Читать книгу Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß - Страница 11

8.

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Im Lager fieberten sie dem Boxkampf entgegen. Frau Wieland war in aller Frühe abgereist. Ein Taxi sollte sie abgeholt haben. Keiner sprach darüber. Standke gab beim Morgenappell bekannt, dass er mit der getroffenen Entscheidung, die beiden Rowdys im Lager zu belassen, nicht übereinstimmen könnte. Nach Rückkehr würde er bei der Schulbehörde die „Entgleisung“ sowie die „pädagogisch unwirksame Erziehungsmaßnahme“ zur Sprache bringen. Wenigstens nachträglich sollte die Ordnung wieder hergestellt werden. Ali schwieg dazu. Auch keiner der anderen Betreuer wagte, Dschugaschwili etwas zu entgegnen. Müller war, wie erwartet, nach seinem Aufmucken wieder der in sich gekehrte und meist übersehene Mathelehrer, dessen „Auftritt“ inzwischen etwas Unwirkliches hatte.

Für den Kampf wurden Wetten abgeschlossen. Nur Ulli und ihre engsten Freundinnen setzten ein wenig von ihrem Taschengeld auf Boris. Wenn Boris zu Ausdauerläufen unterwegs war, begleitete Malisch ihn auf einem klapprigen Fahrrad. Was anfangs wie Zufall ausgesehen hatte, bekam bald Regelmäßigkeit und eine gewisse Vertrautheit. Für Boris war der Junge nicht mehr nur Malisch. Er war jetzt Ralle. Das schien nie anders gewesen zu sein.

Ralle sprach auf Boris ein, er solle doch das „Herumrennen“, die geplante „blödsinnige Hauerei“ und die damit verbundene „Beschädigung des Denkapparates“ aufgeben. Er faselte vom „gemeinsamen Durchbrennen“. Sie würden schon einem Kahn finden, auf dem sie anheuern könnten.

„Der Mensch kommt immer ans Ziel. Wenn er wirklich will“, sagte Ralle.

Boris dachte, dass das eher zu Ali passte. Bei dem unbeholfen wirkenden Jungen hörte sich das an, als wäre es auswendig gelernt. Aber er schien davon überzeugt zu sein.

„Das hört man doch immer wieder“, beteuerte Ralle unternehmungslustig. „Wenn da einer was geschafft hat, was für die anderen unvorstellbar war.“

Boris ließ den Jungen von Bananendampfern, James Cook und Inselgruppen im südlichen Pazifik schwärmen. Im Rhythmus seiner Schritte wiederholte er beschwörend, dass er Kalinke besiegen würde. Leben oder Tod. Alles oder nichts. Die Geschichte von „Sandra“ kam ihm in den Sinn. Warum hatte Ali dem Kolkraben den Namen seiner ehemaligen Freundin gegeben? Was der Trainer über Frauen sagte, hatte verächtlich geklungen. Als würden sie den Männern nur im Weg stehen. Ali bemühte sich ja geradezu zärtlich um den Vogel? Manchmal lehnte er mit der Stirn am Käfig. Er bewegte die Lippen, aber es war nichts zu hören. Sandra zupfte mit ihrem starken Schnabel an Alis Haaren. Ihr knarrendes „Kloks“ ging in ein Gurren über, als wäre sie ein Täubchen.

Boris fragte sich auch, warum Menschen so schwer zu begreifen waren? War er sich endlich über einen klar geworden, tat oder sagte der was, das alles wieder durcheinanderbrachte. Vor allem von seinen Eltern konnte er sich kein Bild mehr machen. Der Vater war irgendwo. Im Westen. Zum Feind übergelaufen, wie Ali gesagt hatte. Vielleicht war er ja inzwischen tot. Der Vater war Boris nie nahe gekommen. Am ehesten konnte Boris sich auf seine Nase verlassen. Alles hatte seinen ganz eigenen Geruch. Vom Vater konnte er nicht sagen, wonach der gerochen hatte. Anna roch nach Küche, und sonntags, wenn sie eines ihrer zwei „besten“ Kleider anhatte, nach „4711“, nicht irgendein „Kölnisch Wasser“, sondern das von drüben, das sie nach sparsamem Gebrauch gleich wieder zwischen ihrer Wäsche verwahrte. An Bruno haftete der Geruch von schwerem Tabak und Maschinenöl. Mit dem Verlust des Bildes von seiner Mutter war auch ihr Duft verweht. Manchmal aber wurde er von ihm so überwältigt, dass er sie ganz in seiner Nähe vermutete. Hatte die Mutter nicht nach Blüten, die sie im Frühling sammelte, über den Sommer trocknete und für Tees und zur Herstellung von Cremes verwendete, geduftet? Immer wieder einmal, wie im Vorübergehen, fühlte er sich von ihr berührt. Das war wie ein Abschiednehmen, das ihn wehmütig zurückließ.

