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EINS

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Conny saß auf der niedrigen, abschüssigen Mauer hinter dem Haus. Von hier aus hatte sie einen uneingeschränkten Blick auf den Spielplatz mit dem alten Kletterpilz. Sein ausgeblichenes Pilzdach, die einsitzige Wippe, die nur noch ein rostiger Festhaltegriff zierte, das war ihr sehr vertraut. Der Kinderspielplatz war einer der wenigen Flecken in dieser Einöde Mecklenburg Vorpommerns, an dem hin und wieder etwas Action war. Wenn man eine Ansammlung rauchender, Bier trinkender Jugendlicher mit einem dröhnenden, nicht störungsfreien Kofferradio als eine Form der Unterhaltung ansah.

Für die Siebzehnjährige war es eher eine Strafe, hier sein zu müssen. Obwohl sie sich schon vor Jahren mit dieser oft trostlosen Lage arrangiert hatte.

Das Heim lag in einer verwaisten Gegend, am Rande einer Gemeinde, umgeben von Wiesen und Wäldern. Die Entfernung bis zur nächsten Kreisstadt betrug zwanzig Kilometer. Es gab zwar eine Busverbindung in Richtung Parchim, doch dem Fahrplan war nicht zu trauen. Per Anhalter fahren, war eine gängige Alternative, die jedoch von den Pädagogen nicht gerngesehen wurde. Aber die bemerkten ja zum Glück nicht alles, nicht nur was das Trampen betraf.

Conny war 1965 als Säugling in das Kinderheim „Clara Zetkin“ gebracht worden. Ihre Eltern waren gemeinsam kurz nach der Geburt der Tochter, bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen. Conny war damals die einzige Überlebende des furchtbaren Unglücks. Es gab zwar noch die Großeltern mütterlicherseits. Diese sahen sich aber aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr in der Lage, sich um das Baby zu kümmern. Mittlerweile waren sie verstorben.

Conny hatte kaum Grund, sich zu beklagen. Das Kinderheim war wie ein zu Hause für sie, auch wenn der Alltag darin kein reines Zuckerschlecken war. Zu wenig Erzieher mussten sich um viele Kinder kümmern. Nie blieb genug Zeit für jeden Einzelnen. Die Heimeltern gaben ihr Bestes und versuchten ihre Schützlinge fair zu behandeln. Das war nicht ohne Anstrengung möglich und führte hin und wieder zu Reibereien. Dem ging Conny aus dem Weg, indem sie sich in ihre Bücher vergrub. Lesen war ihre Leidenschaft. Neben Mädchenbüchern verschlang sie Werke der Weltliteratur wie Tolstois Anna Karenina, Abhandlungen aus medizinischen Fachzeitschriften und alles, was es an Wissenswertem zu entdecken gab. Das Lernen in der Schule fiel ihr nicht schwer, eher war es eine Art Hobby für sie. Mitunter langweilte sie sich, da ihre Auffassungsgabe weit über der ihrer Mitschüler lag.

Obwohl sie ihre Eltern nie kennengelernt hatte, war sie durch frühere Erzählungen ihrer Großeltern und alte Tagebucheintragungen ihrer Mutter mit ihnen und ihrem damaligen Leben verbunden. Die Großmutter erzählte stolz, dass ihre Tochter bis zu ihrem Tod in der Charité in Berlin beschäftigt war. Conny imponierte das und ihre Mutter wurde zum Vorbild für sie: Sie wollte später als Ärztin arbeiten, wie diese.

