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c. Die endgültige Schrift

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Indem Gottes Wort im Koran der ganzen Welt gegeben ist, ist es nach muslimischem Glauben zugleich vor jedem Einfluss menschlicher Veränderungen und Verderbnisse geschützt, uneingeschränkt für alle Zeiten gegenwärtig.

Wir haben die erinnernde Mahnung hinabgesandt und wahren sie. (15,9)

Mit dem Koran ist demnach Gottes Offenbarung zu ihrem Abschluss gekommen und damit auch die Folge der vielen Gesandten. In diesem Sinn versteht die islamische Schriftauslegung die Bezeichnung Mohammeds als

das Siegel der Propheten. (33,40)

Der metaphorische Begriff, der zum ersten Mal bei dem frühchristlichen Theologen Tertullian (gest. nach 220) zu finden ist, von diesem auf Christus bezogen83, lässt zum einen daran denken, dass ein Siegel unter ein Dokument gesetzt wird zur rechtskräftigen Beglaubigung. In dieser Bedeutung verweist er im Koran auf die nachdrücklich betonte Funktion Mohammeds, die vorausgehenden Gesandten, insbesondere die Propheten Israels, und ihre Botschaft zu bestätigen.84 Zum anderen aber dient ein Siegel auch dazu, einen Text amtlich abzuschließen, ihn vor allen weiteren Zusätzen zu sichern, das Dokument zu „ver-siegeln“. In diesem Sinn vor allem wird der auf Mohammed bezogene Begriff in der späteren Schriftauslegung verstanden: Mit dem Koran erübrigen sich alle weiteren Offenbarungen; er ist das Gottesbuch schlechthin. Diese Bedeutung konnte nach islamischer Überzeugung bislang keine der übrigen Schriften erreichen, auch nicht in ihrer ursprünglichen, authentischen Gestalt. Sie waren vorläufig. Von ihnen allen hebt sich der Koran trotz der gemeinsamen Grundbotschaft im Anspruch seiner endgültigen Verbürgtheit ab als die letzte der Mitteilungen Gottes:

sie ist eine mächtige Schrift,

an die der Trug weder von vorn noch von hinten kommt, eine Herabsendung von einem Weisen und Lobenswürdigen. (41,41f)

Derart gefestigt, ist sie auch ein wehrhaftes Instrument gegen alle Irreführung, entsprechend der energischen Zusage Gottes:

Aber nein, wir werfen die Wahrheit gegen den Trug, die zerschmettert ihn und da geht er zugrunde. (21,1885)

Angesichts solcher Konfrontation garantiert der Koran das Überlegenheitsbewusstsein des Islam, wie es sich in einer der spätesten Suren ausdrückt:

Wer nach einer anderen Religion als dem Islam – der Gottergebenheit – trachtet, von dem wird sie nicht angenommen werden und im Jenseitig-Letzten gehört er zu den Verlierern. (3,85)

Gewiss gilt auch hier wiederum86, dass die Bedeutung von „Islām“ nicht auf die historische, mit Mohammed einsetzende Religionsgemeinschaft eingeschränkt werden darf, dass der Begriff vielmehr darüber hinaus jede wahrhafte „Hinwendung“ zu Gott meint, da im Koran doch auch Abraham und Ismael (2,128), Josef (12,101) oder die Jünger Jesu (5,111) „Muslime“ heißen, Gläubige, die „sich (Gott) zuwenden“, „sich (ihm) ergeben“. Aber je deutlicher sich die Glaubensgemeinschaft, die in der Gefolgschaft Mohammeds stand und sich auf den Koran als letzte Offenbarungsurkunde gründete, als eine eigene Religion neben den übrigen konstituierte, desto intensiver grenzte sie sich auch diesen gegenüber ab als „der Islam“, die letzte legitime Religion, in der sich alle vorausgehenden aufgehoben wissen müssten.

