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Kapitel 8

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Robert Nourilly hatte seinen Fahrer für 11 Uhr bestellt. Er sollte ihn zum Bahnhof bringen um den Kontaktmann aus Luxemburg zu treffen. Nourilly war von der Vorstellung, hier einen „Ausländer“ begrüßen zu müssen nicht gerade erbaut gewesen. Es reichte ihm schon, dass man diesen „Pariser“ Crayont hierher beordert hatte, der allem Anschein nach über mehr Kompetenzen verfügte als er selbst. Nourilly war Bretone und wie alle Bretonen zählte für ihn zuerst die Bretagne und dann kam Frankreich. Daher war dieser Crayont schon schlimm genug, aber auch noch einen Luxemburger, das war des Guten eigentlich zu viel. Aber Paris wollte es so.

Als Nourilly am Bahnhof von Quimper ankam, blieben noch einige Minuten Zeit bis der TGV aus Paris eintraf. Hoffentlich ist der Zug pünktlich, dachte er sich. In den letzten Monaten hatte es immer wieder Verspätungen gegeben, weil Selbstmörder sich vor die Züge warfen. Bei der SNCF war man ratlos. Der Schock der Lokomotivführer führte bei einzelnen zu ernsthaften psychischen Problemen und die entstehenden Verspätungen hatten an manchen Tagen zu viel Unmut unter den Reisenden geführt. Verspätungen von drei oder vier Stunden waren keine Seltenheit bei solchen Vorfällen.

Heute kam der Zug aber ohne Zwischenfälle in Quimper an. Pünktlich lief er in den Bahnhof ein. Nourilly holte das kleine Bild, das man ihm gefaxt hatte aus der Tasche um Medernach erkennen zu können. Es dauerte auch nicht lange dann entdeckte er den älteren Herrn unter den Passagieren, die dem Ausgang zustrebten.

„Bonjour Monsieur Medernach!“ begrüßte er Henri Medernach, als der schon beinahe an ihm vorbeigegangen war.

„Monsieur Nourilly?“ fragte Medernach und reichte ihm die Hand zur Begrüßung.

„Ja, ich bin Robert Nourilly!“ Er ergriff die ihm entgegengestreckte Hand und begrüßte Monsieur Medernach.

„Mein Wagen steht vor der Tür, wir fahren zuerst ins Kommissariat. Dort werde ich Sie in den Fall einweisen und Ihnen Commissaire Kerber vorstellen. Aber so viel mir gesagt wurde, kennen Sie beide sich ja bereits von früher?“

„Oh ja, ich kenne Ewen schon seit mehr als dreißig Jahren. Er müsste doch auch schon langsam auf die Pensionierung zugehen? Er ist allerdings einige Jahre jünger als ich. Ich habe mich erst sehr spät entschieden zur police judiciaire zu gehen und so hatte ich ein höheres Alter bei meinem Eintritt in die ENSP als mein Freund.“

Nourilly erwiderte darauf nichts.

„Es ist nicht weit bis zum Kommissariat, Monsieur Medernach.“ sagte er und ging in Richtung des Ausganges. Medernach folgte ihm.

Henri hatte den Eindruck, dass Monsieur Nourilly nicht gerade sehr gesprächig war. Er schien ihm beinahe etwas abweisend. Henri beließ es bei seinem Eindruck und folgte Nourilly zu dem Fahrzeug.

Der Fahrer hatte Anweisung, an den Hintereingang des Kommissariats zu fahren. Nourilly wollte vermeiden, dass man Medernach in seiner Begleitung. sehen könnte. Es war zwar eher unwahrscheinlich, dass eine Person aus dem Umfeld der Fälscher von dem Eintreffen des ehemaligen Kommissars aus Luxemburg wissen konnte. Aber Crayont hatte darum gebeten, dass man alles vermeiden sollte, was auffällig hätte sein können.

„Kommen Sie, Monsieur Medernach, wir gehen in mein Büro. Ich darf vorgehen?“

„Aber selbstverständlich, ich kenne den Weg nicht.“ sagte Medernach und folgte Nourilly nach oben. Das Büro von Nourilly war sehr geräumig, ein großer Besprechungstisch stand gleich neben der Tür und auch ansonsten war es ansprechend möbliert. Nourilly zeigte auf die kleine Sitzecke und bat Medernach, doch Platz zu nehmen. Dann ging er zu seinem Telefon und sprach mit seiner Sekretärin.