Die einzige Erinnerung an ihre Familie waren ein paar Fotos. Ihr Lieblingsfoto war eine schwarz-weiße Aufnahme mit gezacktem Rand aus den sechziger Jahren. Das Bild war mittlerweile total abgegriffen. Es zeigte sie als lachendes Baby auf dem Arm ihres stattlichen Vaters. Ihr Gesicht war zerknittert und ein spärlicher Haarflaum bedeckte ihren winzigen Babykopf. Ihre Mutter war viel zarter als ihr Ehemann. Als würde sie das ausgleichen wollen, stand sie hocherhobenen Hauptes und mit durchgestreckter Brust neben ihm. Doch ihr Blick war sanftmütig und leuchtete. Im Hintergrund war die Ahlbecker Seebrücke zu sehen. Conny liebte die verblichene Fotografie. In einsamen Momenten kramte sie die Aufnahme hervor und betrachtete sie sehnsüchtig. Sie hatte keine Erinnerungen mehr an ihre Eltern, doch oft vermisste sie sie schmerzlich, besonders die Mutter. Gern hätte sie mit ihr geredet, über ihre Probleme, ihren ersten Liebeskummer oder sonstige alltägliche Sachen.

Zum Glück gab es Hanna. Beim Gedanken an sie lächelte Conny. Genau in dem Augenblick bog ihre Freundin völlig außer Atem um die Ecke.

„Ach hier bist du. Wie ich schon vermutet habe. Meine Spürnase hat mich direkt zu dir geführt.“

Mit einem vernehmlichen Schnaufen schwang sie ihren wohlgerundeten Körper zu Conny auf die Mauer. Sie fingerte eine Zigarette aus einer zerknautschten Packung. Bevor sie allerdings dazu kam ein Streichholz zu entfachen, hatte Conny ihr den Glimmstängel rigoros aus der Hand gerissen.

„Wie oft denn noch? Lass es endlich sein! Das Teufelszeug ist nicht gesund für dich oder hast du Lust, dir wiederholt so eine schwere Bronchitis einzuholen wie vor ein paar Wochen?“

„Ach, das war doch nur eine harmlose Erkältung und kam sicherlich nicht vom Rauchen.“ Hanna winkte nachlässig ab.

„Na klar, harmlos. Und wer hat sich die gesamte Zeit um dich gekümmert, als ein Hustenanfall nach dem anderen dich schüttelte? Nix da, du quarzt nicht mehr und basta.“

Mit diesen energischen Worten zerrte sie, wie an dem Ende eines Knallbonbons ziehend, Hanna die Schachtel aus der Hand. Die rollte entrüstet mit ihren hellbraunen Augen, die je nach Lichteinstrahlung einen bernsteinfarbenen Schimmer zeigten, und rubbelte sich heftig durch ihre kurzen schwarzen Haare.

„Eh, was soll das? Nur weil du gerade mal ein Jahr älter bist als ich, hast du keinen Freifahrschein, dich wie eine olle, autoritäre Erziehungstante aufzuführen.“

„Na, so schlimm ist es ja nun auch nicht. Schließlich muss es jemanden geben, der auf so eine Chaotin, wie du eine bist, aufpasst“, erwiderte Conny lachend und stupste dabei ihre Freundin in die Seite.

Hanna war vor zehn Jahren im Kinderheim abgegeben worden. Eine Mitarbeiterin der Jugendfürsorge hatte sie total verwahrlost zuhause in ihrem Kinderbett gefunden. Ihre Mutter war selbst fast noch ein Kind und mit der Erziehung heillos überfordert.

Die beiden Mädchen wuchsen wie Schwestern auf. Conny war zielstrebig und fleißig, Hanna hingegen träumte gern vor sich hin und neigte dazu, die Dinge etwas zu locker zu sehen. Sie standen sich sehr nah, vertrauten einander und redeten über alle Sorgen und Nöte ihres Lebens. Geheimnisse voreinander gab es keine. Gemeinsam hatten sie jene Mauer auf der Rückseite des Haupthauses zu ihrem Lieblingsplatz erkoren. Hier verbrachten sie einen Großteil ihrer Freizeit, wenn sie ungestört sein wollten, sie alles nervte oder um sich mit „Jungs gucken“, wie sie es nannten, die Langeweile zu vertreiben. Sie amüsierten sich prächtig über die schlaksigen und fast ausnahmslos pickeligen Burschen aus dem Ort, die täglich den angrenzenden Spielplatz belagerten.