Die Veränderbarkeit der Menschen verwirrte ihn und ließ gerade aufkeimendes Vertrauen wieder absterben. Nur bei den Großeltern gab es keine Veränderungen. Sie blieben, wie sie waren. Ihnen konnte er nahe sein, ohne fürchten zu müssen, verletzt zu werden. Auch Ali war, wie er war. Was er sagte, das stimmte. Was er versprach, das hielt er. Ein Schüler aus der Zehnten, der als Matheass galt, hatte einmal gesagt: „Ali ist eine feste Größe, mit der du rechnen kannst und immer zu einem todsicheren Ergebnis kommst.“

Nach einem Trainingslauf setzte Boris sich an den Rand der Steilküste. Ralle setzte sich neben ihn und schwadronierte weiter von „Abhauen“ und „fernen Inseln“, da unterbrach Boris ihn: „Was sagst du eigentlich zu Ali?“

„Zu Ali? Was soll ich da sagen?“

„Was hältst du von ihm?“

Boris konnte sich nicht erinnern, dass Ralle irgendeinmal in die allgemeine Begeisterung für Ali eingestimmt hatte. Überhaupt war der teigige Junge, der weder ins Dorf noch hierher zu passen schien, mit seiner Meinung zurückhaltend. Obwohl er einer der klügsten in der Klasse war, hörten sich seine Antworten wie Fragen an. Als suchte er weitere Antworten. Scheinbar ohne Ende. Wenn er aber einen Entschluss gefasst hatte, hielt er hartnäckig daran fest. Im Matheunterricht verblüffte er den Lehrer mit eigenen Rechenwegen. In Erdkunde kannte er sich in den fernsten Ländern besser aus als in seiner nächsten Umgebung.

„Von Ali?“, wiederholte Ralle. Er griff in die Speichen des alten Rades, wie um ihre Spannung zu prüfen.

„Ja, von Ali“, beharrte Boris. „Genau.“

„Willst du es wirklich wissen?“

„Darum frage ich ja.“

„Na ja.“ Über Ralles schlaffes Gesicht huschte überraschend der Ausdruck bäuerischer Schläue. Wenn der Großvater nicht mit der Sprache rausrücken wollte, guckte der auch so.

„Ali ist schon in Ordnung – wenn man es so sehen will.“

„Wie denn sehen?“

„Hm. So - von außen eben.“

„Und wie siehst du es von innen?“

„Ich sage doch, Ali ist schon in Ordnung. Solange ...“

„Solange?“

„Solange man seiner Meinung ist.“ Ralle stieß das Vorderrad an, dass es unrund und schleifend drehte. „Ich meine, er ist schon ein Kumpel. Wenn du tust, was er sagt. Sonst kann er verdammt eklig werden.“

„Bist du denn nicht seiner Meinung?“

Boris fragte sich, ob er selbst einmal nicht mit Ali übereingestimmt hatte? Er sah den Pionierleiter eine charakteristische wegwerfende Handbewegung machen. Wie immer, wenn er Unsicherheit spürte.

„Manchmal schon“, antwortete Ralle. „Aber dann auch wieder nicht.“

„Wann nicht?“

„Kannst du dich an Henner Matuschke erinnern?“

„Geht so.“

Matuschkes waren ins Dorf gezogen, als Boris erst ein paar Tage bei den Großeltern wohnte und mit Lerchau noch nicht vertraut war. Matuschkes hatten nur kurze Zeit im Neubaublock am Dorfrand gewohnt. Henner hatte er als einen ungewöhnlich kräftigen und entschlossen wirkenden Jungen in Erinnerung. Er wurde vom draufgängerischen Kalinke und selbst von den älteren Schülern als „der Stärkste“ akzeptiert.

„Ali wollte Matuschke für seine Boxstaffel haben“, erinnerte Ralle. „Er brauchte dringend einen fürs Schwergewicht. Matuschke hat auch gleich mitgemischt. Er war ein Riesentalent oder so was. In seinen Kämpfen hat er alle zu Brei geklopft. Ali hat gesagt, dass Henner ihm nicht nur ein Boxkamerad sei, sondern ein Freund. Ein unzertrennlicher Kampfgenosse.

Boris hatte damals den Kopf voll wegen der Mutter. Er fürchtete, dass sie ihn wieder ins Heim stecken könnten.

„Ich sage doch, dass Ali ein großartiger Trainer ist.“

„Dann wollte Matuschke mit einmal nicht mehr boxen“, erzählte Ralle unbeirrt weiter. „Das war gerade vor irgendeiner beknackten Meisterschaft. Ich schätze, er hatte keine Lust mehr, Veilchen zu verteilen und welche zu kassieren.“

„Ja und?“

„Ali hat Überzeugungsarbeit geleistet. Wie er das eben so macht. Ganz Lerchau hat es mitgekriegt. Alle wollten, dass Matuschke das Dorf berühmt macht. Ali meinte, dass der Einzelne nichts zählt, aber das Kollektiv alles. Und wenn Matuschke das Kollektiv im Stich lässt, ist er ein verdammter Verräter. Ein Handlanger des Klassenfeindes. Ali erklärte, bat, drohte, brüllte - aber Matuschke grinste nur vor sich hin und schüttelte die zerbeulte Birne. Als der Kleiderschrank sich dann eine Zigarette gönnte, da ist Ali ausgerastet.“

