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3.2 Rumänische Geschichte

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Eine markant andere Form der Einordnung ist eine Geschichtsauffassung, in der die antike Geschichte der Region als integraler Teil der Vergangenheit des zunächst angestrebten, später dann schrittweise etablierten rumänischen Nationalstaats verstanden wird. Das Gebiet des heutigen Rumänien war bis in das 19. Jahrhundert vor allem durch die (lange unter Osmanischer Oberhoheit stehenden) Fürstentümer Walachei und Moldau sowie durch das unter österreich-ungarischer Herrschaft stehende Siebenbürgen (s.o. → Kap. 1.2) geprägt. Wie in vielen anderen Völkern in Europa entwickelte sich in der Romantik auch unter den Rumänen ein nationales Bewusstsein. Im europäischen Revolutionsjahr 1848 kam es auch in der Walachei und der Moldau sowie in Siebenbürgen zu Aufständen. Erst die Wahl von Alexandru Ioan Cuza (1820–1873) zum Fürsten sowohl der Moldau als auch – unter der nominalen Oberhoheit des Osmanischen Reichs – in der Walachei verband 1859 einen Teil der Rumänen unter einem gemeinsamen Herrscher; 1862 wurden die beiden Fürstentümer auch formal vereinigt und bildeten Rumänien mit Bukarest als Hauptstadt. Vier Jahre später wurde Cuza von Militärbefehlshabern zur Abdankung gezwungen; er ging ins Exil nach Paris und starb 1873 in Heidelberg. Offenbar in der Hoffnung auf die Unterstützung Preußens für die künftige Unabhängigkeit wurde Cuza durch Karl Eitel Friedrich Zephyrinus Ludwig von Hohenzollern-Sigmaringen (1839–1914) ersetzt, der 1866 als Carol I. Fürst von Rumänien wurde. Beim Berliner Kongress 1878 wurden die Grenzen des heute sogenannten »Altreichs« noch einmal verändert; seit 1881 war Carol I. dann König des so bestimmten Rumäniens. In Folge des Ersten Weltkriegs wurde das Altreich mit Siebenbürgen, dem Banat und weiteren Gebieten zu »Großrumänien« vereinigt. Das heutige Rumänien sieht daher 1918 als sein Gründungsjahr an. Zwei Jahre später wurde im Vertrag von Trianon – einem der sogenannten Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten – auch das (bis heute anerkannte) Territorium des rumänischen Staats bestimmt, der aufgrund seiner komplizierten neueren Geschichte eine beachtliche Zahl von Minderheiten umfasst (s.o. → Kap. 1.1).

Wie in anderen europäischen Staaten spielte bei der Bildung des Nationalstaats auch in Rumänien der Bezug auf die Antike eine bedeutende Rolle. Ja, Rumänien betont seine dakisch-römische Vergangenheit noch immer, wenn es sich in seiner Nationalhymne auf den römischen Kaiser Trajan (s. bereits o. → Kap. 1.2) zurückführt:

Jetzt oder nie senden wir Beweise in die Welt,

dass in diesen Adern noch Römerblut fließt,

dass wir in unseren Herzen stets mit Stolz einen Namen tragen:

den Sieger seiner Kämpfe, den Namen von Trajan!

(Rumänische Nationalhymne, 2. Strophe)

Im europäischen Revolutionsjahr 1848 schuf Andrei Mureșanu (1816–1863) ein patriotisches Gedicht mit dem Titel Un răsunet (Ein Widerhall), dem diese Zeilen entnommen sind; vertont wurde es auf der Grundlage einer Melodie von Anton Pann (1794/98–1854) von dessen Schüler Gheorghe Ucenescu (1830–1896). Bereits 1848 wurde das Werk als revolutionäre Hymne aufgefasst und in Deșteaptă-te, române! (Erwache, Rumäne!) umbenannt. Es blieb auch weiterhin beliebt, insbesondere vor der Errichtung der Königsherrschaft im Altreich und in der Zeit der Weltkriege im 20. Jahrhundert, wurde aber – wie andere »patriotische« Hymnen – verboten. Es begleitete dann wieder die Revolution von 1989. Die zwei Jahre später verabschiedete neue Verfassung Rumäniens hat es zur Nationalhymne des heutigen Staats Rumänien bestimmt. Hört man diese bei offiziellen Anlässen, so hört man in der zweiten Strophe auch, dass in den Adern der Rumänen eben »Römerblut« fließt!