Die Annahme, dass der Koran die prägnant gesetzte und gesicherte Schrift ist, können Muslime von literarischen und geschichtlichen Sachverhalten gestützt sehen. Er ist trotz aller formalen und thematischen Vielfalt ein erstaunlich geschlossenes und homogenes Buch87, vor allem im Vergleich zur Bibel. Enthält diese schriftliche Zeugnisse aus etwa 1000 Jahren, mit Traditionen, die teilweise von ungewisser Herkunft sind und in unermessliche Zeiten zurückreichen, von Autoren, deren Namen vielfach unbekannt bleiben oder fingiert sind, in der Zahl nicht überschaubar, so wurden demgegenüber die einzelnen Partien des Koran – nicht nur nach muslimischem Glauben, sondern auch nach der bislang vorherrschenden Überzeugung der nichtmuslimischen Koranwissenschaft – innerhalb von wenig mehr als zwei Jahrzehnten durch einen einzigen Propheten verkündet, in fortwährender Rezitation bewahrt, wahrscheinlich schon zu dessen Lebzeiten wenigstens teilweise schriftlich fixiert88 (die Tradition nennt als Mohammeds Schreiber Zayd ibn Thābit), danach auf verschiedene Initiativen hin gesammelt. Nachdem erhebliche Textvarianten erkennbar geworden waren, soll das Buch auf Veranlassung des dritten Kalifen ʿUthmān (644–656) in seinem heutigen Umfang normiert und so zu kanonischer Gültigkeit gebracht worden sein.

Doch sind alle (untereinander teilweise unstimmigen) Nachrichten über diese Vorgänge erst in Werken verzeichnet, die in ihrer gegenwärtigen Form wenigstens 150 bis 200 Jahre später zustande kamen. Den wissenschaftlichen Untersuchungen tun sich hier viele Fragen auf, die mit historischen Indizien immer nur hypothetisch beantwortet werden können. Es bleibt genügend Grund für alternative Erklärungen der Entstehung des Koran, die – mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Verfahren und Ergebnissen – auf bisher vernachlässigte Gesichtspunkte hinweisen, neue methodische Wege einschlagen und nach angemesseneren Traditionsmodellen suchen. Die dabei vertretenen Positionen nehmen ein breites Spektrum ein: Auf der einen Seite steht die Theorie, dass der Koran im Gegensatz zur islamischen Überlieferung auch als Buch schon zu Lebzeiten Mohammeds vorgelegen habe; die traditionelle Annahme einer erst späteren Sammlung sei eine tendenziöse Fiktion der muslimischen Rechtsgelehrten und Exegeten, mit der sie ihren eigenen Interpretationen mehr Spielraum verschaffen wollten.89 Dem ganz entgegen ziehen andere Wissenschaftler aus ihren Untersuchungen das Fazit, dass der Koran in wesentlichen Hinsichten nicht auf die Verkündigung durch Mohammed und deren baldige Sammlung zurückgehe, sondern das Produkt einer weitreichenden Traditionsgeschichte sei, die Texte unterschiedlicher Herkunft zusammengeführt habe, darunter umfangreiche Teile aus christlichem Gottesdienst (so vor allem, mit gegensätzlichen Vorstellungen, Günter Lüling und Christoph Luxenberg)90, und erst etwa zwei- bis dreihundert Jahre nach Mohammeds Tod zum Abschluss gekommen sei (so nach John Wansbrough u.a.)91. Als Grund für diese Datierung wird in erster Linie die späte Berücksichtigung des Koran bei den Rechtsgelehrten angeführt. Doch bleiben die daraus gezogenen literarkritischen Schlüsse in vielem ungesichert.

