Читать книгу Anne und die Horde - Ines Langel - Страница 10

Die Glöckchenfalle

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Anne saß auf ihrem Bett und drehte das Glöckchen in ihren Händen. Bei jeder Umdrehung schlug der kleine Klöppel an.

Pling, pling, pling, pling…

Anne hörte es gar nicht, sie war mit ihren Gedanken weit weg. Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte. Doch eines wusste sie ganz sicher, dieser Jemand war kein Mensch. Allerdings auch kein Tier. Für ein Tier war er zu intelligent. Intelligente Wesen konnten sehr viel gefährlicher werden als zum Beispiel ein wilder Elefant. Das sagte Papa immer, und Anne glaubte ihm. Aber sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. Sie musste ihren Kompass wiederhaben, unbedingt. Sie brauchte ihn. Anne seufzte tief. In diesem Augenblick betrat Mama ihr Zimmer.

„Anne-Maus, Zeit zum Schlafen.“

Anne nickte stumm, legte sich auf die Seite und wartete, dass Mama die Decke über sie zog.

„Geht es dir immer noch nicht gut?“, fragte Mama fürsorglich und befühlte Annes Stirn.

„Geht schon“, meinte Anne.

Mama lächelte und zog die Decke über ihre Tochter.

„So, nun mummel dich ganz fest ein, und morgen sieht die Welt schon wieder viel

besser aus.“

Anne lächelte ihre Mutter an: „Ja, bestimmt.“

„Ganz bestimmt“, sagte Mama und küsste sie auf die Wange. „Schlaf gut, mein Mausezahn.“

„Nacht“, sagte Anne und schloss die Augen.

Mama löschte das Licht und zog beim Rausgehen die Tür hinter sich zu. Kaum war sie draußen, richtete sich Anne wieder auf. Sie legte das Glöckchen, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Nachttisch. Dann zog sie das Rollo so weit hoch, dass genügend Licht von der Straße hereinfiel, um das Glöckchen im Auge zu behalten. Es würde nicht leicht sein, im Dunkeln wach zu bleiben und aufmerksam alles zu beobachten, was vor sich ging. Doch Anne musste es versuchen.

Die Minuten verstrichen. Annes Augenlider wurden immer schwerer. Ihr war klar, dass sie wahrscheinlich nicht die ganze Nacht durchhalten würde, deshalb hoffte sie innständig, dass bald etwas passierte. Sie hatte kein Talent, lange wach zu bleiben. Noch nicht mal Sylvester schaffte sie es, bis Mitternacht durchzuhalten. Das hier war eine echte Herausforderung.

Zwei Mal waren ihr die Augen zugefallen, zwei Mal war sie erschrocken wieder zu sich gekommen und hatte mit Erleichterung festgestellt, dass die Glocke noch da war. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich wach halten konnte, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Anne hielt die Luft an und lauschte. Jemand war vor ihrer Tür. Sie konnte ein leises Schaben hören. Anne starrte auf die Klinke.

Sie konnte sie im Dunkeln kaum erkennen, hätte aber schwören können, dass sie sich bewegte. Und tatsächlich, ihre Zimmertür wurde langsam aufgeschoben. Anne zog sich die Decke bis unter die Nase. Gebannt starrte sie Richtung Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Dann sah sie etwas das Zimmer betreten. Es konnte nicht größer als einen Meter sein und war in der Dunkelheit kaum zu sehen. Langsam kam dieses Etwas auf sie zu. Annes Finger verkrampften sich in der Decke. Sie schloss die Augen bis auf einen Schlitz, durch den sie beobachtete, was geschah. Anne meinte, einen runden Kopf mit spitzen Ohren auf einem gedrungenen Körper zu erkennen. Als das Wesen noch näher kam, sah sie das dunkle Fell. Annes Herz raste. Das konnte der Dieb sein, den sie fangen wollte. Aber der mutige Vorsatz war untergegangen in ihrer Angst. Sie wollte schreien und brachte keinen Ton heraus.

