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2. Der Aufruf, die „Zeichen“ zu begreifen

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Zu den dinglichen Zeichen der Welt kommt in der Sprechweise des Koran die Verkündigung der Gesandten und Propheten6 ebenfalls mit „Zeichen“, wenn auch eigener Art: der expliziten Rede, der vorgetragenen „Schrift“. Beide Formen von „Zeichen“ gehören für das gläubige Verstehen zusammen. (In früher islamischer Zeit schon wird dieses Wort – ʾāya – zum Begriff für einen Koran-vers.7) Oft ist nicht genau auszumachen, ob der Koran von „Zeichen“ als Phänomenen der Welt spricht oder als Textpassagen. Die prophetische Verkündigung bezieht sich auf sie in beiderlei Verständnis:

Auch haben wir unter euch einen Gesandten aus euch gesandt, der euch unsere Zeichen vorträgt, euch läutert, euch die Schrift und die Weisheit lehrt und was ihr nicht wusstet. (2,151)

Dabei treten die Zeichen verbaler Art nicht einfach als eine zusätzliche Sorte neben die ihnen vorausgehenden, die geschöpflich-dinglichen, sondern sie verweisen auf diese zurück und rufen sie, nachdem sie immer wieder vergessen werden, mahnend in Erinnerung. Die prophetischen Reden haben damit viel deutlicher und eindringlicher als die Zeichen der Natur und Geschichte appellativen Charakter, nicht nur aufgrund ihrer prinzipiell sprachlichen Form, sondern vor allem durch ihre rhetorische Eindringlichkeit.8

Ein typisches Beispiel dafür ist die 55. Sure. Insgesamt 31-mal ruft sie mit monoton wiederholter, litaneiartiger Frage ihre Hörer auf, der fürsorglichen Taten und Machterweise Gottes zu gedenken, von der Erschaffung der Welt bis zu den Belohnungen und Strafen im Endgericht9:

Der Allerbarmende …

Die Erde hat er für die Geschöpfe angelegt …

Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?

Er hat den Menschen aus Ton erschaffen wie Töpferware …

Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?

Der Herr des Ostens und des Westens.

Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?

Er hat die beiden Meere strömen lassen …

Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?

… … …

Welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?

Voll Segen ist der Name deines Herrn, des Erhabenen und Ehrwürdigen. (55,1–78)

So stehen die geschaffenen „Zeichen“ der Welt und die gesprochenen des Koran in innerster Wechselbeziehung: Der Koran gewinnt von der Schöpfung her seinen wesentlichen Gehalt; die Schöpfung ihrerseits wird durch den Koran ins Bewusstsein gerufen.

Diese Struktur der Offenbarung entspricht dem Verhältnis von Gottes „Tat und Wort“, von „Werken“ und „Lehre“, wie es innerhalb christlicher Theologie das Zweite Vatikanische Konzil formulierte: „Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind; die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten, die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten.“10 Diese Sicht des Zweiten Vatikanums löste in der katholischen Theologie eine ältere ab, nach der Gottes „Wunder“ stichhaltige Argumente waren für seine Offenbarung, eindeutige Sachverhalte, beweiskräftige Belege, nicht Zeichen, die selbst noch angewiesen sind auf ein gläubig deutendes Wort. Die Konzilsaussage versuchte, der neuzeitlich veränderten Situation des Glaubens, der Mehrdeutigkeit unserer Erfahrungen aufgrund der uneinheitlichen Verständnisvoraussetzungen, zu entsprechen. Die alte apologetische Gewähr wurde hier also verabschiedet. Eine solche Absicht liegt selbstverständlich dem Koran fern; er kommt nicht von heutigen Glaubwürdigkeitsproblemen her. In seiner Sicht werden die Menschen durch die Wechselbeziehung der Zeichen von Werk und Wort vor die scharfe Alternative gestellt, zu glauben oder dem Unglauben zu verfallen. Wer sich nicht auf die klaren Zeichen einlässt, dessen Denken verstrickt sich in Phantasien und verfehlt die Wirklichkeit:

Sie wissen aber davon nichts, vermuten nur. (45,24)

Die Vermutung aber nützt gegen die Wahrheit nichts. (10,3611)

Das verkündete Buch, der Koran, soll den leicht verständlichen, aber immer wieder unverstandenen Zeichen der Welt ihre rechte Lesart sichern. Deshalb werden seine Hörer und Leser fortwährend aufgerufen:

Versteht ihr denn nicht? (2,4412)

Lasst ihr euch denn nicht mahnen? (6,8013)

Wollt ihr über Gott sagen, was ihr nicht wisst? (7,28; 10,68)

Was ist denn mit euch? Wie entscheidet ihr? (10,3514)

Hört ihr denn nicht? … Seht ihr denn nicht? (28,71f15)

Wollt ihr denn nicht gottesfürchtig sein? (7,6516)

usw.