„Nolwenn, bitten Sie doch Kerber zu mir und bringen Sie uns drei Tassen Kaffee.“

Dann ging er zu Medernach und setzte sich ihm gegenüber.

„Monsieur Medernach, inwieweit hat man Sie über diesen Fall unterrichtet?“

„Nun, mir ist bekannt, dass ich eine Fälscherwerkstatt ausfindig machen soll, in Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Kerber, dass ein Mann inzwischen tot aufgefunden wurde und dass die ganze Angelegenheit bereits zu diplomatischen Verwicklungen mit China geführt hat, beziehungsweise, dass die Chinesen an einer raschen Aufklärung sehr interessiert sind, da sie einen Großteil ihrer Währungsreserven in Euro halten und nicht sehr glücklich darüber wären, wenn es sich bei einigen hundert Millionen davon um Falschgeld handelte. Ansonsten habe ich keine weiteren Informationen.“

„Wissen Sie, wie man darauf kam, dass die Fälscher sich in unserem Departement befinden sollen?“

„Ja, darüber wurde ich auch unterrichtet. Es gab da wohl diese Faser, die auf ein Fischernetz aus Concarneau hindeutet.“

„Richtig, eine blaue Faser, wie sie für die Netze hier benützt wird. Allerdings bedeutet das nicht, dass wir uns auf Concarneau beschränken können bei den Ermittlungen. Die ganze Region benützt diese Netze.“

„Das war mir schon klar als ich davon erfuhr“ meinte Medernach, „aber der Tod des Agenten in Pont Aven deutet doch wohl an, dass der Mann eine erste Entdeckung dort gemacht haben muss. Ich würde mir daher den Ort gerne genauer ansehen.“

In diesem Augenblick öffnete Nolwenn Meunier die Tür zum Büro von Nourilly und ließ Ewen Kerber eintreten. Medernach warf einen Blick auf die Sekretärin. Eine ausgesprochen hübsche Erscheinung, dachte er sich, doch dann sah er seinen alten Freund Ewen Kerber eintreten. Sofort stand er auf und man konnte seinem Gesicht ansehen, dass er freudig erregt war, Ewen nach so vielen Jahren wiederzusehen.

„Ewen, lass dich umarmen!“ sagte Medernach und nahm seinen Freund in den Arm. Ewen Kerber strahlte ebenfalls.

„Du bist grau geworden, mein lieber Freund,“ sagte er zu Henri Medernach, „aber ansonsten immer noch genau derselbe wie früher. Ich freue mich, dich in meiner Heimat begrüßen zu dürfen. Wir werden uns in den nächsten Tagen viel zu erzählen haben.“

„Das werden wir sicherlich.“ meinte Medernach und klopfte Ewen väterlich auf die Schulter.

„Nehmen Sie bitte Platz, Monsieur Kerber.“ sagte Nourilly und zeigte auf den noch freien Platz.

Kerber und Medernach setzten sich und Nourilly wurde wieder dienstlich.

„Wir waren gerade dabei über ihren gemeinsamen Fall zu sprechen, Monsieur Kerber. Monsieur Medernach meint, dass er mit seinen Nachforschungen in Pont Aven beginnen würde, da man dort den Toten gefunden hat.“ Zu Medernach gewandt meinte er dann:

„Der Mann könnte aber auch nur dort abgelegt worden sein um die Spuren zu verwischen.“

Medernach nickte und sah zu Ewen Kerber als er antwortete.

„Ich denke, dass man den Toten überrascht hat als er eine Entdeckung machte, aber die Spuren am Tatort können uns vielleicht etwas mehr verraten. Habt ihr etwas Besonderes entdecken können bei der Spurensicherung, Ewen?“

Ewen Kerber schüttelte den Kopf.

„Nein, es gab nur eine Schleifspur parallel zum Aven und die führte zu einem Felsen. Das Fehlen von Blut auf dem Felsen deutet aber daraufhin, dass der Mann nicht dort ermordet wurde.“

„Wenn er aber nicht dort ermordet wurde, wie ist er dann dort hingekommen? Er muss ja zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen sein. Am Fundort habt ihr keine größeren Blutspuren finden können und am Ende der Schleifspur auf diesem Felsen auch nicht. Führte denn eine weitere Spur von dem Felsen weg?“ Henri sah seinen Freund gespannt an.