Abb. 7 Rumänische Nationalhymne

Es überrascht daher nicht, dass die in dem Gedicht postulierte Kontinuität von der römischen Zeit bis zur Herausbildung des rumänischen Staats ein nach wie vor beliebtes Modell für das Verständnis der Geschichte auch der Region des Karpatenbogens ist, selbst wenn speziell dieses Gedicht einige Jahrzehnte lang verboten war. Erlaubt und als Lied der jungen Pioniere vertraut war übrigens ein anderes Gedicht:

Helden waren, Helden sind immer

noch in der rumänischen Nation!

Da sie wie aus hartem Fels gebrochen sind,

wachsen Rumänen überall heran …

Es ist unser Leben, gemacht

von zwei Männern

mit starken Armen

und stählernem Willen,

mit klugen Köpfen, großen Herzen:

Einer ist Decebal,

der Eifrige, der andere Trajan, der Gerechte …

Es waren Helden und werden Helden sein,

was die bösen Feinde brechen wird,

von der Küste Dakiens und von Rom aus

werden immer Löwen geboren werden.

(Ioan S. Neniţescu, Pui de Lei (1891), Auszüge)

Dieses patriotische Gedicht Pui de Lei (Löwenjunge), das Ioan S. Neniţescu (1854–1901) in seinem Buch »heroischer und nationaler Gedichte« mit dem gleichen Obertitel 1891 publizierte und das der Komponist Ionel G. Brătianu (1885–1921) vertonte, entstand in einer Zeit, in der das junge, erst zehn Jahre zuvor begründete Königreich Rumänien intensiv um die Festigung eines Nationalstaats bemüht war. Die rumänische Nation führt der Dichter nun auf zwei Väter zurück, auf den eifrigen Decebal und den gerechten Trajan. Das Lied, das auch heute bei »patriotischen« Anlässen erklingt, vertritt also ein Modell, demzufolge die rumänische Nation einen doppelten Ursprung hat, eben den Dakerkönig Decebal und den römischen Kaiser Trajan (was manche Mitglieder der jungen Pioniere zu dem noch heute verbreiteten Witz über diese Verse veranlasste, die rumänische Nation führe sich also auf ein gleichgeschlechtliches Elternpaar zurück). Dakien und Rom werden als Einheit gesehen, die zusammen in der rumänischen Nation immer wieder heldenhafte »Löwenjunge« hervorbringen werde.

Nachgerade einen Höhepunkt erreichte die gelegentlich als »Protochronismus« bezeichnete These einer solchen Kontinuität mit der 1980 seitens der kommunistischen Führung propagierten Auffassung, in Rumänien sei bereits vor seinerzeit 2050 Jahren, beginnend mit König Burebista (s.u. → Kap. 5.3), ein unabhängiger dakischer Zentralstaat begründet worden. Die damit suggerierte Kontinuität von den dakischen Königen zur aktuellen Führung wurde nicht nur in wissenschaftlichen Zeitschriften dargelegt, sondern auch weithin popularisiert, auf Briefmarken (→ Bild S. 133 unten) und Sondermünzen ebenso wie in Filmen (»Burebista«, Regie Gheorghe Vitanidis, 1980; sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR unter dem Titel Das Gold der Daker verbreitet) und Brettspielen für die Familie; man erfand auch ein Porträt des Burebista als »Kappenträger« (s.u. → Kap. 5.3). Dass man nicht einmal darlegen konnte, welches Ereignis 2050 Jahre vor 1980 n. Chr., also (da es kein Jahr 0 gibt) 71 v. Chr., zur Begründung eines dakischen Zentralstaats geführt haben könnte, übersah man geflissentlich. Vielleicht spielte auch die Konkurrenz zum südlichen Nachbarn Bulgarien eine Rolle, wo man im Jahr darauf die 1300-Jahr-Feier der Staatsgründung begehen wollte und sich damit auf das 681 n. Chr. begründete erste Bulgarische Reich bezog, das auch Regionen nördlich der Donau umfasste. Offenbar galt es, den »älteren« Anspruch Rumäniens auf diese Gebiete zu proklamieren und dafür die seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung einer Abstammung der Rumänen von Decebal und Trajan noch weiter in die Vergangenheit, bis zu einer (wie wir in → Kap. 5.3 sehen werden: tatsächlich erst später bezeugten) Herrschaft des Burebista (Byrebistas) zu verlängern. Zugleich wollte man diese Auffassung mit der Vorstellung eines ebenso alten Zentralstaats unter einer einzigen Führungspersönlichkeit verbinden und politisch nutzen.

