Читать книгу Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß - Страница 12

9.

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Boris brachte den Brief gleich zur Post, die Worte pulsierten ihm weiter durch den Kopf.

Liebe Vera!

Ich schreibe Dir von der Ostsee. Von der Insel Rügen. Aus dem Ferienlager. Wir sind hier ganz im Norden. Hier hört das Land auf. Und das Meer beginnt. Es ist hier alles anders als sonst. Das wirst Du nicht verstehen können. Ich würde es auch nicht verstehen, wenn ich nicht hier wäre. Also, ich werde Dir nicht mehr schreiben. Und Deine Briefe lese ich nicht mehr. Ich bin Dir nicht böse. Und ich mag Dich noch immer. Wir können ja auch Freunde bleiben. In Gedanken. Oder so. Aber ich habe eine Aufgabe. Ich muß kämpfen. Und siegen. Eigentlich liegt mir nicht viel daran, ob ich gewinne oder verliere. Aber es geht nicht um mich. Es geht um uns alle. Wir oder die?

Vielleicht kannst Du mich ja doch verstehen. Ich muß es ja auch.

Mach´s gut. Boris

Von nun an wollte er auch Ullis Blicken ausweichen. Es sollte wieder sein wie vor ein paar Tagen, als gäbe es sie nicht.

Bei der Morgenwäsche drängte Kalinke Boris unversehens hinter ein Toilettenhäuschen. Der breitschultrige Junge stand in Pose, alle Muskeln des nackten Oberkörpers angespannt. Er hatte die Arme angewinkelt und etwas erhoben, die Hände waren geballt. Kalinke schniefte wie Boxer, denen das Nasenbein gebrochen war, und sagte: „Hör mir jetzt gut zu, Pflaume.“

Boris stieß Kalinke zurück. „Was willst du von mir, he?“

„Ich will, dass das klar ist!“

„Was denn?“

„Verdreschen werde ich dich sowieso“, sagte Kalinke. „Aber es liegt an dir, ob du gleich in der ersten Runde k. o. gehst oder nur nach Punkten verlierst.“

„Klar liegt´s an mir“, entgegnete Boris gereizt. „Aber ich werde dich besiegen!“

„Träum nur schön weiter.“ Kalinke lachte abfällig. „Du gibst mir jetzt dein Wort, dass du von Ulli wegbleibst. Sie - es ist - also sie gehört mir.“

„Hast du sie dir im Konsum gekauft, oder was?“

„Werd bloß nicht noch frech!“

Boris war verunsichert. Gehörten Kalinke und Ulli womöglich zusammen? Bis vor Kurzem hatten Mädchen ihn nicht interessiert. Erst mit Vera war diese Unruhe in ihn gekommen, die sich durch Ulli noch verstärkt hatte. Er wollte jetzt nicht einfach klein beigeben. Kalinke reizte ihn überhaupt immer zum Widerspruch.

„Wenn ich´s nicht mache?“

„Dann blamiere ich dich. Vor Ali. Du weißt ja, wie der Chef über Verlierer denkt.“

Boris hörte Ali beschwörend sagen: „Was zählt, ist der Sieg, nur der. Alles dem Sieger. Nichts dem Verlierer.“ Solche klaren Regeln taten Boris gut. Bei vielem, was er lernte, wusste er nicht, was er davon glauben sollte. Regeln machten es einfacher. Manche schmeckten bitter, doch das ließ sich wegschlucken.

„Gib mir dein Wort, dass du die Finger von Ulli lässt“, forderte Kalinke.

Der Bruch mit Vera war Boris leichter gefallen. Mit Ulli schien etwas zu beginnen. Es reizte ihn, dass er nicht wusste, was ihn erwartete. Doch er wollte tun, was getan werden musste. Zwischen Ali und ihm durfte nichts stehen. Niemals. Ihn fröstelte bei dem Gedanken, dass Ali sich von ihm abwenden könnte.

Er stieß hervor: „Mach doch, was du willst, Kalinke. Ich kenne die doch gar nicht.“

„Danke“, sagte Kalinke ungewöhnlich milde. Er streckte Boris die Hand hin, zog sie aber zurück, als der nicht gleich einschlug. Der klotzige Junge ging leichtfüßig davon. Bestimmt wäre er gerne losgerannt oder in die Luft gesprungen. Aber das war ihm dann wohl doch zu kindisch.

Boris neidete Kalinke das Glücksgefühl. Noch immer sah er ihm hinterher. Horst machte sich gleich wieder an die Seite seines Freundes. Kalinke stieß ihn zurück und blickte sich kurz um. Die beiden entfernten sich in Richtung der Zelte.

