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ZEHN

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Hanna stolperte beim Anfahren des Omnibusses auf die Rücksitzbank zu. Sie sah durch das rückwärtige Fenster hinaus und erblickte Conny, wie diese mit wehendem Pferdeschwanz und verbissener Miene hinter dem Bus herlief. Kurze Zeit später verlor sie sie aus den Augen, verschluckt von einer Staubwolke.

Hanna war gar nicht bewusst, dass ihre Freundin ebenfalls vorhatte in die Stadt zu fahren oder waren sie verabredet und sie hatte es vergessen? Grübelnd runzelte sie ihre Stirn. Nein, sie hatten keine Verabredung. So trottelig war sie nicht. Der heutige Nachmittag mit Jutta war schon ein paar Wochen geplant und ihren Besuch bei ihr, hatte sie gestern noch mit Conny besprochen. Hanna setzte sich auf den verschlissenen Kunststoffsitz, lehnte den Kopf an die Seitenscheibe und schloss für einen Moment die Augen.

Zuletzt war sie vor geraumer Zeit gemeinsam mit Jörg bei ihrer Mutter. Jutta hatte sich an diesem Tag nach ihren Möglichkeiten, förmlich herausgeputzt. Zu einer dunkelgrauen Stoffhose trug sie eine blau gestreifte Bluse, ihre Haare hatte sie im Nacken zusammen gebunden. Es gab einen von ihr selbst gebackenen Kuchen. Der sah zwar äußerlich etwas missglückt aus, aber geschmacklich war er echt genießbar. Ihre Mutter war bei diesem Treffen gesprächiger wie sonst üblich. Möglicherweise lag es auch an Jörgs Anwesenheit. Mit seiner lebhaften Art zu erzählen und Geschichten auszuschmücken, lockte er Jutta aus der Reserve. Gemeinsam lachten sie viel an dem Nachmittag. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben und dafür war sie ihm mehr als dankbar. Hanna war heilfroh über ihre Entscheidung, ihn Jutta vorzustellen. Natürlich war es nicht möglich ihn bei jedem Besuch mitzuschleppen. Schließlich dienten die Treffen dazu, dass sich Mutter und Tochter besser kennenlernten. Die Annäherung würde ihre Zeit dauern, noch waren sie sich ziemlich fremd. Hanna ließ sich nicht so rasch entmutigen und hatte vor, nach vorn zu schauen. Sie fand die Geschichte ihrer Kindheit, die ihr Jutta erzählte bedrückend. Gleichzeitig zollte sie ihr Respekt, wie sie sich durchgerungen hatte, alles daran zu setzen sie kennenzulernen.

Unterdessen der Bus über Land langsam von Milchkanne zu Milchkanne, von einer Haltestelle zur nächsten zockelte, grübelte sie darüber nach wie es wohl mit ihr und Jörg weitergehen würde. Gab es für sie beide eine gemeinsame Zukunft? Sie wollte im kommenden Jahr im Anschluss an die Sommerferien, ihre Ausbildung zur Facharbeiterin für Kinderpflege in Parchim anfangen. Ihr Freund strebte ein Studium an. Um allerdings den gewünschten Studienplatz zu erhalten, musste er sich dazu verpflichten, zuerst drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee zu dienen. Niemand konnte voraussagen, in welche Kaserne und in was für einen Teil der DDR man ihn abkommandierte. Er bekäme, wenn überhaupt, sporadisch Ausgang und Besuche wären nur zeitweise möglich. Gab es für sie eine Chance, diese Zeit zu überstehen? Hanna schluckte, wischte sich über die Augen. Es gab viele Beziehungen, die dem NVA Aufenthalt des Partners nicht standgehalten hatten. Vielleicht wäre es besser, sich vorher zu trennen? Aber wenn man es nicht probiert hatte, ohne Weiteres aufgeben? Niemals! Sie war es von jeher gewohnt zu kämpfen. Eine alleinige Entscheidung würde sie nicht treffen. Sie musste mit Jörg über ihre Ängste reden. Vielleicht sollte sie auch mal mit ihrer Mutter darüber sprechen? Obwohl in Sachen Beziehungen war Jutta nicht gerade eine Koryphäe. Irgendwie war alles momentan echt verzwickt. Hanna öffnete die Augen und sah gedankenverloren in die orangefarbene Sonne, die wie eine dicke Apfelsine über dem Getreidefeld klebte.

