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DREI

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Jörg kam keuchend auf dem Zimmer an. Sein Freund Andreas, mit dem er sich die Bude teilte, lümmelte auf dem Bett und schaute ihm fragend entgegen. Dabei stopfte er sich, knabbernd wie ein Eichhörnchen, eine Salzstange nach der anderen in den Mund.

„Was ist denn mit dir passiert? Hat dich jemand verfolgt? Mit den zerzausten Haaren und deinen dreckigen Latschen siehst du aus, wie ein Tatverdächtiger aus dem Polizeiruf 110.“

„Einen Tick komme ich mir auch so vor. Wegener hat mich erwischt.“

Andreas setzte sich blitzschnell aufrecht hin.

„Wie meinst du das erwischt? Man das hat uns gerade noch gefehlt. Und was hat er gemeint?“

„Na ja, sagen wir mal so. Nicht wirklich erwischt. Ich habe die Abkürzung gewählt, bin auf sein dusseliges Beet getreten, besser gesagt reinversunken und da ist er ausgerastet.“

„Hat er dich kontrolliert?“

„Nein, natürlich nicht. Irgendwie komisch geguckt hat er schon. So blöd wie er mitunter aus seinen wässrigen graublauen Augen starrt, ist der auch wieder nicht. Man der Campingbeutel ist zu allem Überfluss heute überaus wuchtig. Hat ´ne richtige Beule hintendran. Ich hatte echt zu schleppen, so schwer war der.“

„Versteh ich nicht? Sonst benimmst du dich doch auch nicht so mädchenhaft. Also, was war anders?“

„Stell dir vor“, fing Jörg eifrig an zu erzählen, „der Konsum hat eine zusätzliche Lieferung Dessertwein erhalten und die nette Frau Lehmann war so großzügig und hat mir zwei Flaschen mitgegeben. Mit dem Pfeffi Likör und den Vollbierflaschen im Gepäck war die Fuhre megaanstrengend. Deshalb war mein Gedanke, den kürzeren Weg bei Wegener lang zu marschieren.“

Andreas packte voller Neugier den Rucksack seines Freundes aus. „Wow, das ist ja ´ne Menge Hochprozentiges, was du da angeschleppt hast. Da schaffen wir es wieder, es ordentlich krachen zu lassen. Zeig mal weiter.“

Als er die Weinflasche in der Hand hielt und die Marke lauthals vorlas, grinste er über das ganze Gesicht.

„Das ist ja der reinste Büchsenöffner. Da klappt das vielleicht endlich mit deiner Hanna.“

Jörg verdrehte bei der Bemerkung genervt die Augen. Er fand es nicht witzig, wenn Andreas solche Kraftausdrücke benutzte.

„Es ist nicht meine Hanna. Ich finde sie nett. Wir haben halt einen Draht zueinander. Mit der lässt sich echt klasse quatschen und die ist für jeden Spaß zu haben. So wie Kumpels eben, mehr ist da nicht.“

Andreas reagierte nicht weiter auf die Ausführungen seines Freundes, da er dessen fragwürdige Beteuerungen bereits kannte. Vielmehr widmete er sich wieder dem Inhalt des Rucksackes. Die Tüte Knusperflocken, die er dabei fand, riss er auf der Stelle auf, um begierig hinein zugreifen.

„Vor dir ist auch nichts Essbares sicher. Eigentlich war der Süßkram für die Mädels. Aber egal, lass es dir schmecken“, sagte Jörg mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Ich gehe ´ne Runde Laufen, damit ich mich nicht weiter über deine Fresssucht aufrege.“

„Laufen? Bist du sicher? Du warst bis eben erst unterwegs. Im Übrigen siehst du noch völlig fertig aus. Das kann nicht gesund sein.“

„Quatsch nicht, sondern komm mit. Ein paar Durchläufe an der frischen Luft auf dem Sportplatz schaden dir auf keinen Fall.“

„Ach nee, lass mal stecken. Ich habe noch für morgen den Aufsatz in Deutsch auszuarbeiten und außerdem ist ja gleich Abendbrotzeit. Heute gibt´s Karlsbader Schnitte. Lecker. Darauf freue ich mich bereits den ganzen Tag und nur um mit dir so ein paar alberne Runden zu drehen, werde ich auf das Festmahl unter keinen Umständen verzichten.“

„Na dann eben nicht. Wer nicht will, der hat schon.“ Mit einem „Bis später“, schmiss Jörg die Tür hinter sich ins Schloss.