Was mit den Augen sichtbar, was mit den Ohren hörbar ist, müsste demnach zugleich in die Herzen eingehen. In dieser Sicht versperren sich dem nur Menschen, die in ihrem Denken und Handeln verderbt sind. Auch das Verständnis der Schrift ist wie das der Welt nicht allein von den äußeren Vorlagen her schon gegeben; hinzu kommt die Kraft des Gesagten, das Bewusstsein der Menschen zu bestimmen und ihnen einzuleuchten: Der Koran besteht

aus klaren Zeichen im Herzen derer, denen das Wissen gegeben worden ist.

Nur die Unrecht tun, leugnen unsere Zeichen. (29,49)

Wie machtvoll Gottes Wort ist, wird jedem Hörer im drastischen Vergleich vor Augen gestellt:

Wenn wir diesen Koran auf einen Berg hinabgesandt hätten, hättest du den aus Furcht vor Gott niedersinken und sich spalten sehen. (59,21)

Wenn das vom Propheten verkündete Wort dennoch abgelehnt wird, widerfährt ihm nur derselbe Unverstand und Unwille wie schon aller Offenbarung zuvor:

Keines von den Zeichen ihres Herrn ist zu ihnen gekommen, ohne dass sie sich

von ihm abgewandt hätten. (6,4; 36,46)

In der Konsequenz dieser Erfahrungen geht der Blick des Koran auch in die Zukunft bis zu den Zeichen der Endzeit. Diese werden schlechterdings unabweisbar sein, da sie die ganze Wirklichkeit des Menschen umstellen und einnehmen werden:

Wir werden sie unsere Zeichen sehen lassen an den Horizonten und bei ihnen

selbst (oder: in ihnen), damit ihnen klar werde: Es ist die Wahrheit. (41,53)

Der Koran schafft in seiner eigenen Sicht also eine Situation der Entscheidung, wie sie prinzipiell schon von der Schöpfung her gegeben ist und die Menschheit teilt in Zustimmung und Leugnung, in Glaube und Unglaube, alle Zeiten hindurch bis hin zum Gericht am Jüngsten Tag. Jetzt aber vergegenwärtigt der Koran den Ernst dieser Lage in nachdrücklicher Rede.

Anstoß erregt bei vielen Zeitgenossen Mohammeds, dass er im Unterschied zu anderen Propheten nur Zeichen sprachlicher Natur, eben den Koran, vorträgt und nicht auch materialisierte Wunder wirkt, wie etwa Mose oder Jesus. Bloße Rede reicht für sie, wo es um Gott geht, nicht hin. Da müsste schon Ungewöhnlicheres geschehen:

Sie sagen:

„Warum sind keine Zeichen von seinem Herrn auf ihn herabgesandt worden?“

Sag:

„Die Zeichen stehen bei Gott. Ich bin nur ein deutlicher Warner.“

Genügt es ihnen nicht, dass wir die Schrift, die ihnen vorgetragen wird, auf dich hinabgesandt haben?

Darin sind Barmherzigkeit und erinnernde Mahnung für Leute, die glauben. (29,50f)

Die nicht Bescheid wissen, sagen:

„Warum spricht nicht Gott zu uns oder kommt nicht zu uns ein Zeichen?“

So redeten schon die vor ihnen. Ihre Herzen gleichen einander.

Wir haben die Zeichen klargemacht für Leute, die überzeugt sind. (2,118)

Dass dieses Buch den Menschen schlechthin genügen sollte, wurde in der Folge auf zweierlei Weise verstanden: zum einen in der Zuversicht, dass der Koran die Welt umfassend, gar vollständig darlege, zum andern als eine Mahnung zur Selbstbescheidung.