Wie wäre es wohl, wenn sie im anderen Teil Deutschlands leben würde? Die Frage beschäftigte sie schon sehr. Sie träumte oft und gern davon, wie es im Westen aussah und malte sich aus, dort zu Hause zu sein. Dabei ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf. Nach ihrem Ideal kam die unbekannte Welt bunt und glitzernd daher. Da gab es offenbar alles in Hülle und Fülle, was man sich wünschte. Einen Eindruck von dieser Glitzerwelt hatte sie sich bereits in den zahlreichen Intershops in Rostock geholt, die sie gern heimlich besuchte. Wenn sie eines von jenen duftenden Geschäften betrat, umhüllte sie jedes Mal ein besonders geheimnisumwobener Wohlgeruch. Sie nannte ihn so, da er für sie unbeschreiblich, nicht in Worte zu fassen war und ungekannte Sehnsüchte in ihr weckte. In den Läden herrschten paradiesische Zustände. Westgeld tauschte man in staatliche Gutscheine, die sogenannten Forumschecks ein. Mit diesen war es auch DDR Bürgern möglich sich duftende Kosmetik, Gold- und Silberschmuck, „echte“ Jeans, schrille Matchboxautos, Rockschallplatten, zartschmelzende Schokolade und eine Menge mehr zu kaufen. Alles Produkte, die es in Ostdeutschland für die offizielle Mark der DDR nicht, oder nur vereinzelt gab. Ein sehnsuchtsvoller Seufzer kam über ihre Lippen.

Endlich hatte der Bus die Endstation in Parchim erreicht. Bereits von weitem sah sie Juttas etwas geduckte Gestalt. Sie stand abseits der Haltestelle und zog hektisch an einer beinah abgebrannten Zigarette. Ruckartig drehte sie den Kopf in Richtung der Ankömmlinge. Dabei fielen ihr die strähnigen dünnen Haare ins Gesicht. Es machte den Anschein, als ob sie eben noch mit einem Mann gesprochen hatte, der beim Eintreffen des Linienbusses flink, mit ausladenden Schritten und wehendem Mantel davonhastete. Hanna ließ die Vermutung nicht los, ihn vor längerer Zeit schon gesehen zu haben. Aber wie sie ankam, hatte er sich bereits zu weit entfernt. Sie hatte keine Chance mehr, ihn zu erkennen.

Behänd sprang sie aus dem Bus und eilte auf Jutta zu. Sie war voller Freude, ihre Mutter zu sehen. Ihnen blieben allerdings nur zwei Stunden, denn der letzte Bus fuhr gegen einundzwanzig Uhr dreißig zurück aus der Stadt. Das war nicht allzu lange Zeit, aber wie sie fand ausreichend. So gab es einen vorgegebenen Rahmen, nach dessen Ablauf es ihr möglich war, sich ohne Gewissensbisse zu verabschieden. Jutta gab Hanna die Hand und umarmte sie linkisch.

„Ich freue mich, dass du da bist, trotz der späten Uhrzeit. Ich hatte schon befürchtet, du kommst nicht mehr.“

„Klar, wir waren doch verabredet. Der Bus kam bloß mal wieder nicht vorwärts. Aber jetzt bin ja da. Sag mal, der Herr, mit dem du da eben im Gespräch warst, wer war das denn?“

Jutta zuckte unmerklich zusammen. Fahrig strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie antwortete.

