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1 Einleitung: Adoleszenz – die Zeit, in der die Identitätsentwicklung zentrale Bedeutung gewinnt

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Auf die Idee, die Adoleszenz sei erst der »Vorwaschgang« für die Identitätsentwicklung, könnte man kommen, wenn man sich die Forschung zur Identitätsentwicklung anschaut. So wurden zwar in der Meta-Analyse zur Identitätsentwicklung von Jane Kroger und Kollegen (2010) auch Jugendliche einbezogen, der Schwerpunkt lag aber deutlich im jungen Erwachsenenalter. Die Ergebnisse sind über die vielen einbezogenen Länder hinweg recht einheitlich und zeigen, dass die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen im Sinne einer Operationalisierung der Eriksonschen Konstrukte (als Kombination von Exploration und Commitment) gerade erst zaghaft begonnen hat und bis zu ihrem Abschluss noch fast 20 Jahre vergehen werden. Auch dann entwickeln Menschen ihre Identität weiter, besonders heute, wo die Brüchigkeit von Beziehungen und beruflichen Perspektiven häufig Neuorientierungen und Anpassungen in der Identität erfordern.

Dennoch, Erikson, dessen Konzeption diesem Buch zugrunde liegt, hatte meiner Ansicht nach recht: Auch wenn die Identitätsentwicklung prinzipiell ein lebenslanger Prozess ist, kommt der Adoleszenz diesbezüglich doch eine besondere Bedeutung zu. Heute verorten wir die Identitätsentwicklung keineswegs deshalb zentral in der Adoleszenz, weil wir sie, wie Erikson, als in der Adoleszenz für weitgehend abgeschlossen halten, sondern deshalb, weil es keinen Lebensabschnitt gibt, in dem so viele sozial-kognitive Lernprozesse in schneller Folge durchlaufen werden, die für die Entwicklung der Identität aus Beziehungen wichtig und notwendig sind.

Meine These ist, dass sich Identität aus Beziehungen entwickelt (Seiffge-Krenke, 2012a), und die Voraussetzungen für diese relationale Identität sind in keinem Lebensabschnitt so bedeutsam und veränderbar wie in der Adoleszenz. Tatsächlich sind sogar die raschen emotionalen und kognitiven Lernprozesse eine Voraussetzung dafür, dass sich die Identität der Jugendlichen so rasch verändern kann – körperlich, aber auch psychisch und sozial. Auch Susan Harter beschäftigte sich eingehend mit den Facetten dieser Entwicklung und beschrieb und untersuchte die »possible selves« (Harter et al., 1997), die sie zum einen auf kognitive Fortschritte, zum anderen auf den Sozialisationsdruck der Adoleszenz (d. h. die zunehmende Anpassung an erwachsene Rollen und Werte) zurückführt.

Bei der Untersuchung der Lernprozesse, die zum adoleszenten Identitätsstatus führen, ist auffällig, dass in der frühen Kindheit eher die Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung, in der mittleren und späten Kindheit und verstärkt auch noch in der Adoleszenz eher das Selbstkonzept untersucht wurden. Alle drei Komponenten sind wichtig, aber Identität ist noch umfangreicher und komplexer und umfasst sehr viele verschiedene Facetten.

Erikson (1968) definierte Identität als »ein Gefühl für sich selbst, das aus der Integration vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Erfahrungen resultiert« (S. 36), und betonte sowohl Kontinuität als auch Veränderung über Zeiten und Kontexte. Wir werden also einen komplexeren Ansatz wählen, um diese Gleichheit und Kontinuität über Zeiten und Kontexte zu verdeutlichen. Er wird die geschlechtsspezifische Identitätsentwicklung, die Einflüsse der Familie durchaus auch im Sinne einer »Identitätsbremse« (Seiffge-Krenke, 2012a) und die starke Abhängigkeit der Identitätsentwicklung vom Entwicklungskontext, kulturellen Einflüssen und den Wandel in der Identitätsentwicklung über die Lebenspanne aufgreifen und zeigen, welche zentrale Entwicklungsprozesse in der Adoleszenz stattfinden – auch wenn die Identitätsentwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Spiegelmetapher, die für die Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter wichtig ist für die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, erfährt in der Adoleszenz durch die besonderen Fähigkeiten von Jugendlichen eine ganz neue Erweiterung. Sehr viele verschiedenen Perspektiven von anderen Menschen wahrzunehmen, zu integrieren und sich »im Spiegel der anderen« zu sehen und zu erkennen, wird wichtig und lässt sich zum einem an der ungewöhnlich hohe Rate an selbstreflexiven Aktivitäten, aber auch an der intensiven Nutzung der sozialen Medien festmachen.

Dieser Entwicklungsprozess ist nicht ohne Gefährdungen, wie wir am Ende sehen werden. Die Adoleszenz als zentrale Schnittstelle für die Identität kann also zur beschleunigten Weiterentwicklung, aber auch zur Stagnation, ja zur Krise mit psychischen und körperlichen Symptomen führen.

Die Jugendlichen und ihre Suche nach dem neuen Ich

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