Gegen die Theorie einer späten und anonymen Entstehung des Koran aus unterschiedlichen Quellen verschiedener Milieus lassen sich triftige Argumente anführen, ohne dass sie die historischen Problematisierungen beseitigen könnten: Erstens sprechen die originären Beziehungen des Koran zum Kult für eine Überlieferungskonstanz, die zwar textuelle Variationen, Unsicherheiten, Anreicherungen und Verluste in gewissem Spielraum zulässt (nicht erst im Geschriebenen, sondern schon im Rezitierten), aber keine völligen Umbrüche mit Neukomposition der eigenen Herkunftsgeschichte (wobei eine derartige Fiktion erstaunlich unauffällig zustande gekommen sein müsste, unter Verschleierung sowohl der Vorgänge wie der involvierten Institutionen92). Gegen die Produktion des Koran in einer inkognito-kreativen Traditionsgeschichte spricht zweitens, dass er oft ganz knapp auf Ereignisse historischer und biographischer Art anspielt, dabei nur denen verständlich gewesen sein kann, die mit diesen Elementen eigene Kenntnisse verbanden, also nicht auf gelehrte Erläuterungen angewiesen waren. Der Koran lässt sich so begreifen als „eine Art von ‚laufendem Kommentar‘ zur Situation – der sozialen, religiösen, politischen und manchmal sogar häuslichen –, in der sich Mohammed selbst sah.“93 Eine nachträgliche Kompilation älterer Texte dieser Art zu einem neuen Werk wäre redaktionell recht unbedacht verfahren. Zudem fehlen im Koran Elemente, die sich deutlich auf Ereignisse nach dem Tod Mohammeds beziehen (wie man in den Evangelien etwa ein Wort Jesu findet, das auf die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. hinweist, Mk 13,2 par.).94 Drittens kommt den traditionell-islamischen Versionen der Entstehung des Koran innere Plausibilität auch dann noch zu, wenn sie in Einzelmomenten mythische Züge tragen, Eigentümlichkeiten fiktionaler Gründungsurkunden, dabei untereinander nicht widerspruchsfrei sind und nicht insgesamt als faktengetreu genommen werden können. Die Rolle des Propheten Mohammed ist eine so gewichtige, für die Glaubensgemeinschaft originäre Größe, dass sie auch historisch nicht zu schnell beiseitegeschoben werden darf. Wenn im Koran da und dort disparate Traditionsstücke zusammengeführt erscheinen, könnte diese Komposition unter Aufnahme älterer Partien auch schon auf Mohammed selbst und sein Umfeld zurückgehen. Alles in allem kann sich demnach, wer verständnisvolle Zugänge zum Koran der Muslime sucht, in den Grundzügen an die islamischen Überlieferung halten, auch wenn er deren dogmatische Voraussetzungen und Selbstsicherheit bei historischen Fragen nicht teilt.

Allerdings findet man auch in der islamischen Tradition die Ansicht, dass einige Teile des heutigen Koran nicht zu seinem ursprünglichen Bestand gehört haben sollen (vor allem die beiden letzten Suren, die Beschwörungsformeln darstellen95) oder einzelne von Mohammed verkündete Verse ausgelassen worden seien, insbesondere der zur Steinigung der Ehebrecher, eine Strafbestimmung, die ursprünglich im Koran gestanden habe (und auf jeden Fall gültig ist).96 Von schiitischer Seite wurden Vorwürfe erhoben, dass im Streit um die rechte Nachfolge Mohammeds bei der Sammlung des Koran bestimmte Aussagen unterdrückt worden seien, die zugunsten von Mohammeds Vetter und Schwiegersohn Ali gesprochen hätten.97 Doch sieht man die Authentizität des Koran von solchen Annahmen und Erörterungen nicht betroffen.

Nicht Bestandteil des Koran im strengen Sinn sind die Namen der Suren98; sie sind spätere, uneinheitliche Beigaben des geschriebenen Textes, werden also nicht rezitiert. Oft schließen sie sich an ein einzelnes Wort der jeweiligen Sure an, das in ihr noch nicht einmal eine herausragende Bedeutung haben muss. (Die etymologische Herkunft des Wortes „Sure“99 aus dem Hebräischen – „Reihe“ – oder Syrischen – „Schrift“, „Text“ – ist umstritten.)

Von der ersten Sure abgesehen, einem einleitenden Gebet (al-fātiḥa: Die Eröffnung), bildete man die Reihenfolge ungefähr nach der abnehmenden Länge, so dass die kürzesten Suren, die auch zu den ältesten gehören, am Ende stehen. Indem die Redaktion ein derart äußerliches Ordnungskriterium wählte100, gab sie zugleich zu erkennen, dass inhaltliche Bewertungen in dieser Hinsicht keine Rolle spielen sollten.

Im Wesentlichen dürfte die redaktionelle Arbeit am Koran ungefähr in der Mitte des siebten Jahrhunderts abgeschlossen gewesen sein. Zur Sicherung des Korantextes musste man aber außerdem für das Arabische eine Schriftform entwickeln, mit der man die ursprüngliche Vieldeutigkeit des Geschriebenen überwinden konnte. In den ältesten Handschriften fehlen nicht nur Zeichen für die kurzen Vokale, sondern auch Unterscheidungsmerkmale (diakritische Zeichen) für eine Reihe verschiedener Konsonanten. Theoretisch öffnet dies den Lesern Tür und Tor zu unabsehbar zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungen. Die Etablierung eines gesicherten Korantextes dauerte bis ins frühe zehnte Jahrhundert. Und selbst danach blieben noch unterschiedliche „Lesarten“101, insbesondere sieben geringfügig voneinander abweichende Versionen, die sich aufgrund der Rezitationspraxis herausgebildet und noch einmal in je zwei Überlieferungen differenziert hatten.102 Von diesen Versionen haben sich vor allem zwei durchgesetzt, eine im Osten der islamischen Welt (die 1924 in Kairo als Standardausgabe publiziert wurde) und eine im Westen.103