„Wen meinst du? Was für ein Herr? Ich habe mit niemandem gesprochen. Da hast du dich mit Sicherheit verguckt. Komm, lass uns los.“

„Nein. Ich denke nicht. Hab doch gesehen, wie ihr die Köpfe zusammengesteckt habt. Er war ziemlich hochgewachsen und trug eine Art Übergangsmantel. Irgendwie kam er mir auch bekannt vor. War das ein Nachbar von dir?“

Sie sah ihre Mutter fragend an. Die murmelte noch, was von Feuer für die Zigarette geben lassen. Wie Hanna erneut zum Sprechen anhob, unterbrach sie Jutta mit einer abrupten Handbewegung. Sie ließ die Frage ihrer Tochter unbeantwortet, hakte sich bei ihr unter und zog sie gegen ihre Gewohnheit hastig auf sie einredend von der Haltestelle fort.

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Die Bilder waren zügig geknipst. Zum Glück hatte der Fotograf Einsicht mit Conny und ihrer misslichen Lage, denn eigentlich hatte er zehn Minuten vor Feierabend absolut keine Lust mehr auf eine störende Kundin. Indem der ältere Herr sorgfältig den Bestellschein ausfüllte, schielte sie unauffällig zum Ladenfenster hinaus. Sie sah Lutz in zwangloser Haltung, mit dem Rücken am Auto lehnend, stehen. Er sah entspannt aus, wie er da an seiner Zigarette zog und winzige Rauchkringel in die Luft blies. Bei diesem Anblick durchströmte sie eine unbändige Hitze. Er gefiel ihr mit dem dünnen Rollkragenpullover und der dunkelblauen Wisent Jeans. Sie schaute ihn unverblümt an. Es schmeichelte ihr, dass er auf sie wartete. Vor Aufregung, dass er da bis jetzt stand, zeichnete sich eine blasse Röte auf ihrem Gesicht ab. Am besten sie bildete sich nicht allzu viel darauf ein. Er war womöglich bloß ein hilfsbereiter Mensch. Ob sie heute noch etwas zusammen unternahmen? Mit verzücktem Lächeln schaute sie ihn weiterhin durch die Scheibe an und bemerkte dabei nicht, dass der Fotograf auf sie einredete.

„Hallo Fräuleinchen. Hören Sie mir überhaupt zu?“

Da Conny nicht reagierte, wedelte er mit seiner knochigen Hand vor ihrem Gesicht herum. Sie zuckte zusammen und kehrte erschrocken in die Realität zurück.

„Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?“, stammelte sie.

Der alte Herr schaute in Richtung Lutz und schmunzelte.

„Schmucker Junge. Lassen Sie ihn nicht zu lange warten, sonst setzt der sich in seinen schicken Lada und düst wie unser Vorzeigerennfahrer Ulli Melkus davon.“

Erschrocken drehte sich Conny um und eilte zum Ausgang.

„Sie haben recht. Vielen Dank noch mal.“ Hektisch erfasste sie die Klinke und riss die Tür auf. Der Ladenbesitzer stolperte hinter ihr her.

„Sie da, so war das doch nicht gemeint. Keine Angst. Er steht da noch wie angewurzelt. Hier nicht vergessen. Ihr Abholschein für die Passfotos. Wir sehen uns damit nächste Woche.“

Wie wenn jemand in ihrem Inneren eine Handbremse angezogen hatte, blieb Conny kerzengerade stehen. Langsam mit bestürzter Miene drehte sie sich um.

„Nächste Woche? Ist das Ihr Ernst. Wir haben doch vorhin darüber gesprochen, dass ...“. Weiter kam sie nicht. Der ältere Herr grinste sie schelmisch an.

„War nur ein Jux. Bleibt natürlich bei Freitag. Wie versprochen Fräuleinchen. Also bis dahin und jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen. Ich habe schließlich seit fünf Minuten Feierabend“, knurrte er versöhnlich.

Verräterische Zeiten

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