Читать книгу Anne und die Horde - Ines Langel - Страница 18

Der Hexentest

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„Hallo“, sagte Anne.

„Hallo“, sagten die Heinzel.

Zankintos kam auf sie zu und nahm ihre Hand. „Musst keine Angst haben, Anne.“

„Habe ich nicht“, sagte Anne. Doch das war gelogen. Warum sahen alle so angespannt aus?

Zucker kam auf sie zu. „Anne, schön dich zu sehen.“

Sie nickte nur.

Zucker legte ihr die Hand auf die Schulter. „Keine Angst, Anne, der Test ist leicht und geht schnell vorbei.“

„Wie wollt ihr mich testen? Muss ich dafür etwas Besonderes wissen?“

„Nein“, sagte Zucker. „Es ist kein Wissenstest. Es wird deine Beschaffenheit getestet.“

„Meine Beschaffenheit?“, fragte Anne skeptisch. „Was meinst du damit?“

Zucker tätschelte ihr die Hand. „Hexen sind keine richtigen Menschen.“

„Was?“ Anne war entsetzt. „Das ist nicht wahr. Natürlich bin ich ein Mensch.“

„Versteh mich doch, Anne.“

Gleich erzählst du mir noch, dass ich vom Himmel gefallen bin und meine Eltern mich gefunden haben – bei einem Spaziergang auf einer Wiese.“

„Anne beruhig dich doch. So meine ich das nicht“.

„Wie dann?“

„Natürlich bist du nicht vom Himmel gefallen, und natürlich bis du das Kind deiner Eltern.“

Anne kreuzte die Arme vor der Brust, als müsste sie sich schützen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. „Warum sagst du dann, dass ich kein Mensch bin?“

Zucker sah sie besorgt an. „Im Moment wissen wir ja noch nicht, was du bist. Doch Hexen sind Hexen, und Menschen sind Menschen. So einfach ist das.“

„Ich finde das nicht einfach“, widersprach Anne.

„Nun gut.“ Zucker seufzte. „Dennoch, Anne, Hexen haben Eigenschaften, die normale Menschen nicht haben. Man könnte sagen, sie sind Elementargeister.“

„Was bedeutet das nun wieder?“

„Elementargeister sind Wesen, die ganz stark mit den Elementen verbunden sind.“

„Du meinst Feuer, Wasser, Erde, Luft?“

Anerkennend sah Zucker sie an. „Genau das meine ich. Und weil sie so stark mit den Elementen verbunden sind, können die Elemente ihnen nichts anhaben. Wo ein Mensch ertrinken, verbrennen, ersticken oder in den Tod stürzen würde, da leben Hexen weiter.“

Anne überlegte. „Und wie soll dieser Test dann aussehen? Soll ich mich vom Hochhaus stürzen?“

„Nein“, sagte Zucker. „Ein Sturz wäre endgültig, solltest du keine Hexe sein.“

Anne schluckte.

„Ich denke der Wassertest wird besser sein.“

„Wassertest?“

„Ja, wir werden dich in den See werfen. Wenn du nicht untergehst, bist du eine Hexe. Solltest du versinken, dann ziehen wir dich wieder raus, und alles ist wie vorher.“

„Ich kann schwimmen“, sagte Anne.

Zucker nickte. „Wie gut schwimmst du mit einem Stein an deinem Körper?“

Anne starrte Zucker fassungslos an. Natürlich war es unmöglich, mit einem Stein am Körper zu schwimmen. Und wenn sie es trotzdem wagte – wie schnell würden die Heinzel sie aus dem Wasser ziehen? Würden sie sie überhaupt aus dem Wasser ziehen? Sie kannte die Heinzel doch gar nicht. Wer sagte ihr, dass sie es wirklich gut mit ihr meinten? Ob es schon zu spät war, nein zu sagen?

Zucker schien Annes Argwohn zu spüren. Er sah ihr fest in die Augen. „Ich will ehrlich sein. Ich sagte ja schon, dass die Prüfung nicht schwierig ist. Dabei bleibe ich auch. Aber etwas können wir dir nicht ersparen. Du wirst einen gewaltigen Schreck bekommen. Er dauert nicht lange. Aber er ist ziemlich heftig. Die Angst, die dich dann packt, kannst du nur ertragen, weil du weißt, dass dir nichts passieren wird. Hörst du, Anne? Dir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir. Bist du eine Hexe, kannst du dich selber retten. Bist du keine, retten wir dich.“

Anne schloss für einen Augenblick die Augen. Sie hatte noch nie so eine schwere Entscheidung treffen müssen. Sie hatte sich noch nie so einsam gefühlt. Und doch kam sie sich nicht verloren vor. Die Heinzel glaubten an sie. Sie glaubten, dass sie stark und tapfer genug war, um die Prüfung zu bestehen. Sie hatten sie nicht gezwungen, hierher zu kommen. Sie war freiwillig gekommen. Sie würden sie auch wieder ziehen lassen, ohne sie auszulachen.

Anne richtete den Blick auf Zucker. „Und was ist, wenn ich nicht will?“

„Dann kannst du nach Hause gehen.“

„Gut“, sagte Anne, ohne noch weiter zu überlegen, „ich werde die Prüfung machen. Ich möchte es wissen.“

Zucker sah sie lange an. Dann nickte er. „Fangen wir an“.

