.

... Da kam eine feindliche Kugel bei einem fröhlichen Spiel; mit einem seligen Lächeln unser kleiner Trompeter, er fiel!“

Boris hatte Mühe einen Rempler auszubalancieren. Kalinke hatte sich vor ihm aufgebaut. Er war etwas kleiner als Boris, aber muskulöser, sein Gesicht war hart und kantig, als sei es aus hartem Holz und noch nicht fertig geschnitzt.

Kalinke drohte mit mühsam beherrschter Stimme, die männlich tief, aber zwischendrin mädchenhaft hoch klang: „He, Pflaume, geh mir aus dem Weg. Misch dich bloß nicht ein.“

Da nahmen wir Hacke und Spaten und gruben ihm morgens ein Grab, und die ihn am liebsten hatten, sie senkten ihn stille hinab!“

Boris erschauerte jedes Mal, wenn sie das Lied sangen. Er konnte nicht verstehen, dass sie so laut und fröhlich sangen, wo doch einer von ihnen tot war.

„Du bist doch kein Idiot.“ Kalinke drückte ihm die Faust in den Rücken. „Oder soll ich dich erst fertigmachen?“

Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, wir waren dir alle so gut, ...“

Boris verstand nicht. Das war auch egal. Er konnte Kalinke einfach nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Klassenzimmer hatte der Kraftprotz ihm zu verstehen gegeben, dass er das Sagen hatte. Kalinke war immer verschwitzt, in der Schule hatte er jeden Tag ein frisches Hemd an. Boris fand, er roch dennoch wie ranziges Fett.

„... schlaf wohl, du kleiner Trompeter, du lustiges Rotgardistenblut!“

Boris sah zu Ulli hinüber und sagte: „Du stinkst, Kalinke.“

Kalinke schlug zu. Boris konnte noch die Deckung hochreißen. Doch der folgende Haken traf seine Leber, der Schmerz krümmte ihn, er umklammerte seinen Gegner, kippte aber doch weg. Kalinke schlug weiter, er war wegen seiner Gewaltausbrüche auch von den Älteren gefürchtet. Es hieß, dass er sich eher totschlagen lassen als aufgeben würde.

In Boris rotierten rote Spiralen. Er wurde hochgerissen. Der Pionierleiter hatte ihn und Kalinke an den Kragen ihrer Trainingsanzüge gepackt und schüttelte sie wie junge Hunde. Frau Wieland, eine greisenhaft wirkende Betreuerin, die man auch „das Denkmal“ nannte, bekam einen Schreianfall. Sie konnte sich nicht wieder beruhigen, kreischte, heulte und zuckte am ganzen Körper. Standke und eine junge Lehrerin führten sie weg. Noch von weitem klang es wie eine Sirene durchs Lager.

Alle blickten befremdet zu Boden. Von Frau Wieland wusste man, dass sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und ihrem Widerstand gegen die Nazis ins KZ Buchenwald gekommen und erst am Kriegsende befreit worden war. Sie war mehrfach in die Schule eingeladen worden, um von ihrer Leidenszeit im Konzentrationslager zu berichten. Als sie in der Aula vor all den Lehren und Schülern stand, hatte sie kein Wort rausgebracht und war schließlich von der Bühne gewankt.

Die Aufregung legte sich langsam, allgemeine Verwirrung blieb zurück. Die Gruppe unternahm einen Ausflug in ein Waldstück, wo ein Geländespiel vorbereit war. Der Pionierleiter hatte Boris und Kalinke mit Lagerarrest bestraft. Sie mussten inzwischen die Plumpsklos leeren und Wasserhähne reparieren. Ali wollte am Abend die „Latrinen piekfein wie im Interhotel“ vorfinden.