Der Eindringling stand nun so dicht vor ihr, dass sie ihn hätte berühren können. Das Wesen aber beachtete Anne nicht, ja schien sie nicht mal zu bemerken. Es starrte nur auf das Glöckchen auf dem Nachttisch, das im einfallenden Licht der Straßenlaterne matt glänzte. Anne zweifelte nicht länger an der Absicht des haarigen Wesens. Trotzdem war sie erleichtert. Wenn das Wesen nur Augen für das Glöckchen hatte, drohte ihr offenbar keine Gefahr. Sie fasste wieder Mut.

„Oh“, flüsterte das Wesen. „Glänzeding. Feines Glänzeding.“

Anne schluckte. Das Wesen konnte sprechen. Seine Stimme klang hell und ein bisschen näselnd. Das machte Anne noch ein bisschen mutiger. Wenn das Wesen sprechen konnte, war es auch möglich, sich mit ihm zu verständigen. Aber dazu musste verhindert werden, dass es weglaufen konnte. Gerade streckte das Wesen die Pfote nach dem Glöckchen aus, da nahm Anne sich ein Herz, schoss hoch, riss die Decke von sich und warf sie über den Eindringling. Dann sprang sie aus dem Bett und warf sich selber über ihn. Das Wesen unter ihr gab panische Laute von sich. Fast hatte Anne Mitleid mit ihm, doch diese Regung verging schnell, als ihr bewusst wurde, dass sie den Kompassdieb vor sich hatte. Jetzt zog sie die Decke noch fester zu. Als sie sicher war, dass der Eindringling nicht entkommen konnte, tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ihre Augen mussten sich erst an das Licht gewöhnen. Blinzelnd betrachtete sie den Haufen. Das Wesen rührte sich nicht. Nichts deutete darauf hin, dass unter der Bettdecke etwas Lebendiges lag.

„Hallo“, sagte Anne.

Keine Antwort.

„Hallo“, sagte sie noch mal.

Immer noch keine Antwort.

„Ich weiß, du bist da drinnen, und ich weiß, du kannst sprechen.“

„Uijuijuijui“, sprach es unter der Bettdecke. „Uijuijui, das geht doch nicht, nein, nein, wirklich nicht.

Das Wesen klang verzweifelt.

„Ich will meine Sachen wieder haben, klar? Vor allem meinen Kompass“. Anne bemühte sich, streng zu klingen, war sich aber nicht sicher, ob ihr das gelang. Das Wesen antwortete nicht, schien gar nicht zuzuhören, sondern fing an, mit sich selber zu sprechen.

„Hohlkopf. Zankintos Hohlkopf. So dumm, so dumm. Uijuijui, schlimme Sache. Viel zu warm hier. Zankintos keine Luft kriegen. Uijuijui.“

Anne lauschte der dumpfen Stimme. Dann begriff sie.

„Zankintos? Heißt du Zankintos?“

Der Gefragte antwortete nicht. Anne wartete ungeduldig.

„Zankintos. Das ist doch dein Name?“

Zuerst blieb es weiter still. Dann fragte das Wesen schüchtern:

„Woher du wissen?“

„Du hast mit dir selber geredet.“

„Ach“, kam es aus der Decke. „Zankintos Hohlkopf.“

„Nein, bist du nicht“, sagte Anne, die gerne etwas Nettes sagen wollte. Irgendwie rührte sie ihr Gefangener. „Aber du bist ein Dieb.“

„Stimmt nicht“, kam die Antwort.

„Du hast meinen Kompass geklaut“, sagte Anne streng.

„Ich bezahlt haben, immer Erdnüsse dagelassen.“

„Das ist doch keine richtige Bezahlung. Mein Kompass ist viel mehr wert als deine drei Nüsse. Außerdem ist es nur dann kein Diebstahl, wenn ich einverstanden bin. Aber du hast ja nicht mal gefragt.“

Darf Zankintos doch nicht“, sagte Zankintos beleidigt, „Darf nicht sprechen mit Menschen, nie, nie, nie.“

„Tja“, meinte Anne, „gerade sprichst du mit einem Menschen.“

„Uijuijuijui.“

„Ach hör doch auf. Sag mir lieber, wo mein Kompass ist.“

„Geht nicht“, sagte Zankintos zerknirscht.