Der Oberheinzel gab mit den Augen ein Zeichen. Sogleich liefen einige kräftige Heinzelmänner herbei. Sie schleppten einen schweren Stein mit einer Kette dran. Dass es so schnell gehen würde, hatte Anne nicht gedacht. Sie fühlte sich völlig überrumpelt. Im Nu hatten ihr die Heinzel den Stein umgebunden und trugen sie damit zum See. Vertrauen sollte sie ihren Freunden. Immer wieder hatten Zucker, Zantana, Zankintos darum gebeten: Vertrau uns, Anne. Doch in diesem Moment empfand sie nichts anderes als Angst, nackte Angst. Sie konnte gar nicht anders als zu schreien und nach ihren Trägern zu treten. Panik stieg in ihr hoch. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Zucker war ehrlich gewesen zu ihr. Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle mehr. Noch einmal bäumte sie sich auf gegen die starken Hände, die sie im Dauerlauf davontrugen. Dann spürte sie, wie sie losgelassen wurde. Ihr Körper traf auf das Wasser. Den Kälteschock nahm sie in ihrer Verzweiflung kaum noch wahr. Sogleich sank sie.

Anne wollte schreien. Ihr Mund füllte sich mit Wasser. Sie schluckte den ersten Schwall hinunter. Es war keine Luft in ihrer Lunge. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Sie brauchte Luft. Panisch bewegte sie sich, versuchte den Stein abzuschütteln, der sie erbarmungslos nach unten zog. Die Kette fraß sich in ihre Haut, doch Anne spürte es nicht, spürte nur den Schmerz in der Lunge.

Luft!

Sie drehte und wand ihren Körper nach allen Seiten, die Kette löste sich keinen Millimeter. Ein verzweifelter Blick nach oben zeigte ihr, wie tief sie schon gesunken war. Und doch ging es immer noch abwärts. Es wurde dunkel. Große Wasserpflanzen berührten ihr Gesicht.

Luft!

Hätte sie doch die Heinzelmännchen gesehen, die um sie herum schwammen, jeden Augenblick bereit, sie zu retten. Das hätte ihr wieder Mut geben können. Doch sie nahm nichts mehr wahr. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich gegen das Unvermeidliche aufzubäumen.

Ich werde sterben.

Ihr Mund öffnete sich wie von selbst. Wasser drang ein. Sie schluckte es hinunter. Immer mehr Wasser füllte ihren Körper. Sie ließ es geschehen. Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Mit einem letzten lautlosen Seufzer verabschiedete sie sich von der Welt und…. atmete. Sie riss die Augen auf. Sie fasste es nicht. Sie spannte sämtliche Gesichtsmuskeln an und…. atmete, atmete ein, atmete aus, ein, aus, ein, aus. Sie fühlte, wie die Luft in die Lungenflügel einströmte, als wären diese nicht mit Wasser gefüllt. Unbegreiflich, sie saß auf dem trüben Grunde des Sees und atmete. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. Und auch der, welcher sie in die Tiefe gezogen hatte, ließ sich plötzlich ganz einfach abstreifen. Kaum seiner ledig, trieb es sie nach oben, ganz ohne ihr Zutun. Sie wollte noch gar nicht auftauchen, sondern erst mal ihre neue Fähigkeit ausprobieren. Sie machte Tauchbewegungen, um dem Auftrieb zu entkommen, doch es ging nicht. So wie der Stein sie nach unten gezogen hatte, so zog sie nun etwas Unbekanntes nach oben, etwas, das in ihrem Körper sein musste.

Als ihr Kopf die Oberfläche des Wassers durchstieß, ging ein Aufatmen durch die Reihen der Heinzel. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Nicht nur Annes Kopf, ihr ganzer Körper kam, ja stieg förmlich aus dem Wasser. Mit Händen und Knien stützte sich Anne auf die Wasseroberfläche, als wäre diese ein fester Untergrund. Entgeistert starrte sie nach unten. Sie versuchte, eine Hand bis zum Ellbogen in das Wasser zu drücken. Es gelang ihr nur mit größter Mühe, obwohl sich das Wasser ganz normal anfühlte. Da begriff sie, nicht das Wasser hatte sich verändert, sondern etwas an ihr hatte sich verändert. Anne begann sich vorsichtig zu erheben. Es machte ihr keine Mühe, auf dem Wasser zu stehen. Sie fror in ihrer nassen Kleidung. Und kaum war ihr das bewusst geworden, begann sie zu dampfen, genauer gesagt, das Wasser verdampfte. Es dauerte nicht lange, da waren ihre Kleider, ihre Haut und die Haare vollständig getrocknet. Nichts deutete mehr daraufhin, dass sie noch vor kurzem auf dem Grund des Sees gesessen hatte.

Verwirrt, ohne zu wissen, was sie tat, schritt Anne langsam, mit tastenden Schritten über das Wasser, dem Ufer entgegen. Unter den Heinzeln war es totenstill geworden. Alle starrten gebannt auf sie, bis Zucker mit jubelnder Stimme rief: „Hurrah, hurrah, sie ist eine Hexe. In diesem Augenblick brach ein unbeschreiblicher Jubel los.

Anne und die Horde

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