„Eben nicht, das hat mich deshalb sofort auf den Gedanken gebracht, dass der Tote nur über den Aven transportiert worden sein konnte. Aber von wo aus und warum zu dieser Stelle. Hätte man ihn auf diesem Felsen liegen lassen, dann wäre es durchaus denkbar, dass man den Leichnam vielleicht erst in ein paar Wochen oder sogar Monaten gefunden hätte. Dieser Felsen ist abseits der üblichen Spazierwege entlang des Aven. Wobei sich die schöneren Wege sowieso auf der anderen Seite befinden, aber das nur nebenbei bemerkt.“

„Interessant, sehr interessant.“ murmelte Medernach.

Die drei besprachen noch eine Weile das weitere Vorgehen und Ewen Kerber und Medernach verabredeten sich dann für den Abend in Melgven. Nourilly informierte Medernach noch darüber, dass man ihm einen Mietwagen besorgt habe, der auf dem Parkplatz des Kommissariats stand und der ihm für die Dauer seines Aufenthaltes zur Verfügung stand. Natürlich war es ein bretonisches Auto, ein Citroën C4.

Nachdem Henri Medernach sich verabschiedet und seinen Wagen in Besitz genommen hatte machte er sich auf den Weg nach Concarneau zu seinem Hotel. Er war froh, dass der Wagen ein Navigationsgerät besaß, das ihn aus Quimper zur voie express führte. Zahlreiche Kreisverkehre mussten passiert werden bevor er auf die Schnellstraße nach Concarneau kam. Nach vielleicht fünfzehn Kilometern kam bereits die Ausfahrt von Concarneau. Medernach fuhr von der voie express ab und folgte dem Navigationsgerät. Vor dem ersten Kreisverkehr sah er auf dem Hinweisschild, dass die vierte Ausfahrt nach Melgven führte. Er musste aber jetzt an der dritten, in Richtung Stadtzentrum abbiegen. Sein Hotel das «Les Sables Blancs» befand sich an dem gleichnamigen Strand. Sein Navi führte ihn vorbei an dem Einkaufszentrum von Leclerc. Medernach überlegte, dass er sich hier einige Kleinigkeiten kaufen könnte. Gummistiefel waren unbedingt nötig wenn man in der Bretagne oft am Wasser entlang gehen wollte. Er bog auf den Parkplatz des Einkaufszentrums, parkte und betrat den Supermarkt.

Mit den Gummistiefeln und verschiedenem Obst fuhr er anschließend durch ein sehr ruhiges Wohngebiet in Richtung seines Hotels. Er bog in die Rue des Sables Blancs ein und folgte der Straße nach Westen. Bereits nach wenigen hundert Metern sah er das Hotel auf der linken Seite liegen. Er stellte seinen Wagen vor dem Hotel ab. Medernach stieg aus und atmete die frische Meeresluft tief ein. Er roch die Algen und plötzlich hatte er das Gefühl im Urlaub zu sein. Henri drehte sich um und betrachtete das Hotel. Es hatte vier Sterne und sah durchaus ansprechend aus.

Mit dem Hotel Imperiale in Santa Margarita durfte er es natürlich nicht vergleichen. Er hatte dort den schönsten Urlaub seines Lebens verbracht, gleich nach seiner Pensionierung. Es sollte ein Traumurlaub werden. Es wurde auch ein Traumurlaub, allerdings mit einem Kriminalfall verbunden, den er lösen konnte und bei dem er eine bezaubernde junge Frau kennengelernt hatte, mit der er bis heute freundschaftlich verbunden geblieben ist.

Medernach nahm seinen Koffer aus dem Kofferraum, die Gummistiefel ließ er stehen und betrat die Eingangshalle. An der Rezeption wurde er von einer charmanten jungen Frau begrüßt, die ihm, nachdem er seinen Namen genannt hatte das Anmeldeformular und danach den Zimmerschlüssel aushändigte. Zimmer 214 auf der zweiten Etage. Medernach bedankte sich und ging auf sein Zimmer. Er legte sich ein wenig hin um sich von der langen Zugfahrt zu erholen.