„Klar geht das.“

„Nein, geht nicht“, kam prompt die Antwort. Und dann: „Zankintos Hohlkopf. Saudummer Heinzel.“

„Hör zu“, sagte Anne, die langsam die Geduld verlor, „du sagst mir jetzt, wo mein Kompass ist oder ich tu dir weh, klar?“

„Geht nicht, geht nicht.“

Anne zog die Bettdecke enger um ihren Gefangenen und drückte zu. Dabei sagte sie immer wieder:

„Wo ist der Kompass, wo ist der Kompass, wo ist der Kompass?“

Zu Anfang hatte das Wesen noch gestrampelt. Doch nun lag es ganz still. Anne erschrak. Sie horchte.

„Was ist mit dir?“, fragte sie.

„Luft“, kam die Antwort.

„Was?“, fragte Anne.

„Krieg keine Luft.“

Wie zur Bestätigung hustete der Gefangene.

Anne erschrak. Was sollte sie tun? Sie hatte nicht vor, das Wesen zu ersticken oder ihm wirklich weh zu tun.

„Also gut“, sagte sie. „Ich werde dich raus lassen – unter einer Bedingung: Ich kriege meinen Kompass zurück.

„Uijuijui. Geht doch nicht. Na gut. Muss gehen. Versprochen“, sagte Zankintos mit trauriger Stimme.

Anne zog die Bettdecke vorsichtig zur Seite und erstarrte. Zakintos hatte Ähnlichkeit mit einem Affen, war aber kein Affe. Auf seinen großen runden Kopf saßen die Ohren wie bei den Katzen obenauf. Noch eindrucksvoller als die kleine runde Nase und der weiche Mund waren die großen, meerblauen Augen mit langen Wimpern. Zankintos war kaum größer als 50 Zentimeter. Sein ganzer Körper war mit dunkelbraunem Fell bedeckt. Es sah so weich aus, dass Anne ohne zu überlegen die Hand ausstreckte, um es zu streicheln. Zankintos sah sie mit großen Augen an.

„Du bist so weich“, sagte Anne.

Zankintos entspannte sich. Er zog dabei seinen langen, schwarz-weiß geringelten Schwanz nach vorn. Mit der linken Hand – er hatte wirklich Hände und keine Pfoten - hielt er ihn umklammert, während die Finger der rechten mit der Schwanzspitze spielten.

„Bist du sehr böse auf mich?“

Anne nickte und versuchte ein grimmiges Gesicht aufzusetzen. Zankintos Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen.

„Uijuijuijui, Oh jemine, uijuijui“, heulte er.

Anne sah ihn verständnislos an.

„Was hast du denn gedacht? Du brichst in unsere Wohnung ein und klaust unsere Sachen. Ist doch klar, dass ich nicht glücklich darüber bin.“

„Hab doch bezahlt.“

„Mit Erdnüssen, die nichts wert sind. Und ich habe dir auch erklärt, dass man fragen muss, wenn man etwas haben will.“

Zankintos wischte mit der Schwanzspitze über die Augen.

„Kann aber doch niemanden fragen.“

„Warum nicht?“

„Darf nicht reden mit Menschen.“

„Sagt wer?“

„Zucker.“

„Wer?“, fragte Anne.

„Oberster Bruder.

„Dein ältester Bruder heißt Zucker?“

„Ist nicht mein Bruder, ist ältestes Hordenmitglied. Kennt sich

aus mit den Menschen. War dabei, als Schneidersfrau Erbsen

ausstreute, um Heinzel zu fangen.“

„Die Schneidersfrau?“, Anne verstand kein Wort.

„Wie in altem Gedicht“, meinte Zankintos, zog einen Zettel aus dem Beutel, der um seinen Hals hing und gab ihn Anne. In schnörkeliger Schrift stand da geschrieben:

Neugierig war des Schneiders WeibUnd macht` sich diesen Zeitvertreib:Streut Erbsen hin die andre Nacht.Die Heinzelmännchen kommen sacht;Eins fährt nun aus, schlägt hin im Haus,Die gleiten von Stufen und plumpsen in Kufen,Die fallen mit Schallen,Die lärmen und schreienUnd vermaledeien.Sie springt hinunter auf den SchallMit Licht: husch, husch,verschwinden all. Anne erinnerte sich, das Gedicht schon mal gehört zu haben. Sie musste eine Weile nachdenken, bevor es ihr wieder einfiel.