Die erste Tendenz setzt bei Gottes Aussage an:

Wir haben in der Schrift nichts außer Acht gelassen. (6,3817)

Ursprünglich ist hierbei vielleicht nicht an den Koran gedacht, sondern an das himmlische Buch, das alle Gegebenheiten der Welt verzeichnet; doch wird von dieser Aussage her auch der Koran als eine Schrift angesehen, in der grundsätzlich schon alles, was für das rechte Leben der Menschen erheblich sein könnte, verzeichnet steht: Wie Gott den Menschen überlegen ist, so der Koran allen Büchern menschlicher Kultur; wie Gott die Fülle der Wahrheit ist und von menschlichem Sinnen und Dichten nicht bereichert werden kann, so ist in diesem Buch alle Weisheit der Welt zu vernehmen, jedermann offenkundig. In der Folge vertreten heutzutage muslimische Stimmen weithin die Überzeugung, dass der Koran sogar schon moderne wissenschaftliche Erkenntnisse vorwegnehme wie etwa die der Erdgeschichte, der Atomkräfte, der Evolution der Arten oder der Entwicklung von Embryo und Fötus.18

Die dominierende Geltung, die man dieser einen Schrift zuerkannte, führte zu einer Anekdote, die vom Mittelalter bis in die Neuzeit, vom Orient bis in den Westen verbreitet wurde: Nach der Eroberung Alexandriens im Jahr 642 sei der Kalif ʿUmar von seinem General gefragt worden, wie mit der mächtigen und berühmten Bibliothek zu verfahren sei; darauf habe ʿUmar lapidar entschieden: „stimmen die Bücher mit dem Koran, dem Worte Gottes, dann sind sie überflüssig und brauchen nicht erhalten zu werden; stimmen sie nicht, dann sind sie gefährlich; lasse sie also verbrennen.“19 Historisch ist diese Geschichte nicht haltbar.20 Auch entsprach der muslimische Umgang mit den kulturellen Werten eroberter Gebiete und Völker im Allgemeinen nicht dieser Einstellung. Dennoch trifft die Anekdote in ihrer Überzeichnung ein für das islamische Verständnis des Koran wichtiges Moment: Er ist nicht Buch unter Büchern, sondern das Buch schlechthin. Er teilt nicht Wissen mit, das zu anderem hinzukäme und von ihm her begrenzt würde, sondern umfasst „das Wissen“ und „die Wahrheit“ unüberbietbar, die ganze Menschheit verpflichtend.

In eine andere Richtung weist die zweite Tendenz, den Koran als das an „Zeichen“ unübertrefflich bedenkenswerte Buch zu sehen. Sie setzt an den rätselhaften Elementen an, die angesichts des ständigen Aufrufs, die klaren Mitteilungen zu begreifen, umso geheimnisvoller erscheinen, sich dem Verständnis hartnäckig entziehen und schon zu vielen Spekulationen Anlass gaben. Eine Reihe von Suren beginnt mit einzelnen Buchstaben des arabischen Alphabets:

Alif lām mīm.

Das ist die Schrift – an ihr ist kein Zweifel – … (2,1f21)

Was immer die Bedeutung dieser Sigel ursprünglich gewesen sein mag, entscheidend ist, dass sie zum Grundbestand des Koran zählen, obwohl sie sich auf keinen Sinn festlegen lassen. Deshalb sahen schon manche frühe Kommentatoren in ihnen den Beleg dafür, dass Gottes Wort alles menschliche Verstehen übersteigt. Die Nichtdeutbarkeit erhielt selbst Bedeutung: Sie verwehrt die Vorstellung, alles im Koran müsste verständliche Mitteilung sein. Im Gegenteil mutet er hier den Hörern und Lesern in ausdrucksstarker Redeeröffnung Elemente zu, die sich dem Verständnis entziehen, damit aber auch auf ihre Weise dazu herausfordern, auf das dunkel Gesagte zu reagieren. So stellen diese Buchstaben den extremen Fall der den Koran durchziehenden und von ihm selbst eingeräumten Mehrdeutigkeit dar.22 Wer solche Partien nur historisch danach befragt, was sie einmal ursprünglich gemeint haben mögen, wird ihnen oft keinen hinreichenden Sinn mehr abgewinnen können und sie dem Koran als Defizite ankreiden. Aber er übersieht dabei, dass Bedeutung und Bedeutungslosigkeit entscheidend von denen ausgemacht und zugesprochen werden, die das Gesagte aufnehmen und mit ihm umgehen.

Der Koran

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