Auch diese Fixierung des geschriebenen Textes gibt (wie die Kritik Christoph Luxenbergs gezeigt hat104) Anlass zu kritischen Fragen und Untersuchungen, kann sie doch Lesenormen durchgesetzt haben, die nicht den ursprünglichen Vortragsweisen und deren Bedeutungen entsprechen. Aber auch hier ist wieder zu berücksichtigen, dass der Koran als Lektionar in eine Rezitation eingebunden war, der die Schrift als Erinnerungsstütze diente. Mit umfassenden Erinnerungsverlusten und einer Flut nach Laut und Bedeutung neuer Texte ist dabei nicht zu rechnen. Wir haben in dieser Hinsicht keinen triftigen Grund, davon abzugehen, dass dieses Buch im Großen und Ganzen (trotz aller vorliegenden und darüber hinaus noch denkbaren Varianten im Detail) die authentischen, von Mohammed vorgetragenen Texte enthält.

Aus welcher Zeit die ältesten auf uns überkommenen Handschriften stammen, ist bislang nicht sicher ermittelt. Einige mit Teilen des Koran dürften bis in die zweite Hälfte des siebten Jahrhunderts, die Zeit der Umayyaden (661–750), zurückreichen.105 Eindeutig zu datieren sind Münzen, die der Kalif ʿAbd al-Malik ibn Marwān (685–705) in einer einschneidenden epigraphischen Reform (696) anstelle der Abbildung byzantinischer Herrscher mit Worten des Koran, unter anderem einem Teil der 112. Sure, prägen ließ.106 Sie sind die ältesten gesicherten Textzeugen, natürlich von sehr geringem Umfang. Aus derselben Zeit stammen auch einige der in Abgrenzung zum christlichen Bekenntnis formulierten und mit Koranzitaten und -paraphrasen durchsetzten Inschriften am Felsendom zu Jerusalem, der vom selben Kalifen ʿAbd al-Malik erbaut wurde.107 Neben Elementen des islamischen Bekenntnisses mit Nennungen Mohammeds erscheinen knappe Koranzitate auf ägyptischen Grabsteinen zwischen 690 und 720, ausführlichere Zitate gegen Ende des achten Jahrhunderts.108

Trotz dieser mehrphasigen Geschichte des Koran auf dem Weg vom verkündeten Wort zum normierten Buch ist der Unterschied zur Entstehung der Bibel beträchtlich (selbst wenn der Koran eine weit komplexere Genese gehabt haben sollte als die islamische Tradition annimmt).109 Die Auswahl der als Offenbarungszeugnisse geltenden neutestamentlichen Schriften unterschiedlicher Autoren, Traditionslinien und Entwicklungsstufen war erst um 200 n. Chr. in ihrem Hauptbestand, um 400 in ihrem ganzen Umfang festgelegt; beim Alten Testament besteht zwischen den christlichen Konfessionen bis heute eine Differenz von sieben Büchern (die nicht in hebräischer, sondern griechischer Sprache verfasst oder wenigstens überliefert sind und deshalb nicht in allen Kirchen als kanonisch gelten).

Auch wenn der Blick auf die Entstehung des Koran zunächst nur historische Momente in ihrer Äußerlichkeit wahrnimmt, durch die Überlieferungen noch vereinfacht und ihrer Zufälligkeiten entkleidet, immer anfechtbar von wissenschaftlichen Analysen und Hypothesen, so haben die Anfangsgeschichten doch ihre Symbolkraft, die zur Geltung und zum Verständnis des Koran als der von Gott her originalen und auf alle weitere Geschichte hin endgültigen Schrift beiträgt. In dieser Hinsicht erweist sich der Islam als eine „Buchreligion“ wie keine andere Glaubensgemeinschaft.110