„Stimmt“, rief sie aus. „Das ist das Heinzelmännchengedicht. Mama hat es mir

schon mal vorgelesen. Und mit der Schule haben wir ein Theaterstück über Heinzelmännchen besucht.“ Skeptisch sah sie Zankintos an.

„Das kann aber nicht sein. Heinzelmännchen sehen ganz anders aus.“

Zankintos war verblüfft. „Anders? fragte er. „Wie anders?“

Anne stand auf und ging zu ihrem Bücherregal. Sie brauchte nicht lange, da hatte sie das kleine gebundene Buch gefunden, das sie gesucht hatte.

Die Heinzelmännchen von Köln

„Hier“, sagte sie und hielt Zankintos das aufgeschlagene Buch vor die Nase.

Dieser sah sich interessiert die Abbildung an.

„Ist ja ein Gartenzwerg!“, rief er aus.

Jetzt betrachtete auch Anne das Bild genauer.

„Stimmt“, meinte sie. „Doch so sehen Heinzelmännchen nun mal aus. Und du hast keine Ähnlichkeit mit dem hier. Du hast ja noch nicht mal eine rote Zipfelmütze auf dem Kopf.“

„Bin aber trotzdem Heinzelmann“, beharrte Zankintos.

„Kannst du das beweisen?“

„Beweisen?“

„Ja, eigentlich macht ihr doch sauber und seid hilfsbereit. Du bist aber ein

Dieb und wahrscheinlich auch ein Lügner.“

„Uijuijuijui“, heulte Zakintos.

Sofort tat es Anne leid. „Hey, nicht weinen.“, sagte sie und rutschte näher

an den kleinen Heinzelmann heran. „Ich bin nur sauer, weil du meinen Kompass

geklaut hast.“

„Du mich nicht mögen“, jammerte Zankintos.

„Doch, eigentlich mag ich dich schon.“

Anne legte den Arm um ihn. Zakintos sah fragend zu ihr auf.

„Wirklich?“

„Ja“, sagte Anne, „ich finde dich süß.“

Zankintos Nase wurde ganz rot. Schnell blickte er zu Boden.

„Dich ich auch“, flüsterte er. „Hab euch zugesehen beim Einziehen. Mochte dich auf ersten Blick. Mag rote Haare bei dir und Sommersprossen. Hast so traurig ausgesehen. Wollte ein bisschen auf dich aufpassen. Heimlich. Wenn Zucker das hätte gewusst… uijuijuijui… Hätte er gar nicht gut gefunden. Wollte wirklich nur aufpassen auf dich, ehrlich. Doch all die Dinge, so glänzend und schön, konnte Zankintos nicht widerstehen.“

Anne wurde ganz warm ums Herz. Da gab es wirklich jemanden, der sich um sie gekümmert hatte. Spontan drückte sie Zankintos einen Kuss auf den runden Kopf.

„Oh!“, hauchte dieser und krallte sich an seinem Schwanz fest.

Anne lächelte.

„Was machst du mit den Sachen, die du hier weggenommen hast?“, fragte sie.

„Ich meinen Bau schmücken. Willst du sehen?“

„Ja, gerne.“

Zankintos sprang auf. „Dann mitkommen, ich dir zeigen.“

„Jetzt?“, fragte Anne.

„Ja, schnell.“

„Es ist mitten in der Nacht“

„Weiß ich. Na und?“

„Überleg doch mal. Wie sollen wir hier unbemerkt rauskommen?“

„So wie Zankintos reingekommen. Gleicher Weg. Ganz einfach.“

Bisher hatte sich Anne noch keine Gedanken gemacht, wie der

Heinzelmann in die Wohnung gekommen sein konnte.. Doch jetzt, wo er davon sprach…. natürlich, ganz klar, es musste einen Weg geben, den außer ihm niemand kannte.

„Durch den Schornstein bist du jedenfalls nicht ins Haus gekommen.“

„Nicht Schornstein“, sagte Zankintos, „durch Wand“.

Anne und die Horde

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