Am Waschplatz wartete Ralle auf Boris. Inzwischen waren sie allein. Ralle saß in seinem „Schwulenfrack“, wie die Jungen den viel zu großen weißen Bademantel nannten, auf einem Baumstumpf an der Holzsammelstelle. Boris beugte sich über die Zinkwanne, drehte einen Wasserhahn auf und hielt den Kopf unter das sprudelnde Wasser. Er schnappte nach Luft, die Kälte stieß durch seine Schädeldecke in alle Bereiche des Körpers. Er musste sich festhalten, nur mühsam konnte er einen lustvollen Schrei unterdrücken. In plötzlichem Überschwang sagte er zu Ralle, der ihm schweigend zugesehen hatte: „Na, Junge.“

„Jaja“, sagte Ralle und nickte wie einer, der sich auskennt. „War was?“

Boris rubbelte sich mit dem von Anna mitgegebenen Handtuch ab, das rau wie eine Bürste war. Aus dem weit oben am Stamm einer Fichte angebrachten Lautsprecher des Lagerfunks war ein munterer Kinderchor zu hören: „Gu - ten Tag, du neu - er Mor - gen, bist so jung und frisch wie wir, und so will dich sin - gend grü - ßen je - der Jun - ge Pi - o - nier ...!“

„Kalinke. Du kennst ihn ja.“

„Ja und?“

„Wusstest du, dass Kalinke, dass er mit der - wie heißt sie doch gleich - zusammen ist?“

„Ulrike Blau.“

Boris ließ sich vornüber fallen, fing sich mit den Händen ab und drückte Liegestütze. Aus dem Lautsprecher tönte der Chor weiter: „Blaue Fahne mit dem Zeichen, das für uns Verpflichtung ist, sollst auch heute uns begleiten, Fahne, sei auch du gegrüßt.“

„Sie gefällt dir, was?“ Ralle lachte unsicher.

„Du spinnst doch wohl.“ Boris keuchte, er hatte sich beim Zählen vertan, sprang auf und begann mit Kniebeugen, wobei er laut mitzählte.

„Ich spinne aber nicht“, sagte Ralle eifrig. „Kalinke spinnt. Die Ulli hat doch nur Augen für dich.“

Abermals hatte Boris beim Zählen den Faden verloren. Er begann, am Ort zu rennen.

Ganz gewiss bringt Glück und Freude heut uns jeder Stundenschlag ...“

„Lass doch mal den Bauchtanz“, sagte Ralle ärgerlich. „Du bist doch kein Hampelmann.“

... Fröhlich wolln wir dich begrüßen, guten Morgen, neu ...T...g!“

Die letzten Worte gingen in Gepolter unter. Mit einem Würgen, als hätte sich jemand verschluckt, verstummte der Lautsprecher schließlich.

„Mach schon“, sagte Ralle. „Setz dich endlich.“

Boris´ Bewegungsdrang war so plötzlich abgeflaut, wie er gekommen war. Heute blieb noch genug Zeit, zu trainieren. Mit gekreuzten Beinen setzte er sich neben Ralle auf den Sandboden.

„Die Kiste da oben hat einen Wackelkontakt.“

Ralle machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Wir müssen zum Frühstück.“

Als Ralle keine Anstalten machte, aufzustehen, lehnte Boris sich an den Holzstapel. Durch eine Waldschneise berührte ein Sonnenstrahl sein Gesicht. Er schloss die Augen, es war, als läge wieder eine Hand auf seiner Stirn. Nicht irgendeine Hand. Eine Mädchenhand ...

„Du denkst wohl, ich habe keine Ahnung“, sagte Ralle. „Weil ich fett und schwabbelig bin wie ein Zwergflusspferd. Das denken doch alle.“

„Wovon denn Ahnung?“, fragte Boris vorsichtig.

„Ich weiß schon Bescheid. Über Kalinke. Über die Mädchen und so. Und über dich.“

„Was willst du schon wissen?“

Boris´ Lider zitterten, das angenehme Gefühl von Nähe war verschwunden. Die Bilder der Nacht bedrängten ihn nun auch am Tag: Das unheimliche Haus, all die noch ungeöffneten Räume, sein Hasten über die Treppen und durch die Gänge, der leere Sessel und die Dunkelheit, die ihn nur so viel sehen ließ, dass es keinen Sinn ergab.