Es war gegen vier Uhr am Nachmittag als Medernach sich auf den Weg machte, die nähere Umgebung zu erkunden. Zuerst wollte er sehen, wo das Haus lag, in dem er sich am Abend mit Ewen Kerber verabredet hatte. Er verließ das Hotel. Mit seinem Mietwagen fuhr er nun den Weg zurück. Nachdem er sich in den diversen Kreisverkehren total verfahren hatte, entschloss er sich, doch lieber das Navigationsgerät zu befragen. Medernach stellte sich in eine Parklücke und gab die Adresse ein, Kermanchec, Melgven. Mehr hatte er nicht bekommen. Vergeblich sah er nach, ob sich nicht doch noch eine Hausnummer oder ein Straßenname fand. Nichts!

Er überlegte, ob es sich bei der Adressangabe um eine Aufgabe handelte seinen kriminalistischen Instinkt zu testen oder ob es hier in der Bretagne üblich war eine Adresse eher vage anzugeben um nicht direkt gefunden zu werden. Henri Medernach steuerte seinen Wagen nun, entsprechend der Angaben auf dem kleinen Bildschirm seines Navi durch die Seitenstraßen von Concarneau.

Als er die D783 erreicht hatte, zeigte das Gerät, dass er dieser Straße folgen sollte. Er durchfuhr mehrere Kreisverkehre und überquerte den Pont du Moros. Von der Brücke aus hatte er einen schönen Blick auf den Hafen von Concarneau und auf die Ville Close, der Altstadt von Concarneau, von der er gelesen hatte und die er unbedingt während seines Aufenthaltes besuchen wollte. Es war eine der am meisten besuchten Attraktionen der Bretagne.

Nachdem er die Brücke überquert hatte, zeigte das Navi, dass er gleich nach links abbiegen sollte. Die Ampel stand auf grün und er konnte abbiegen. Er folgte nun der D22 und der Hinweistafel Melgven. Der Weg führte ihn an einem kleinen Weiher vorbei und er erreichte nach etwa einem Kilometer einen Lieu dit, Maison Blanche, auf bretonisch Ty Gwenn, wie er dem Ortsschild entnehmen konnte.

Für Medernach war es ganz normal, dass man die Orte auf Französisch und Bretonisch bezeichnete. Auch in Luxemburg waren die Schilder zweisprachig.

Wenn Henri gut aufgepasst hatte, dann waren es gerade zwei oder drei Häuser, die sich hier befanden. Er folgte der Straße. Nach wenigen hundert Metern tauchte dann das kleine Ortsschild «Kermanchec» auf. Er stellte fest, dass hier viele Häuser standen. Als er bis zwanzig gezählt hatte und der Ort sich immer noch fortsetzte, hörte er auf zu zählen und überlegte, wie er nun das richtige Haus finden sollte. Er war jetzt bereits durch den ganzen Weiler gefahren und es gab einige Seitenstraßen, in denen sich ebenfalls zahlreiche Häuser befanden. Wie kriegt der Briefträger hin, hier die Post zu verteilen? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als alle Bewohner zu kennen. Jeder neue Briefträger würde seine Probleme haben, sich hier sofort zurechtzufinden.

Henri Medernach stellte den Wagen auf dem Seitenstreifen, gleich hinter einem «Calvaire», wie die Wegkreuze hier hießen ab und rief Ewen an. Er war froh, dass Ewen Kerber ihm seine Handynummer gegeben hatte, bevor er von Quimper nach Concarneau aufgebrochen war.

„Kerber.“ meldete sich sein Freund nach wenigen Sekunden.

„Ewen, hier ist Henri, ich habe versucht, ein wenig die Umgebung zu erkunden und wollte auch das Haus finden, in dem wir uns am Abend treffen. Aber die Adresse ist kryptisch. Unter «Kermanchec» finde ich ein kleines Dorf, wie soll ich das richtige Haus finden? Eine Hausnummer und ein Straßenname wären hier hilfreich.“

„Du hast recht Henri, auch die Menschen aus der Gegend haben ihre Schwierigkeit damit. Man muss entweder den Besitzer nach einer genauen Lagebeschreibung fragen oder jemanden finden, der die Bewohner kennt. In unserem Fall hat Monsieur Nourilly vergessen dir zu sagen, dass wir uns im Haus von Madame Miliner treffen. Das Haus wurde für einige Wochen angemietet. Wo genau befindest du dich im Augenblick?“

„Ewen, ich stehe hier wenige Meter hinter einem Calvaire, am Ende des Lieu dit Kermanchec.“

„Dann hast du das Haus nur wenig verfehlt, mein Freund. Du musst umdrehen und zurück in Richtung Concarneau fahren. Das dritte Haus links nach dem Calvaire ist das Haus, in dem wir uns später sehen.“

„Ewen, ich danke dir. Bis bald.“ Medernach legte auf und wendete den Wagen. Nun sah er auf der linken Seite das Haus. Das Tor stand offen und Henri erkannte einen kleinen Parkplatz hinter den Büschen, die rechts und links die Einfahrt säumten. Jetzt war es für ihn kein Problem mehr, am Abend Ewen hier zu treffen. Erneut wendete er das Fahrzeug und fuhr weiter in Richtung Melgven und nach Pont Aven.