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Conny und Hanna hatten ihren Mauerplatz verlassen und schlenderten Arm in Arm in aller Ruhe Richtung Kinderheim. Genau in dem Moment kam ihnen ein total verschwitzter Jörg entgegengelaufen. Gedankenverloren nickte er den Mädchen zu. Seine bis zum Kinn reichenden blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und er schob sich zwangsläufig eine feuchte Strähne hinter das Ohr. Dabei blitzte der silberfarbene Ohrring auf, den er seit ein paar Tagen trug.

Bei dieser Geste und seinem Anblick fingen Hannas Augen an zu leuchten und Conny fand, dass sie auch ein etwas debiles Lächeln in Richtung des jungen Mannes schickte. Mit spöttisch hochgezogener Augenbraue sah sie ihre Freundin eindringlich an und sagte mit gespielter Ernsthaftigkeit: „Nein, da besteht definitiv kein Interesse an Jörg. Falls doch, dann nur rein freundschaftlich. Ist klar.“

Hanna zuckte zusammen, wie aus einer Hypnose erwacht, und grinste über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht wie ein Honigkuchenpferd.

„Er sieht aber schon affengeil aus oder? Und so sportlich wie der ist“, schwärmte sie versonnen. „Da kann ich absolut nicht mithalten.“

„Kein Problem. Unter diesen Umständen ist es wohl an der Zeit, dass du deine Turnschuhe mal wieder aktivierst, um unumstritten Eindruck bei ihm zu schinden.“

„Sport? Ich? Bewegung gehört nicht so zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, wie du weißt. Glaubst du nicht, es gibt eine andere Möglichkeit sein Interesse zu wecken?“, fragte Hanna hoffnungsvoll und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Na ja, bestimmt. Aber über ein Hobby ist es mit Sicherheit unauffälliger mit ihm in engeren Kontakt zu kommen. Jörg ist in der Volleyballmannschaft der Schule, spielt Tischtennis wie Dieter Stöckel und rennt regelmäßig, wie du siehst. Also suche dir was aus davon, wenn für den ultimativen Kuss unbedingt so ein Milchbart herhalten muss.“

„Der Milchbart ist in deinem Alter und außerdem hatten wir das Thema erst. Deshalb ignoriere ich gnädigerweise diesen unoriginellen Einwurf deinerseits“, sagte Hanna und sah Conny gönnerhaft an. Die zog die Nase kraus, um nicht lautstark loszulachen. Sie merkte ja, wie sehr ihre Freundin auf Jörg abfuhr und hatte nicht vor, die Schwärmerei ins Lächerliche zu ziehen. Außerdem fand sie ihn selbst ganz in Ordnung für sein Alter.

„Oookay“, Hanna zog das Wort mit Absicht in die Länge, um Zeit zu gewinnen. „Du meinst also wirklich ich bin gut beraten, es mit sportlicher Betätigung zu versuchen. Hm, dazu ist es unverzichtbar mir erstmal brauchbares Turnzeug zu zulegen, damit ich etwas athletisch und gleichzeitig natürlich ansprechend aussehe. Wenn diese fundamentale Angelegenheit geklärt ist, werde ich weitere Gedanken daran verschwenden, welche Sportart am besten zu mir passt.“

Conny verdrehte genervt die Augen.

„So wird das nichts Hanna. Ein Hauch von Ehrgeiz gehört schon dazu. Beim Sport genauso wie beim Erobern von Milchbärten oder Jungs generell. Also für was für eine Art der Körperertüchtigung entscheidest du dich?“

„Mach mal nicht so ´ne Hektik. Lass mich bitte eine Nacht darüber schlafen. Morgen sag ich dir, zu welchem Entschluss ich gekommen bin. Versprochen. Jetzt marschieren wir erstmal gepflegt zum Abendbrot. Mit angemessener Stärkung gelingt es mir sicher, ausgiebiger über eine geeignete Sportauswahl inklusive Anziehsachen nachzudenken.“

Conny schaute skeptisch, hatte aber nicht vor, Hanna unter Druck zu setzen, und verkniff sich aus dem Grund jeglichen weiteren Kommentar.

„Geh du mal allein Essen, ich habe heute keinen Appetit. Ich verzieh mich aufs Sofa, um noch ein bissel Radio zu hören.“ „Von wegen Radio hören. Wie ich dich kenne, hast du dir schon wieder ein verzwicktes medizinisches Fachbuch ausgeliehen und lernst irgendeine verquere Testreihe auswendig oder was es da sonst so gibt.“ Hanna holte tief Luft, bevor sie weitersprach. „Bisweilen beneide ich dich. Dir fliegt der Lernstoff nur so zu. Du liest etwas und schwupp, schon ist der Inhalt in deinen Kopf katapultiert. Ebenso hast du auf jede Frage der Lehrer eine passende Antwort. Du bist so gescheit, dir macht so schnell keiner was vor. Glaub mir, du bekommst hundertprozentig einen Studienplatz. Wer sonst, wenn nicht du.“