Für Ali wäre der Vorfall damit erledigt gewesen. Aber Standke, den die Schüler insgeheim „Dschugaschwili“ - nach dem Geburtsnamen des ehemaligen Sowjetdiktators Stalin - nannten, mischte sich ein. Dschugaschwili galt als „harter Hund“, er nahm alles politisch und war für strenge Strafen als „erzieherisches Mittel proletarischer Bewusstseinsbildung“. Dem aschgrauen Gesicht des Geschichtslehrers konnte man keine Regung ansehen. Seine Stimme, Dschugaschwili war Kettenraucher, klang heiser, wie von einem alten Tonband, das Höhen und Tiefen nur noch verwischt wiedergab. Wenn er sich aufregte, schnappte sie manchmal in ein ebenso lächerliches wie unerträgliches Fisteln über.

Dschugaschwili erklärte: „Die beiden Rowdys müssen umgehend nach Hause geschickt werden. Sie haben beim Morgenappell die Fahne der Pionierorganisation geschändet. Der zunehmend ins sozialistische Lager herüberschwappenden westlichen Verderbtheit der Jugend muss entschieden Einhalt geboten werden.“

Der Lehrer ordnete eine Versammlung der Erwachsenen im Essenszelt an, das auch zum Verarzten von kleinen Verletzungen diente. Bei schlechtem Wetter saßen hier die Betreuer bis in die Nacht zusammen. Auf einen Wink Kalinkes schlich Horst, sein ständiger Begleiter, zu dem großen Zelt und presste seinen Kopf seitlich an die Plane. Bald gab er aufgeregt Zeichen, und nach Kalinke pirschten sich auch die anderen ans Zelt heran. Drinnen wurde gestritten, hauptsächlich waren Alis und Dschugaschwilis erregte Stimmen zu hören. Dann rief jemand dazwischen, noch unsicher, aber beim zweiten Zwischenruf entschiedener. Es war Mathemüller, der im Unterricht strohtrocken, aber gut nachvollziehbar die Rechenwege erklärte und sonst taub und stumm zu sein schien. Er klang wie beim Unterrichten sachlich, aber jetzt auch zögerlich, als er sagte: „Bitte, Kollegen, wir sollten nicht zu streng urteilen. Es sind immerhin noch – Kinder. Und wer von uns ist schon ohne Fehl und Tadel.“

Boris und Kalinke tauschten einen ungläubigen Blick. Von der Seite hatten sie keine Hilfe erwartet.

„Mathemüller“, raunte Kalinke verächtlich. „Der soll sich bloß nicht die Kreide abbrechen.“

Dschugaschwili hatte etwas geantwortet, was nicht zu verstehen gewesen war. „Maul halten“, drohte Kalinke den anderen Lauschern, obwohl er ja dazwischengesprochen hatte.

Der Mathelehrer sprach weiter, seine Stimme klang jetzt fester: „Und überhaupt, Kollegen. Ist das nicht ein bisschen zu viel – Drill in unserem Zeltlager? Die Kinder – unsere Schüler, die sind doch zur Erholung hier.“

„Drill?“, war Ali zu hören. „Verstehe nicht.“

„Nun ja, ich meine nur …“ Mathemüller druckste, doch dann verfiel seine an sich hohe Stimme in einen Bass: „Ich habe mich gestern in anderen Pinonierlagern auf der Insel umgesehen. Ich muss sagen, keine Spur mehr von den Sechziger- und Siebzigerjahren. Dort geht es viel – lockerer zu.“

Unter den Jungen und Mädchen kam Unruhe auf.

„Schnauze“, gebot Kalinke.

„Lo – cke – rer“, wiederholte Dschugaschwili, und es klang so, als hätte er das Wort mit Kopfstimme gesungen. „Haben Sie lockerer gesagt, Kollege Müller?“

„Ich – meinte – wollte sagen … Ja, ich sagte lockerer, Kollege Standke.“

Im Zelt klapperte Geschirr, dann war es sekundenlang still, schließlich war Standkes rasselnder Atem zu hören, er sagte wie von einem hohen Podest herab: „Es dürfte auch Ihnen, Kollege Müller, als Lehrer für Mathematik, nicht unbekannt sein, was locker für Synonyme hat: lose, nicht fest, durchlässig, wackelig, ja, und lotterig.“