Die Ortsbeschreibung von der Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte war ihm noch so präsent, dass er nicht sofort auf seine Notizen sehen musste, die er bei dem Gespräch mit Nourilly und Kerber gemacht hatte.

Er durchquerte das kleine Zentrum von Melgven und fuhr in Richtung der voie express. Er bog dann rechts in die D24 ein und folgte nun dieser Straße bis nach Pont Aven.

Er kannte Pont Aven nur aus Erzählungen. Ein Ort, der mehr Galerien als Einwohner zählte, hatte ein Freund einmal zu ihm gesagt. Das war auch Medernachs erster Eindruck, als er das Ortsschild passiert hatte und an jedem zweiten Haus den Schriftzug «Galerie» las. Bevor er im Ortskern ankam, hatte er bestimmt schon zehn Galerien gezählt. Henri bog an der Brücke über den Aven links ab und folgte der D763, wie Ewen es ihm beschrieben hatte. Als er das kleine Hinweisschild «Ty Glaz» sah, bog er nach rechts in diese Straße ein. Dieser sollte er folgen, bis er in die Straße «Rue de Thoniers» kam, die später in die «Rue des Deux Rivières» überging. Am Ende der Straße sollte er rechts abbiegen, dann hätte er den Ort, beziehungsweise die Straße Coat Melen erreicht.

Als Medernach die beschriebene Stelle fast schon erreicht hatte, stellte er den Citroën ab und stieg aus. Er wollte jetzt die wenigen hundert Meter zu Fuß gehen um als Spaziergänger zu gelten. Er holte die zuvor gekauften Gummistiefel aus dem Kofferraum und zog sie an, stellte seine Schuhe hinein und folgte der Straße.

Die Landschaft war herrlich, große Weizenfelder und Felder mit Mais wechselten sich ab, dazwischen standen immer wieder Baumreihen, die mal als Allee angelegt waren und mal als Abgrenzung der verschiedenen Anwesen dienten. Ganz kleine, waldähnliche Baumpflanzungen schienen wild entstanden zu sein. Medernach ging an den Häusern vorbei, die nicht den Eindruck machten als ob hier arme Leute wohnten.

Er folgte der Straße, die eine Kurve nach links beschrieb. Von Ewen wusste er, dass er hier nur noch wenige hundert Meter von der Fundstelle der Leiche entfernt war. Als die Straße nun erneut nach links abbog, konnte er den kleinen Weg bereits erkennen, der rechts zum Ufer des Aven hinab führen würde, bis an die kleine Bucht, Anse Melen, die Stelle, an der man die Leiche gefunden hatte. Henri bewegte sich sehr vorsichtig und verhielt sich wie ein Wanderer auf unbekanntem Terrain. Auch blieb er immer wieder stehen, sah sich die Gegend an, betrachtete die Häuser und schlenderte gemächlich weiter, so als habe er kein Ziel vor Augen und alle Zeit der Welt. Er hatte nun den kleinen Weg erreicht, der zum Aven führte. Er bog in den Weg ein und schlenderte weiter, die Hände auf dem Rücken. Nach knapp hundert Metern sah er die Bänder der Polizeiabsperrung. Er achtete darauf, die Absperrung nicht zu ignorieren und hielt sich auf dem nicht versperrten Teil des Weges. Als er an die kleine Bucht kam, die der Aven hier bildete, ließ er seinen Blick über den Fluss schweifen. Ein unbedarfter Zuschauer hätte schwören können, dass dieser Mann rein zufällig hierhergekommen war. Henri betrachtete das Ufer sehr aufmerksam. Er studierte den einzigen höheren Felsen ganz genau. Es musste die Stelle sein, an der die Schleifspur endete, von der Ewen berichtet hatte. Der kleine Weg, auf dem er gerade von der Anhöhe bis hierher ans Ufer gekommen war, bog hier nach rechts ab und man konnte vielleicht nochmals fünfzig oder achtzig Meter am Ufer entlang gehen. Medernach ging langsam weiter. Er wollte so nahe wie möglich an den Felsen herankommen, jedoch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er überlegte, wie es möglich gewesen ist, die Leiche zum Felsen zu bringen. Nach seiner Einschätzung blieb nur der Fluss übrig.