Conny winkte ab. „Auch mir fliegt nicht alles zu und ich muss für meine Ergebnisse büffeln. Aber das ist jetzt egal. Geh du mal ordentlich reinhauen und nicht vergessen über deine zukünftige sportliche Disziplin nachzudenken.“ Dabei zwinkerte sie Hanna fast etwas gehässig zu. „Ich nehme dich beim Wort. Morgen ist der Tag der Entscheidung.“

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnete Conny Falk Wegener. Die Freude über das Treffen hielt sich in Grenzen. Auch wenn er erst zweiunddreißig Jahre alt war, war sein Gesicht fahl und aufgedunsen. Es hatte den Anschein, dass er immerfort etwas kränkelte. So war zumindest der äußere Eindruck. Die dicken Brillengläser und sein gewölbter Bauchansatz verbesserten sein Gesamtbild nicht wirklich. Sie hatte es bis heute nicht geschafft, ihn hundertprozentig einzuschätzen.

Die jüngeren Heimkinder bestaunten ihn regelrecht, wohl mehr wegen dieser unsagbaren Art, mit welcher er meisterlich auf der Gitarre spielte. Beim Musizieren blendete er wohl alles um sich herum aus, da er sich ganz den Gitarrenklängen hingab. Dabei verirrte sich schon mal ein Lächeln auf seinem Gesicht, was Seltenheitswert hatte. Oft hörten die Schüler ihm mit staunenden Augen und offenen Mündern zu. Von diesem Zeitpunkt an waren sie alle musikinfiziert und hatten nur einen Wunsch: Gitarre spielen zu lernen. Aus dem Grund gab es auch keinen Mangel an Interessenten für die entsprechende Arbeitsgemeinschaft, die er in dem Kinderheim ins Leben gerufen hatte. Die Musik-AG war eine reine Freizeitbeschäftigung für die Schüler.

Wegeners Beliebtheit in seiner Tätigkeit des Musiklehrers ließ allerdings zu wünschen übrig. Dafür war er zu akribisch und unnachgiebig im Unterricht.

Obwohl Falk sich Conny gegenüber verständnisvoll, stets fair und sogar herzlich verhielt, fand sie ihn auf eine gewisse Art doch unheimlich. Sie konnte allerdings keine plausible Erklärung dafür nennen.

„Guten Abend Conny. Na, war die Karlsbader Schnitte nicht schmackhaft genug oder hattest du wie so oft keinen Appetit? Bei deiner schlanken Figur hast du es doch nicht nötig, auf das Abendessen zu verzichten.“

Die getroffene Feststellung äußerte er ohne jeglichen Unterton in der Stimme, dabei glich sein Gesicht einer starren Maske. Dennoch bekam Conny eine Gänsehaut und ein Schauer kroch ihr wie eine glitschige Nacktschnecke über den Rücken. Der Auslöser für diesen lag eventuell auch an Falks Augen. Sein verschleierter Blick durchbohrte sie so eindringlich, wie wenn er ein Röntgenbild von ihrem Inneren erzeugen würde. Sie hatte keine Lust auf Erklärungen, nur das Bedürfnis schleunigst dieser für sie unangenehmen Situation zu entkommen. Also griff Conny zu einer Notlüge.

„Abend Herr Wegener. Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur eine Kleinigkeit auf dem Zimmer vergessen. Bin gleich wieder bei den anderen.“

Mit diesen Worten hastete sie zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock. Atemlos riss sie die Tür ihrer Stube auf und eilte hinein. Vorsorglich drehte sie den Schlüssel hinter sich zweimal im Schloss herum. Schwer atmend, aber erleichtert, lehnte sie sich mit dem Rücken an das kühle, glatte Holz. Obwohl ihr klar war, dass es absolut keinen Grund für ihre Ängstlichkeit gab, kam ihr das Zimmer sofort wie eine schützende Höhle vor. Langsam ließ ihr Herzklopfen nach und sie atmete wieder gelassener.

Nachdem sie sich gefangen hatte, rappelte sie sich auf, und wankte mit noch ein wenig wackligen Beinen zu ihrem Bett. Was war sie nur für ein Hasenfuß. Wegener hatte ihr doch nichts angetan. Sie lachte kaum vernehmlich ihre eigene Unsicherheit weg.

Um sich abzulenken, kramte sie ihr Tagebuch hervor. Unkonzentriert und ohne zu sehen was sie zuletzt geschrieben hatte, blätterte sie durch die mit Buchstaben gefüllten Seiten. Dabei knabberte sie gedankenverloren an ihrem Bleistift herum.

Verräterische Zeiten

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