In unmittelbarer Nähe stand ein Jugendklub. Hier organisierte der kommunistische Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ) jeden Freitag und Samstag Diskoabende. Diese Veranstaltungen fingen gegen 19 Uhr an und waren nach sozialistischer Vorschrift um Mitternacht wieder beendet. Auch Conny, Hanna und die anderen Jugendlichen des Kinderheims „Clara Zetkin“ verbrachten hier am Wochenende ihre Freizeit.

Die beiden Freundinnen liebten diese Abwechslung aus dem Heimalltag und es war jedes Mal ein spannendes Ritual sich für den Abend zurechtzumachen. Sie schminkten sich gegenseitig und waren megaaufgeregt bei der Frage: „Was anziehen?“ Da die Anzahl und Vielfältigkeit ihrer Kleidungsstücke begrenzt war, tauschten sie untereinander ihre Klamotten. Auch am morgigen Samstag hatten sie vor, sich wieder in das Getümmel der tanzwütigen Menge zu stürzen.

„Was meinst du?“, fragte Hanna kichernd wie ein Troll, „ob Jörg es schafft eine Flasche von dem Kaugummilikör ins Heim zu schmuggeln? Damit kommen wir vorher schon in Stimmung und sind nicht gezwungen später im Klub so viel Kohle für Alkohol auszugeben.“

„Dein Jörg schafft das mit Sicherheit“, antwortete diese schmunzelnd.

„Das ist nicht mein Jörg. Was unterstellst du mir denn da? Wir verstehen uns halt, das ist alles“, brauste Hanna auf. „Wir sind nur gute Freunde.“

„Ist klar. Nur gute Freunde. Du kennst ja meine Meinung zu diesem Thema. Nur Freundschaft zwischen Mann und Frau gibt es nicht und wird es nie geben. Einer von beiden hegt stets und ständig Gefühle für den anderen. Auch wenn man das nicht wahrhaben will. Man kommt aus der Sache nicht wieder heil raus, ohne dass sie oder er vor den Kopf gestoßen wird. Glaub mir das.“

„Bei uns ist das absolut nicht so“, erwiderte Hanna, allerdings nicht wirklich überzeugend. Sie hatte selbst noch nicht herausgefunden, wie sie zu Jörg stand und wie ihre Verbindung zu deuten war. Um im Moment aber von sich abzulenken, fing sie eifrig an, auf Conny einzureden.

„Na dir ist ja nie ein männliches Wesen recht. Entweder ist er zu kurz geraten, zu dick, zu dünn oder nicht studiert genug. Keiner entspricht deinen Anforderungen. Du bist reichlich wählerisch meine Liebe.“

„So dramatisch ist das nun auch wieder nicht. Aber die meisten Jungs die hier auf dem Dorf rumhängen sind nun mal schlichtweg langweilig, vor allem zu kindlich und ohne jede Lebenserfahrung. Ich wünsche mir eben einen reiferen, gebildeten und kultivierten Freund. Gegen ein wenig Attraktivität seiner Person hätte ich auch nichts einzuwenden.“

Hanna lachte schallend und sagte: „Träum weiter. Wo meinst du denn, den hier herzubekommen? Da wirst du nicht umhinkommen dir einen geeigneten Kandidaten eigenhändig zu backen.“

Während sie sprach, angelte sie betont unauffällig nach der Zigarettenpackung, die Conny neben sich auf die Mauer gelegt hatte. Diese ließ sie gewähren und gab vor, nichts mitzubekommen. Ihr war es eh nicht möglich, Hanna vom Rauchen abzuhalten. Zumindest dämmte sie mit ihren Aktionen den Konsum ihrer Freundin hin und wieder ein.

Verwirrt, da von Conny kein Protest erklang, zündete sich Hanna ihre ergatterte Zigarette an. Genüsslich blies sie winzige Kringel in die Luft. Schweigend saßen die Freundinnen noch eine Weile nebeneinander auf ihrem Lieblingsplatz, genossen den lauen Sommerabend und hingen ihren Gedanken nach.

Verräterische Zeiten

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