Ewen war zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Die Leiche musste mit einem Boot bis zum Felsen gebracht worden sein. Aber warum? Wieso macht sich jemand die Mühe, eine Leiche mit einem Boot zu transportieren, dann auf einen Felsen hochzuhieven, sie anschließend durch den kleinen Wald bis zu der Lichtung zu schleifen, um sie dort dann am Ufer des Aven abzulegen? Man hätte sie doch sofort zu der Stelle mit dem Boot bringen können. Henri Medernach überlegte noch immer, als er plötzlich eine Stimme vernahm.

„Nicht wahr, Monsieur, dies ist ein herrliches Fleckchen Erde?“

Medernach drehte sich abrupt um und sah einem älteren, so um die siebzig Jahre alten Herren ins Gesicht. Der Mann lächelte ihn an.

„Ich habe Sie doch nicht etwa erschreckt?“

Henri hatte sich wieder gefasst.

„Ja, Sie haben mich etwas erschreckt. Ich war nicht darauf gefasst, jemandem zu begegnen. Ich bin ganz in Gedanken hier entlang spaziert. Sie haben aber recht, es ist ein wunderschönes Fleckchen Erde. Ich habe von dem Bois d`Amour, hier am Aven gehört und den wollte ich mir natürlich ansehen.“

„Da haben Sie aber den falschen Ort besucht Monsieur…?“

„Henri, Henri Medernach ist mein Name. Verzeihen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe.“

„Angenehm, ich heiße Yves Gwenn, alter bretonischer Adel.“ Der Mann lachte, als er das sagte. „Ich könnte genauso gut Blanc heißen, es hätte die gleiche Bedeutung, aber mir gefällt der bretonische Name besser. Doch zurück zum Bois d´Amour. Der befindet sich in Pont Aven und nicht hier am Aven.“

„Oh, da habe ich mich aber wirklich an den falschen Ort begeben. Was gibt es denn hier zu sehen, wenn ich schon einmal da bin?“ Medernach sah den Herrn ruhig und freundlich an. Er war froh, dass ihm dieser Bois d´Amour eingefallen war. Er wusste zwar nicht genau, wo er ihn finden würde, aber dass er unmittelbar bei Pont Aven lag, das war ihm bekannt. Die Maler der Ecole de Pont Aven hatten sich viel in diesem malerischen Wald aufgehalten und sich von ihm inspirieren lassen.

„Nun, hier können Sie sich höchstens die Grotten ansehen, die sieht man aber besser vom Wasser aus oder von der anderen Seite. Von diesem Ufer aus kann man keinen vernünftigen Blick darauf werfen. Besichtigen kann man sie ja nicht. Es sei denn, man ginge mit einer Taucherausrüstung hinein. Es dürfte aber doch eher gefährlich sein. Wenn Sie sich aber einen ersten Eindruck über den Aven verschaffen wollen, dann sollten Sie unbedingt mit dem Boot von Pont Aven aus den Fluss hinunter fahren. Auch wenn nur Touristen an Bord sind, so ist es doch eine lohnenswerte Fahrt.“

„Sie wohnen wahrscheinlich hier in einem der Häuser?“ fragte Medernach Monsieur Gwenn. Vielleicht konnte er ja einige Informationen über die restlichen Bewohner erhalten.

„Ja, bereits seit sechzig Jahren. Gleich hier oben.“ Monsieur Gwenn zeigte auf das Haus oben an der Straße, an dem Medernach vorhin vorbeispaziert war.

Henri dachte sich, dass der Mann ihn ja gesehen haben könnte und ihm neugierig gefolgt sei. Alles Fremde fiel hier sofort auf.

„Wohnen viele Menschen so privilegiert? Ich kann nicht umhin, ein Grundstück und ein Haus in einer solchen Umgebung als ein Privileg zu benennen.“ Medernach sah Monsieur Gwenn an und erwartete eine Antwort.

