Читать книгу Friedrich Engels - Jürgen Herres - Страница 16

„DIE GESCHICHTE HAT UNS … UNRECHT GEGEBEN“ (ENGELS, 1895)

Оглавление

In seinem letzten größeren veröff entlichten Text, der berühmt gewordenen Einleitung zur Wiederaufl age der Marx’schen Artikelserie Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850 von 1850, äußerte sich der 74-jährige Engels 1895 selbstkritisch über seine und Marx’ politischen Revolutionsvorstellungen von 1848/49. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußt-loser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei“. Stattdessen würden das allgemeine (Männer)Wahlrecht, politische Aufklärung und „parlamentarische Tätigkeit“ ihre „langsame Arbeit“ verrichten.101


Christian Ludwig Bokelmann, Die letzten Augenblicke einer Wahlschlacht, 1890. Im Moment unmittelbar vor Betreten des Wahllokals – einige Gebäudeelemente deuten auf das Rathaus in Düsseldorf hin – tritt die Ausrichtung der politischen Parteien in den Erwartungen und Haltungen ihrer Wähler zutage. Das öffentlichem Interesse an der Reichstagswahl 1890 war groß, auch wenn die Stimmen nach dem Klassenwahlrecht unterschiedlich gewichtet waren und Frauen sowie junge Erwachsene selbst kein Stimmrecht hatten.

Nach Engels’ Tod löste sein Text wütende Auseinandersetzungen aus. Eduard Bernstein, der von Engels (gemeinsam mit August Bebel) zum literarischen Nachlassverwalter bestimmt worden war und den Revisionismusstreit in der deutschen Sozialdemokratie lostrat, sah darin Engels’ „politisches Testament“. Rosa Luxemburg wiederum distanzierte sich auf dem Gründungskongress der KPD Ende Dezember 1918 von Engels’ Ausführungen, die sie „mit dafür verantwortlich“ machte, dass in der Sozialdemokratie eine Politik des „reine[n] Nur-Parlamentarismus“ triumphiert habe. Anlässlich Engels’ 100. Geburtstag 1920 und 30. Todestag 1925 warfen die Sowjetkommunisten der Sozialdemokratie vor, Streichungen an Engels’ Originalmanuskript vorgenommen und so bewusst Marxismusfälschung betrieben zu haben. In den offiziösen Engels-Biographien der DDR und der Sowjetunion wurde Bernstein als „Wortführer dieser Fälschung“ herausgestellt.102

Tatsächlich hatte Engels selbst in der Druckfassung seines Artikels Weglassungen und Abschwächungen zugestimmt, um der Berliner Regierung keinen zusätzlichen Vorwand für ein geplantes Nachfolgegesetz zum 1890 ausgelaufenen Sozialistengesetz zu liefern. Vertieft man sich in den Text, so wird deutlich, dass seine selbstkritischen Worte keine Lippenbekenntnisse oder temporären taktischen Zugeständnisse waren, sondern ernst gemeint waren.

Für Engels hatte die Geschichte „uns Unrecht gegeben“ und „unsre damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt“. Sie habe „klar gemacht“, dass „der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent“ 1848 und 1870 „noch bei weitem nicht reif“ gewesen sei „für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“. Erst in jüngster Zeit habe die „ökonomische Revolution“ in ganz Europa die „große Industrie … wirklich eingebürgert“ und ein „wirkliches großindustrielles Proletariat erzeugt“. Aber damit hätten sich „auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen“ habe.103

Mit seinen ‚revisionierenden‘ Überlegungen versuchte Engels dem Wachstum der Industrie und der Ausdehnung der Städte genauso Rechnung zu tragen wie den militärtechnischen Entwicklungen. Seinen „materialistischen“ Grundüberlegungen treu bleibend, sah er diese Prozesse als Produkte der Wechselwirkung einer Vielzahl von Bedingungen, Entwicklungen und Momenten, letztlich als Folge der sich verändernden Produktivkräfte. Durch diese Entwicklungen habe sich zwar hinsichtlich einer gewaltsamen Auflehnung des Proletariats „alles zugunsten des Militärs“ geändert. Aber das Wachstum der Arbeiterbewegung gehe „so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozess“.104 Dieses Hinüberwachsen in die gesellschaftliche und politische Übermacht sollte nach Möglichkeit nicht durch das Provozieren von Staatsstreichen gefährdet werden. „Was unsere Politik betrifft“, erläuterte er Marx’ Schwiegersohn Paul Lafague im Februar 1895, „so muß sie darin bestehen, uns … nicht provozieren zu lassen; … in zwei bis drei Jahren werden wir die durch die Steuer ruinierten Bauern und Kleinbürger auf unserer Seite haben.“105


Heinrich Kley, Teufel beim Stahlguss, um 1910.

In diesem Zusammenhang ist auch Engels’ zunehmende Sorge zu sehen, das „auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen“ könne einen „Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit“ zur Folge haben, damit „Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre“.106 Krieg hat Engels stets als ein von ökonomischen Gegebenheiten vermitteltes gesellschaftliches Phänomen gesehen und den militärtechnischen Entwicklungen eine große Bedeutung beigemessen, ohne dass es ihm jedoch trotz mehrmaliger Anläufe gelang, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler bemerkte, eine Theorie des Krieges zu entwickeln, die als Parallele zu Marx’ Theorie des Kapitals hätte fungieren können.107 In seinem letzten Lebensjahrzehnt hielt er die Entwicklung der Waffentechnik für vollendet. „[W]ir leben auf einer geladenen Mine“, schrieb er im Januar 1890 August Bebel, „und ein Funke kann sie sprengen.“108 In der Artikelserie Kann Europa abrüsten?, die auch als eigene Schrift erschien, plädierte er 1893 deshalb für einen „allgemeine[n] Uebergang vom stehenden Heer zu der als Miliz organisirten Volksbewaffnung“ als wichtigen Schritt zur allgemeinen Abrüstung. Vom „rein militärischen Standpunkt“, versicherte er, stehe „der allmäligen Abschaffung der stehenden Heere absolut nichts im Wege“.109

Die vorliegende durchaus eigenwillige Diskussion der unsterblichen Werke von Engels, in der nicht nur die von Engels aufgelisteten, sondern auch seine nicht erwähnten Publikationen und Projekte berücksichtigt wurden, zeigt ihn als europäischen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der facettenreicher und vielschichtiger war, als er im 20. Jahrhundert in der Regel dargestellt wurde, aber auch widersprüchlicher. Angesichts einer bis dahin noch nie gesehenen Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft suchte er nach wissenschaftlichen Erklärungen, die zugleich politische Perspektiven eröffnen sollten. Aber die Gefahren politischer Gewaltausübung und revolutionärer Selbstermächtigung wollte er nicht sehen, obwohl er dies aufgrund der Erfahrungen der Französischen Revolution von 1789 sehr wohl gekonnt hätte.

Wir sollten Engels als Teilnehmer wichtiger Diskussionen über ernste Fragen und große Probleme sehen, als Radikalen des 19. Jahrhunderts, der Globalisierung und Industrialisierung als Voraussetzungen einer menschlichen Selbstbefreiung zu begreifen versuchte. Welche seiner Texte und Manuskripte tatsächlich „unsterblich“ werden, kann jedoch nur die Zukunft erweisen.

Friedrich Engels

Подняться наверх