Ähnliche Modelle im Umgang mit der antiken Geschichte sind seit dem 19. Jahrhundert auch in anderen jungen Nationalstaaten verwendet worden, nicht zuletzt in Deutschland, wo mit »Hermann dem Cherusker« (Arminius) ein – trotz seines späteren Scheiterns – als »Befreier der Deutschen« gefeierter Held in ähnlicher Weise in die Geschichtsdeutung einbezogen wurde: Vom schon vor 1848 geplanten, aber erst nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 fertiggestellten Hermannsdenkmal in Detmold, das heute alljährlich eine halbe Million Besucher zählt, bis zum Namen des Fußballvereins Arminia Bielefeld ist die Bezugnahme auf die im Englischen als »Herman the German« bekannte Figur gegenwärtig. Auch die allerjüngste Vergangenheit zeigt solche Bezugnahmen auf die Antike: Bei dem erst 2019 gelösten Streit um den Namen der heutigen Republik Nordmazedonien spielten die intensiven Bezugnahmen auf die antiken makedonischen Könige Philipp II. und Alexander d. Gr. (zu diesen s.u. → Kap. 4.4 und 4.5) eine bedeutende Rolle, deren Machtzentrum freilich in der Region Makedonien im heutigen Griechenland lag.

So weit verbreitet ein solches auf den jeweils erträumten oder gegenwärtigen Nationalstaat bezogenes Deutungsmodell der antiken Geschichte auch war und in Rumänien teilweise noch ist, so wenig kann es heute Leitlinie einer kurzen Gesamtdarstellung sein. Zu wenig plausibel ist die Annahme einer direkten Kontinuität von »Burebista« oder auch nur von »Decebal und Trajan« zur heutigen Welt, zu ahistorisch die Annahme eines irgendwie seither fortwirkenden Zentralstaats und zu problematisch die Betonung des so begründeten aggressiven Potentials.

Die Deutung der antiken Geschichte des Karpatenbogens als integraler Teil der Geschichte einer Nation ist also nicht mehr zeitgemäß. Eher wird man zu zeigen versuchen, wie die Vernetzungen der Kulturen zu einem Verständnis der Regionalgeschichte beitragen können, auch wenn dies angesichts der erhaltenen historischen Quellen kein vollständiges Bild ergeben kann. Zwar birgt die im vorliegenden Band versuchte Einordnung der Regionalgeschichte in die der »großen« antiken Geschichte das Risiko, dass man aus dieser Sicht die im Vergleich zu anderen Provinzen des Imperium Romanum recht kurze Zeit direkter römischer Beherrschung der Region als »Misserfolg« versteht. Dies kann dazu führen, dass man sich die in vielen Schriftquellen zugrundeliegende römische Sichtweise zu eigen macht, der zufolge Expansion und Provinzialisierung »Erfolge« sind, Rückzug und Aufgabe »Misserfolge«. Doch wenn man Erfolg und Misserfolg anders bestimmt, also – gleichsam gegen den Strich der Schriftquellen, aber auf deren Grundlage – etwa nach dem Maß der Integration der Menschen in einer Region fragt, wird man zu einer anderen Bewertung kommen.

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