Monsieur Gwenn lachte mit einer gewissen Genugtuung.

„Ja, wir wohnen hier wirklich sehr bevorzugt. Aber es ist auch durchaus gefährlich hier zu wohnen. Sehen Sie, die Abgeschiedenheit der Häuser bringt es mit sich, dass verschiedentlich dunkle Gestalten ihr Unwesen treiben. Einen Einbruch hier zu verüben ist deutlich ungefährlicher als in Pont Aven oder in einer anderen Stadt. Bis die Polizei ankommt sind die Einbrecher häufig schon wieder unterwegs nach Lorient oder sonst wohin.“

Während sie sich unterhalten hatten, waren Medernach und Monsieur Gwenn gemeinsam den Weg zurück zur Straße gegangen. Als sie oben angelangt waren, meinte Monsieur Gwenn:

„Hier wohnen übrigens auch sehr bekannte Menschen. Sehen Sie das Haus dort drüben?“ Er zeigte auf ein stattliches Anwesen, etwa dreihundert Meter entfernt. „Dort wohnt Monsieur Corentin Murat, der Maler. Seine Bilder kann ich mir nicht leisten, sie sind viel zu teuer für mich. Vor zehn Jahren, da hätte ich ein Bild von ihm für sechzig Euro kaufen können, aber sie gefielen mir nicht. Für mich waren es Farbkleckse, aber keine Kunst. Heute muss man für dieses Geschmier 100.000 Euro bezahlen. Die Menschen, die das kaufen haben keine Ahnung von Malerei. Ich bin auch Künstler, Maler und Bildhauer, wie viele hier in Pont Aven. Corentin hat nicht einmal eine Académie des Beaux-Arts besucht, geschweige denn die Ecole hier in Pont Aven. Damit will ich nicht sagen, dass es keine guten Künstler sind, wenn sie sich autodidaktisch der Kunst nähern. Ich habe schon einige kennengelernt. Da gibt es zum Beispiel ein Künstlerpaar in Melgven, die haben auch schon hier in Pont Aven ausgestellt. Er ist Fotograf und sie malt. Die beiden haben eine ganz hervorragende Kunstrichtung kreiert. Sie nennen es Meer-Kunst, weil die Spuren, die das Wasser im Sand hinterlässt, die Grundlage ihrer Arbeiten bildet. Ganz hervorragende Bilder entstehen so. Ich habe mir auch eines gekauft, die sind wenigstens erschwinglich. Die beiden wohnen in Melgven, genauer gesagt in Kermanchec.“

Henri horchte auf, als der Name Kermanchec fiel. Er war ja gerade dort gewesen, um das Haus zu finden, in dem er sich am Abend mit Ewen treffen wollte. Aber Medernach ging nicht weiter darauf ein. Vielmehr interessierte er sich für diesen Murat.

„Wie kam es, dass seine Bilder so wertvoll wurden?“ Medernach erhoffte sich, etwas mehr an Hintergrundinformationen über diesen Murat zu erhalten.

„Das kann Ihnen keiner sagen, ich weiß nur, dass er für seine Werke eine Ausstellung in einer bekannteren Galerie in Paris organisierte hatte. Es wird gemunkelt, dass er für diese Ausstellung viel bezahlt hat, aber sicher weiß ich das nicht. Dann hat ein Chinese alle seine Bilder gekauft, um sie in China weiter zu verkaufen. Das war der Durchbruch. Jetzt verkauft er seine Bilder nur noch über diese Galerie in Paris und alles geht wohl nach China.

Ich glaube, in Pont Aven würde er kein einziges Bild verkaufen. Die Chinesen verdienen jetzt Geld, werden reich und wollen sich dann teure Kunstwerke in die Zimmer hängen. Dabei haben sie keine Ahnung von Kunst.“ Monsieur Gwenn machte eine abwertende Handbewegung.

Medernach hatte erst kürzlich gehört, dass es in China eine Armada von Kopisten aller großen Maler gab. Ihre Bilder wurden sogar weltweit verkauft. Selbstverständlich als Kopien und nicht als Originale und zu sehr günstigen Preisen.

Es gibt folglich jede Menge Künstler in China. Wie dann ein unbekannter Künstler aus Pont Aven in so kurzer Zeit zu solch einem Ruhm kommen konnte war schon eine interessante Frage. Medernach wollte mehr über diesen Murat erfahren.

