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3.2.1 Bedeutende Entwicklungsvoraussetzungen für die Zentralität der Adoleszenz

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Ab der Adoleszenz wird die Identitätsentwicklung immer stärker durch den Einfluss anderer bestimmt und verändert. Dass die Identität in der Adoleszenz immer deutlicher relational wird und damit noch über das hinausgeht, was bereits Latenzkinder können, hängt mit weiteren sozial-kognitiven Lernprozessen zusammen. Entscheidend ist zudem, dass der Jugendliche eine immer komplexere Vorstellung von sich entwickelt, die wesentlich aus der Beziehung zu anderen entstanden ist, dass er/sie sich durch andere erlebt und definiert – aber auch gegen sie abgrenzt.

Für Jugendliche ist jetzt charakteristisch, dass sie über stabile Fähigkeiten verfügen, sich und andere zu beschreiben und bei diesen Beschreibungen psychologische Charakteristiken eine zentrale Rolle einnehmen. Selbstreflexive Funktionen werden häufig angewandt: »The self as an active, reflective controler of the own experiences« (Damon & Hart, 1988, S. 45). Damon und Hart konnten in ihrer Längsschnittstudie über 1,5 Jahre nachweisen, dass Jugendliche sich auf ein immer höheres Niveau der agency zubewegen. Sie unterschieden auch weitere Komponenten, die distinctiveness und die self-continuity, und konnten in diesem Zeitraum auch bei diesen Selbst- bzw. Identitätskomponenten Veränderungen über die Zeit feststellen. Mit der Differenzierung in diese drei Komponenten sind sie sehr nahe dran an der Konzeption von Identität im Sinne Eriksons.

In der Adoleszenz wird nun immer stärker zwischen dem »true Self« und der äußeren Fassade unterschieden, wobei es häufig zwei verschiedene innere Zustände, zwei »true Selfs« gibt. Diese Spaltung in einem denkenden/fühlenden und einen sich dabei beobachtenden Teil ist für Jugendliche sehr charakteristisch. Jugendliche haben nicht nur die Fähigkeit, differenziert über sich nachzudenken (McLean & Breen, 2009); wir finden zugleich kognitive Veränderungen bei der Verarbeitung von Beziehungsinformationen, die einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Identität im Jugendalter und danach haben. Jugendliche können hochkomplexe soziale Vergleichsprozesse und Antizipationen des Denkens und Verhaltens von Interaktionspartnern nachvollziehen (Seiffge-Krenke, 2011a). Durch diese hochkomplexen Vergleichsprozesse und Antizipationen können Jugendliche sich selbst und andere sehr differenziert in Beziehungen setzen, was am Beginn der Adoleszenz allerdings auch mit einem kurzzeitigen Egozentrismus verbunden ist, nämlich der Vorstellung, alle anderen seien genauso beschäftigt mit ihnen, wie sie selbst es sind.

Charakteristisch für die Adoleszenz ist nicht nur, dass immer stärker psychologische Begriffe für die Charakterisierung von sich und anderen benutzt werden, sondern auch, dass positive und negative Selbstaspekte integriert werden können, oft durch einen beobachtenden und handelnden Selbstanteil. Dies ist möglicherweise auch eine Ursache dafür, dass selbstreflexive Prozesse so eine bedeutende Rolle spielen und Narrative benutzt werden: Für die Identitätsexploration in der Adoleszenz werden, wie noch zu zeigen sein wird, Tagebücher, Blogs etc. verwendet ( Kap. 8).

Die Jugendlichen sind auch die erste Altersstufe, die sich selbst in Vergangenheit und Zukunft sehen kann (»self in time«: »Ich sehe mich, wie ich in der 2. Klasse in der Schule neben meiner Freundin saß …«) und sich selbst hypothetisch auf der Ebene des formalen Denkniveaus als ein anderer sehen kann (»possible selves«: »Ich könnte mir eine Zukunft als Journalist oder Schauspieler vorstellen …«). Gerade diese Fähigkeit ist Anlass für solche Textproduktionen, aber auch die verstärkte Tendenz von Jugendlichen, Objekte, die zu ihrer Identität gehören, zu sammeln, durch Fotos ihr Leben zu dokumentieren. Sie können des Weiteren Mechanismen wie die Immunisierung einsetzen, die zur Selbstwertstabilisierung gegenüber negativen Identitätsaspekten beitragen (Greve et al., 2009).

Habermas (1996, S. 1) berichtet in seinem Buch über geliebte Objekte als Mittel der Identitätsbildung:

»Als Jugendlicher zog ich gerne mit dem Fahrrad und Fotoapparat über die Felder, um einen Freund in der nahegelegenen Stadt zu besuchen. Zuhause kultivierte ich ein Tagebuch als Ansprechpartner, den ich immer in der Nähe wusste.«

Ein narrativer Ansatz (das »Ich als Geschichtenerzähler«, McAdams, 1998) ist erst ab der Adoleszenz möglich. Hier ist interessant zu sehen, ob der Jugendliche seine Identitätsentwicklung als Prozess darstellen und ob er sich selbst als Agenten in dieser Entwicklung erleben kann. Hat er oder sie verstanden, dass Krisen zu einer Identitätsreifung und Veränderung führen können und dass sie eine positive Entwicklungskraft haben (wie der »Phönix aus der Asche«)? Auf Analysen von Narrativa mit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Selbst wird in Kapitel 8 ( Kap. 8) eingegangen. Dies wird auch deutlich an den häufigen Wiederlesen und Kommentieren von Tagebuchaufzeichnungen (»Mein Gott – was für einen Blödsinn habe ich damals geschrieben …«).

Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich

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