„Wie denn ausgerastet?“

„Es war auf dem Thälmannplatz, weißt schon. Eine Menge Leute kamen dort manchmal zusammen. Der Treff war beliebter als der Jugendklub in der alten Baracke neben der Schweinemast, wo es nach Sau stinkt, dass man Asthma kriegt. Ali war gerade auf dem Weg zum Training. Er wollte Matuschke gleich mitnehmen. Doch der schüttelte die Abrissbirne und paffte an seiner Kippe, bis seine Fingerspitzen qualmten.“

Boris drückte die Hände in die Hosentaschen.

„Alle haben es sehen können: In Ali kochte es gewaltig. Er drängte Matuschke die Boxhandschuhe auf und zog sich selbst welche über. Ali sprach kein Wort mehr. Er atmete kurz und schniefend wie ein Stier, bevor der einen auf die Hörner nimmt. Sein Dachstuhl war rot, als wäre da drin Feuer ausgebrochen. Auf der Stirn sind ihm zwei Beulen gewachsen.“

Boris sprang auf und lief zum äußersten Rand der Klippen.

„Ali hat die Maße eines Boxrings abgeschritten und mit den Füßen Linien gezogen.“

„Schrei doch nicht so“, forderte Boris gepresst.

„Immer mehr Leute sind dazugekommen. Halb Lerchau wollte sich das ansehen. Ali bestimmte Kalinke zum Ringrichter. Und dann hat er Matuschke, der überhaupt nicht mitbekam, was Sache war, fürchterlich verprügelt.“

Boris stieß mit der Fußspitze einen Stein aus der Grasnarbe, hob ihn auf und schleuderte ihn zum Meer hin. In der Mitte des Strandes setzte er auf, machte noch einen Hüpfer zur Seite und verlor sich unter anderen Steinen.

„Das Riesenbaby begann schließlich zu Flennen und drückte sich die Handschuhe aufs Gesicht. Matuschke, groß und stark wie ein Ochse, stand da und flennte wie ein Dreikäsehoch aus der dritten Klasse.“

Ralle sprang auf, behänder, als man es ihm zugetraut hätte.

„Aber Ali hat sich nicht beruhigen können. Er hat Matuschke angeschrien, dass er verflucht noch mal ein Mann sei und sich wehren soll. Er werde ihn fertigmachen, so oder so. Wennemann und Schmidtke Ralf kamen von der Zementbude rübergerannt. Diese zwei Bomber, die bei den alten Herren in der Verteidigung stehen und alles wegsäbeln, was ihnen vor die Füße kommt. Selbst die hatten Mühe Ali festzuhalten. Ali hat sich dann doch losgerissen, hat vor Matuschke ausgespuckt und ist auf seinem Rennrad davongesprintet.“

„Warst du dabei?“ Durch Boris ging ein dröhnendes Pochen, dem er kaum widerstehen konnte.

„Ich war dabei“, sagte Ralle fest. „Fast alle Lerchauer waren dabei.“

„Ich weiß davon nichts.“

Nach und nach fiel Boris das Geschehen wieder ein. Er war an dem Tag mit dem Fahrrad und dem kleinen Hänger zum Wochenendeinkauf unterwegs gewesen und hatte durch das Schaufenster des Dorfkonsums zugesehen. Es hatte ihn damals nicht weiter berührt, er kannte die Leute ja kaum. Er schluckte, als Matuschke ihm nun nahe rückte. Dem riesigen Jungen rannen die Tränen über das Gesicht, das grau und grob war.

„Keiner wollte davon was wissen“, sagte Ralle. „Ali ist ja einer von ihnen. Er ist ihr Star. Sogar Dschugaschwili hatte durchblicken lassen, dass er für den Pionierleiter einsteht. Er hat gesagt: ´Fahnenflüchtige sind tote Leute, die kein Grab verdient haben.´ Das habe ich mir genau gemerkt.“

Boris wusste nichts zu entgegnen. Auch Ralle schwieg nun. Vom Meer her kam Wind auf, kühl und stechend, der Himmel war noch wolkenlos, aber die Sonne hatte mit einmal an Kraft verloren.

Boris setzte sich auf den Gepäckträger und ließ sich von Ralle zum Lager zurückfahren. Er wusch sich, wechselte die Sachen, meldet sich bei einem Betreuer ab und ging ins Dorf. An dem weit und breit einzigen Kiosk, wo Bockwurst, Eis, Angelzeug, Muschelschmuck und allerlei Krimskrams zu haben waren, kaufte er Briefpapier. Hinter dem Verkaufshäuschen setzte er sich auf einen Bierkasten und schrieb.

Liebe Vera!

Er musste nicht mehr nachdenken, er hatte sich entschieden, einfach so.

Die Gewalt des Sommers

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