„Waren Sie schon einmal in seinem Atelier?“

Monsieur Gwenn schüttelte den Kopf. „Nein, er lässt niemanden in seine Räumlichkeiten. Er scheint etwas merkwürdig zu sein. Wenn man ihm beim Malen zusähe, dann käme nichts dabei heraus, hat er einmal in Pont Aven zu mir gesagt. Sie müssen wissen, dass wir beide Mitglieder in der AVA sind. Das ist eine hiesige Künstlervereinigung und wir treffen uns mehrmals im Jahr, um Ausstellungen zu organisieren und Pont Aven künstlerisch zu vermarkten. Bei diesen Gelegenheiten habe ich mich schon einige Male mit ihm unterhalten.“

„Sein Haus liegt aber sehr schön, mir scheint, er hat einen eigenen Zugang zum Ufer des Aven?“

„Ja und nein, sein Grundstück liegt unmittelbar über dem Aven, das ist wohl richtig, aber wenn Sie genau hinsehen, dann erkennen Sie, dass es doch sehr hoch über dem Aven liegt. Direkt unter seinem Grundstück liegen zwei Grotten. Aber die sind genauso wenig zugänglich, wie die anderen, von denen ich Ihnen erzählt habe. Außerdem geht sein Grundstück nicht direkt bis an das Ufer. Ein Streifen von etwas mehr als zwanzig Metern gehört der Gemeinde. So, jetzt muss ich aber wieder nach Hause. Meine Beine werden mir schwer, wenn ich so lange gehe.“

Monsieur Gwenn reichte Henri Medernach die Hand.

Medernach bedankte sich bei ihm für die nette Unterhaltung und verabschiedete sich ebenfalls. Er ging langsam in Richtung seines Autos und dachte über das Gehörte und das Gesehene nach. Zweierlei Dinge waren ihm suspekt vorgekommen. Zum einen der Fundort der Leiche und zum anderen der Erfolg von diesem Künstler. Konnte es sein, dass Eifersucht aus Herrn Gwenn gesprochen hatte, oder war dieser Murat vielleicht tatsächlich kein guter Maler. Wenn Zweites zutraf, wie ließ sich dann sein großer Erfolg begründen? Aber vor allem war für Medernach der Ort des Erfolges von Interesse. China war für einen unbekannten Maler aus Pont Aven, das Land seines größten Erfolges geworden. Wodurch war er so bekannt geworden und wer hat ihm zum Durchbruch dort verholfen? Henri war sich sicher, dass man ein entsprechendes Marketing haben musste, um so einen kräftigen Anstieg im Bekanntheitsgrat zu erwirken.

Er nahm sich vor, diesen Corentin Murat näher unter die Lupe zu nehmen. Alle Spuren der Falschgeldaffäre führten in die Bretagne und jetzt zeigte der Erfolg eines Malers genau in die entgegengesetzte Richtung, nach China. Dort hatte man das Falschgeld in einem Container gefunden. Das konnte kein Zufall sein.

Was wäre, wenn sich die Fälscherwerkstatt hier befindet und das Geld nur in China in Umlauf gebracht werden sollte? In China war der Euro sicherlich nicht so bekannt auf den Straßen, dass man sofort eine Fälschung erkannt hätte. Eine geniale Idee, wenn man das Geld unbemerkt ins Land bringen konnte. War die chinesische Mafia vielleicht darin verwickelt? Eine Menge an Fragen, denen er sich widmen musste.

Medernach stieg in seinen Citroën C4 und fuhr nun langsam zurück nach Concarneau. Er wollte sich auf den Abend mit Ewen vorbereiten und seine ersten Eindrücke verarbeiten. Als er vor dem Hotel angekommen war, entschloss er sich noch zu einem kurzen Spaziergang.

Er ging am Hotel vorbei, die Straße hoch und bog dann in den «sentier côtier» ein. Sein Blick wanderte aufs Meer hinaus. Vereinzelt kamen ihm Spaziergänger mit ihren Hunden entgegen und grüßten freundlich. Nach einer halben Stunde entschied Henri umzukehren und zurück zum Hotel zu gehen. Er wollte sich frisch machen, eine Kleinigkeit essen und dann nach Melgven fahren und seinen Freund Ewen treffen. Sie hatten sich, über einen Austausch zu den letzten Informationen bezüglich ihres gemeinsamen Falles hinaus, viel zu erzählen.

Blaues Netz

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