„Jetzt geht der Müller auf die Bretter“, kommentierte Kalinke. „Der hat doch nichts drauf.“

Keiner widersprach. Auch Boris schätzte, dass der Mathelehrer nun wieder in der Versenkung verschwinden würde. Umso erstaunter war er, als Müller geradezu temperamentvoll widersprach: „Ich möchte Sie nicht belehren, Kollege Standke. Aber neben den eher negativen sinnverwandten Wörtern, gibt es durchaus auch positive: Aufgelockert. Entspannt. Natürlich. Nicht starr, gelöst. Ungezwungen und unverkrampft.“

Boris wusste nicht warum, aber er spürte etwas wie Freude, oder war es Genugtuung? Er hatte weder für Standke noch für Müller viel Symphatie, den einen fürchtete er, der andere war ihm gleichgültig. Er hätte gern zu Ulli gesehen, deren Nähe ihn in Aufregung versetzte, die ihn zugleich beglückte wie ängstigte. Aber er wagte es nicht, als könnte er etwas von sich verraten, das ihm selbst noch nicht klar war.

Standke schnauzte, was sonst nicht seine Art war, da er auch mit gequetschter Stimme nachdrückliche Wirkung zu erzielen wusste. Seine Worte, in kurze Sätze verpackt, waren wie Geschosse, die Müller ein für alle Mal mundtot machen sollten. Er sprach davon, dass die „westliche Lockerheit“ nur alle im menschlichen Leben notwendigen Formen und Normen aufweichen würde. Im „Flitterangebot“ des sogenannten „Freien Marktes“ würden die in Kaufrausch geratenen Kosumenten jeglichen revolutionären Geist verlieren. Der in zwei Weltkriegen missbrauchte Mensch würde wieder zur knetbaren Masse, von den Ausbeutern zu Ausgebeuteten geformt. Lockerheit brächte dem Sozialismus nichts als Instabilität und Zersetzung. Er, Standke, werde es fortan nicht hinnehmen, dass im Lehrerkollegium Ideengut des Klassenfeindes als Möglichkeit sozialistischer Lebensweise angepriesen würde.

Dschugaschwili hatte nicht lange gesprochen, aber seine Rede schien nachzuhallen, es herrschte im Zelt und davor Schweigen. Alis unterstützende Worte von Disziplin, Selbsthärtung und Kampfeswillen wirkten dagegen nur noch wie ein zu spät kommender überflüssiger Anhang.

Im Zelt klirrte wieder Geschirr, Kaffeeduft breitete sich aus, jemand kam zum Eingang. Die Lauschaktion wurde augenblicklich beendet, die Beteiligten brachten sich in sichere Entfernung.

Kalinke beorderte nun zwei Jungen als Späher und Bote zum Essenszelt. So erfuhren alle, um die Feuerstelle sitzend, vom weiteren Verlauf der Verhandlungen. Im Zelt schienen sie zu keiner einheitlichen Meinung zu kommen. Bis schließlich Paulchen mit hoch erhobener Faust gerannt kam und schon von weitem rief: „Ihr müsst nicht nach Hause fahren! Ali hat gegen Dschugaschwili einen Punktsieg gelandet!“

Boris und Kalinke boxten die Fäuste gegeneinander. Für den Augenblick waren alle Feindseligkeiten vergessen. Wie sich später herausstellte, hatte Frau Wieland das Kräftemessen zwischen Ali und Standke entschieden. Sie war vom Stuhl hochgefahren, hatte sich die Hände auf die Ohren gedrückt und gesagt, dass es nun gut sei, sie wolle nichts mehr von alldem hören. Der mit hohen Auszeichnungen dekorierten Antifaschistin, die selbst mit dem Staatsratsvorsitzenden und maßgeblichen sowjetischen Genossen bekannt war, wagte niemand zu widersprechen.

Die Gewalt des Sommers

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