Anderseits ist theologisch aber auch bedeutsam, dass selbst beim Koran die definitive Gestalt und Normierung nicht einfach mit der prophetischen Verkündigung schon realisiert ist. Dass aus den zahlreichen von Mohammed vorgetragenen Reden Gottes ein einziges Werk wurde, erforderte auch nach dem Tod des Propheten noch einige Bemühungen und Entscheidungen. Trotz aller zeitlichen Kürze und sachlichen Konsequenz reicht der Prozess der Buchwerdung wenigstens in die nächste Generation hinein. Zwar sind mit dem, was Mohammed mitteilte, die grundlegenden Elemente gegeben – er trug „Gottes Wort“ in „Suren“ vor (die nicht schon den heutigen Umfang haben mussten); einzelne Aussagen des Koran lassen sich als Hinweis darauf verstehen, dass mit der Verkündigung dieser Texte die weltweite und letztgültige Offenbarung Gottes erfolgt sei –; aber dieses Buch lag noch nicht so vor, wie von ihm schon im Singular gesprochen wurde, den anderen Büchern gemäß, auf die sich Juden und Christen bezogen:

Wir (Gott) gaben Mose die Schrift. (11,110111)

So haben wir zu dir (Mohammed) die Schrift hinabgesandt. (29,47)

Der Koran verkündet demnach eine interreligiöse Parallele, die literarisch zur Zeit Mohammeds noch nicht verwirklicht war. Immer noch war der Einwand möglich, dass diese Gleichheit nicht gegeben sei, da die anderen ihr fertiges Buch besitzen, wie es die Muslime nicht vorweisen können („Warum ist der Koran nicht als Ganzes auf ihn herabgesandt worden?“ – 25,32). Die paradoxe Situation, dass die von Mohammed verkündete „Schrift“ zunächst nur als gesprochenes Wort gegenwärtig war, ist für den Koran auch über die Zeit seiner ursprünglichen Verkündigung hinaus bedeutsam. Der geschriebene Text, das gegenständlich vorliegende Buch (muṣḥaf), ist historisch wie theologisch sekundär; der Koran kommt zu seiner wesentlichen Gestalt in der Rezitation.112 Bis heute wird – anders als in jüdischer und christlicher Liturgie – beim gottesdienstlichen Vortrag des Koran das Buch nicht benutzt. Es ist auch nicht wie die Torarolle und die Bibel ein Gegenstand liturgischer Rituale, auch wenn es in Moscheen auf einem eigenen „Thron“ (kursī) ausgelegt ist und sonst insgesamt ehrfurchtsvoll behandelt wird.113 Gottesdienstlich relevant ist wie in der ursprünglichen Situation des Propheten nur das unmittelbar zur Sprache gebrachte Wort.

Mit der Verkündigung des Koran durch Mohammed erhielt nach islamischer Bewertung die Geschichte eine Zäsur wie nach christlicher mit dem Leben und Tod Jesu: „Ein für alle Mal“ ist auch nach neutestamentlicher Formulierung (Röm 6,10114) das Verhältnis Gottes und der Menschen offenbar geworden – freilich nicht im Buch, sondern in Jesus Christus –, so dass sich auch die christliche Theologie in ihrer Weise auf ein unüberbietbares, der ganzen Welt endgültig zugesagtes „Wort Gottes“ bezieht. So stehen beide Religionen in dieser formalen Entsprechung ihres Selbstverständnisses und Verkündigungsanspruchs gleichzeitig in einem fundamental gegensätzlichen Verhältnis.115

Häufig ist vom besonderen „Absolutheitsanspruch“ des Christentums und des Islam die Rede. Doch dieser Begriff ist von hegelscher Philosophie her bestimmt, also nicht genuin theologisch, und von Missverständnissen belastet. Zutreffender ist es, im christlichen und muslimischen Glauben einen „Endgültigkeits- und Universalitätsanspruch“ formuliert zu sehen, wie er sonst in keiner der großen Weltreligionen erhoben wird: Alle Welt sollte das jeweils ergangene Wort als unüberholbar wahr und verpflichtend begreifen.

Diese fordernde Erwartung bringt für beide Religionen Beunruhigung und Verlegenheit mit sich. Keiner von ihnen ist es bislang gelungen, ihren Anspruch dadurch zu bewähren, dass sie die Zustimmung zwar nicht der ganzen Menschheit, aber aller verantwortlichen, verständigen und aufgeschlossenen Menschen erreicht hätte. Demnach bedeutet die Wahrnehmung des Koran in seiner muslimischen Geltung auch eine Rückfrage nach dem christlichen Selbstverständnis und der christlichen Verarbeitung dieses unaufgelösten Widerspruchs von universalgeschichtlicher Absicht und realer Anerkennung.

Der Koran

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