„Über mich kannst du gar nichts wissen.“

„Ich weiß schon, dass du die Ulli magst.“ Ralle hüstelte. „Und sie mag dich.“

„Erzähle bloß nicht so was.“

„Ich spinne nicht, Alter. Kein bisschen.“

Boris gab dem Zwang nach, die Augen zu öffnen, sah aber Ralle nicht an.

„Du hast verdammtes Glück, Alter.“ Ralle zupfte einen Grashalm und steckte ihn sich zwischen die Lippen, die aussahen, als hätte er gerade Kirschen gegessen. Der gelbe Halm wippte unregelmäßig. „Ich werde nie solches Glück haben.“

„Glück?“, fragte Boris verwundert. „Wie kommst du denn darauf?“

Ralle rieb sich derb die Stirn, er druckste schließlich: „Jemand will dich.“

„Du meinst - Ali ...?“

„Ach, hör doch auf mit Ali!“

Ralle hob eifrig die rechte Hand mit dem gestreckten Zeigefinger.

„Hör doch mal. Hör doch.“

Vom Essenszelt waren Rufe zu hören.

„Frühstück! - Boris! - Wo bleibst du denn?“

„Sie rufen“, sagte Ralle und stand schwerfällig auf. „Und nach wem rufen sie?“

„Nach uns“, meinte Boris verlegen. „Du hörst es doch.“

„Nicht nach uns.“ Ralle spuckte den Halm weg und schüttelte den trotz seiner Körperfülle zu groß wirkenden Kopf. Um die rotgoldene Haarflut beneideten ihn die Mädchen. Manchmal zupfte eines daran.

„Nach dir rufen sie. Das ist der Unterschied, Alter.“

Boris sagte gequält: „Ach was.“

„Ich denke, wir sollten endlich für Kalorienzufuhr sorgen.“ Ralle wirkte wieder gefasst. „Ich habe mordsmäßigen Kohldampf.“

Boris sprang auf und hielt den Jungen am Arm fest. Er wollte ihm alles erzählen. Vom verschwundenen Vater. Von dem riesigen Haus inmitten der Stadt, rostige Eisenstäbe vor den Fenstern, die herbeigesehnte Stunde, die dann nicht vergehen wollte, der fensterlose Raum, die Mutter ihm gegenüber, ein fleckiger Tisch zwischen ihnen, der unüberwindlich war. Wie sie kaum ein Wort herausbrachten. Von der Zeit im Heim, wo er gar nicht mehr gesprochen hatte. Vom verloren gegangenen Gesicht der Mutter. Von Vera wollte er erzählen, wie gern er ihr fröhliches Schwatzen hören würde, vom Brief, den er ihr geschrieben hatte. Von dieser Ulli wollte er sprechen, wie er sich sehnte, sie zu berühren.

Er sagte eindringlich: „Aber dich will doch auch jemand, Mensch.“

„Ach ja? Wer denn?“ Ralle riss sich los und stieß Boris zurück. „Du vielleicht!“

Boris war zurückgeschreckt. Da stand ihm jemand gegenüber, der war imstande zuzuschlagen, zu treten, mit einem Messer auf ihn einzustechen, ja zu töten. Das dauerte nur eine Sekunde, dann hatte er wieder den bleichen, schwammigen Jungen in seinem Schwulenfrack vor sich.

„Wenn du willst“, sagte Boris von sich selbst überrascht, „wenn du willst, können wir - Freunde sein.“

Ralle stand reglos. Dann schlug er Boris weich auf die Schulter und rief aufgedreht: „Du bist doch ein Arsch. Mann, was bist du doch für ein Arsch!“

Ralle lachte, es schüttelte ihn, er verschluckte sich und konnte sich einfach nicht beruhigen. Boris duckte sich, immer wieder platschte ihm die Hand auf die Schulter.

„He, hallo, also Alter!“

Sie hatten Ali nicht kommen hören. Der sah ungläubig auf die beiden Jungen und sagte dann gereizt: „Darf ich mitlachen?“

Ralle verstummte, steckte die Hände in die Taschen des Bademantels und ging schleppend zum Essenszelt. Boris senkte unter Alis tadelndem Blick den Kopf. Er stammelte: „Das war nur so – ein Blödsinn.“

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Ali ab und verließ mit raumgreifenden Schritten den Waschplatz. Boris beeilte sich, ihm zu folgen. Er hatte das Handtuch auf der Erde liegen lassen, wagte aber nicht umzukehren. Am Zelteingang machte Ali eine unerwartete Kehrtwendung, dass sie zusammenprallten. Der Pionierleiter sagte streng: „Pass auf, mit wem du dich abgibst.“

„Ja, Ali“, versicherte Boris. „Das will ich.“

Die Gewalt des Sommers

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