Читать книгу Finde die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat - Julia Tomuschat - Страница 15

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Sicherlich hast du dich auch schon einmal gefragt: Wodurch sind Eltern so prägend? Weshalb spiegelt die Gegenwart unsere Kindheit? Welche Mechanismen sind hier am Werk? In diesem Kapitel möchte ich aufschlüsseln, warum wir so ticken, wie wir ticken. Ich zeige auf, warum das Erleben hier und heute von unserem Elternhaus geprägt ist.

Eine wesentliche Einflussgröße ist das von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura untersuchte und so bezeichnete »Lernen durch Beobachtung«. Eltern sind Vorbild. Bei ihnen schaue ich mir ab, wie Beziehungen funktionieren. Ich lerne, ob und wie man sich bei Tisch unterhält. Ob ich Aufmerksamkeit bekomme, wenn ich ganz still bin und mich zurückziehe, oder ob ich laut schreien muss, damit man mich wahrnimmt. Das prägt mich bis heute. Anders formuliert: Hätten sich meine Eltern mir gegenüber anders verhalten, wäre ich heute ein anderer Mensch. Das ist mir keineswegs bewusst. Insbesondere frühe schmerzliche Kindheitserinnerungen, wie Enttäuschung, Angst, Trauer und Wut werden oft verdrängt. Ich weiß nicht mehr, dass ich beispielsweise stundenlang im Laufstall geparkt wurde und sich niemand um mich kümmerte.

Wie kann ich es dann aber erkennen, wenn ich nicht erwachsen reagiere, sondern aus meinem verletzten inneren Kind – meinem Schattenkind?

Die Selbstdiagnose ist eigentlich gar nicht so schwer. Es gibt drei Anhaltspunkte:

 Erstens: Meine Gefühle sind übertrieben und stehen in keinem Verhältnis zum Auslöser. Im Nachhinein erkenne ich, dass meine Angst, Wut oder Eifersucht übersteigert war. Zum Beispiel: Mein Liebster ist über eine halbe Stunde zu spät und ich breche voller Angst in Tränen aus.

 Zweitens: Meine Gedanken sind irrational. Sie haben nichts mit der Realität zu tun. Ich bin in meinem inneren Film gefangen. Ich denke: »Bestimmt ist ihm etwas ganz Furchtbares passiert. Ein Verkehrsunfall?« Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie er in seinem Auto sitzt und von einem anderen Auto erfasst wird.

 Drittens: Mein Verhalten ist automatisiert und ich kann nicht eingreifen. Ich bin wie ferngesteuert und tue Dinge ohne Vorsatz, als stünden die Handlungen nicht unter meiner Kontrolle. Unruhig laufe ich auf und ab. Als er heimkommt und mir erzählt, er habe sich noch mit einem Kollegen unterhalten, mache ich ihm eine Riesenszene. Hinterher tut es mir leid.

Die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen sind bei genauerer Betrachtung der Situation nicht angemessen. Viele meiner Klienten zittern vor Auftritten. Eine bevorstehende Präsentation, das ist bereits eine Auftrittssituation, beunruhigt sie so sehr, dass sie tagelang vorher nicht mehr schlafen. Die Gedanken kreisen: »Ich stehe sicher wie ein Idiot da. Die Kollegen werden mich kritisieren. Was, wenn ich einen Fehler mache, die Daten nicht richtig interpretiert habe?« Wenn sie sich vorstellen, wie sie dem Publikum gegenübertreten, klopft ihnen das Herz bis zum Hals, der Blutdruck steigt, die Gedanken zerfleddern und es vergeht ihnen der Appetit. Sie erleben Angst mit all ihren Begleiterscheinungen. Ohne Grund! Sowohl die Gedanken als auch die Gefühle halten einer Realitätsüberprüfung nicht stand: Die Kollegen sind nämlich wohlwollend und selbst wenn sich ein Fehler in die Präsentation eingeschlichen hätte, könnte man ihn im Nachhinein korrigieren. Es wäre gar nicht schlimm. Im Grunde genommen wissen das meine Klientinnen auch: »Ich reagiere krass übertrieben. Wieso wirft mich das so aus der Bahn?« Dennoch können sie zunächst nichts dagegen tun. Die Angst überkommt sie und sie hat wenig mit der Realität zu tun.

Vielleicht hast du auch eine kniffelige Situation vor Augen, die du einmal einem Reality-Check unterziehen solltest?

ÜBUNG: VERHALTE ICH MICH ERWACHSEN?

Du merkst, dass dein verletztes inneres Kind aktiviert ist, wenn deine Reaktion einem Reality-Check nicht standhält. Du hast eine schwarze Brille auf der Nase und fürchtest bloßgestellt, gedemütigt oder schlimm kritisiert zu werden. Dinge, die im realen Leben eines Erwachsenen eigentlich nicht passieren. Deine Wahrnehmung ist ins Negative verzerrt. Du bist in dieser Situation auf der Gefühlsebene offensichtlich nicht erwachsen, sondern eigentlich sechs oder drei Jahre alt. Mithilfe dieser drei Fragen lässt sich eine Beteiligung des verletzten inneren Kindes aufdecken:

 Wie alt fühlt sich das an?

 Woran erinnert dich das Gefühl?

 Wie alt bist du, wenn du so reagierst?

Jetzt ist der Groschen gefallen. Du trägst ein Päckchen mit dir herum, das nicht in die Gegenwart gehört, sondern in der Kindheit und Jugend durch deine Eltern geformt wurde.

Gott sei Dank sind wir nicht durchgehend in diesen ungesunden psychologischen Mechanismen gefangen. Sehr viel wahrscheinlicher springt das alte Muster nur an, wenn bestimmte Ereignisse an früher erinnern. Man spricht hier auch von Triggern. Trigger sind Sinneswahrnehmungen, die meist unbewusst alte Programme hervorrufen. Jemand spricht wie meine Mutter (Hören), ein Mann hat das gleiche Aftershave wie mein Vater (Riechen), jemand legt mir die Hand auf die Schulter (Fühlen) wie mein Vater, wenn er zu einem ewig langen Vortrag ansetzte. Oder eine Person benutzt die gleiche Geste, beißt sich zum Beispiel auf die Lippe (Sehen), wie die Mutter kurz bevor sie anfing zu weinen. Die Reaktion auf diese Auslösereize? Wir fallen zurück auf frühere Gefühle. Wir spüren Beklemmung, bekommen einen Wutanfall oder halten angespannt die Luft an. Oder anders ausgedrückt: Jemand drückt unseren Knopf und wir reagieren wie ein Kleinkind oder ein Teenager. Die Eltern-Kind-Dynamik ist angesprungen. Wir sind durch unbewusste psychische Mechanismen gesteuert, die unser JETZT beeinträchtigen und uns schaden.

Die wichtigsten dieser Mechanismen stelle ich im Folgenden genauer vor: Introjektionen, Übertragung, Wiederholungszwänge, Co-Abhängigkeit, das Weiterführen von Bindungsmustern und Traumatisierungen.

Finde die Liebe, die dir als Kind gefehlt hat

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