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Artemis/Diana

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Artemis, Tochter des Zeus und der Göttin Leto (lat. Latona), ist als Zwillingsschwester des Sonnengottes ▸ Apollon die Mondgöttin. Zugleich erscheint sie als keusche Göttin der Jagd, die männliche Zudringlichkeit bestraft. Das belegt die wohl bekannteste mythische Erzählung über Artemis, die Begegnung mit dem Jäger Aktaion. Er überrascht sie während des Badens und wird daraufhin von ihr in einen Hirsch verwandelt, so dass ihn seine eigenen Jagdhunde zerreißen (Ovid, Metamorphosen, 1 v. – 10 n. Chr., III, 131–252). Als Verteidigerin der Jungfernschaft und Keuschheit zeigt sie sich auch darin, dass sie die Nymphe Arethusa in einer Wolke verbirgt, um sie vor den Nachstellungen des Flussgottes Alphëus zu retten (Metamorphosen V, 585–641), und dass sie die von Zeus vergewaltigte Nymphe Kallisto aus ihrem Gefolge verstößt, als die Schwangerschaft sichtbar wird (Met. II, 417–465). Zusammen mit ihrem Bruder Apollon tötet sie die sieben Söhne und sieben Töchter der Niobe, weil diese sich ihrer vielen Nachkommen wegen über Latona stellen will, die nur zwei Kinder hat (Met. VI, 216–301). Im ▸ Iphigenie-Mythos ist es der beleidigte Stolz der Jagdgöttin, der die in Aulis versammelte Kriegsflotte der Griechen durch Windstille festhält und erst durch das Opfer der Iphigenie besänftigt werden muss. Agamemnon, der griechische Heerführer und Vater der Iphigenie, hat Artemis beleidigt, indem er eine ihr heilige Hirschkuh tötet und sich brüstet, der bessere Jäger zu sein. Auf dem Opferaltar vertauscht die Göttin im letzten Moment das Mädchen durch eine Hirschkuh (Euripides, Iphigenie in Aulis, 405 v. Chr.). Die sich daran anschließende, ebenfalls von Euripides dramatisierte Episode (Iphigenie bei den Taurern, 412 v. Chr.) beginnt mit der von Artemis auf die Insel Tauris (der antike Name für die Halbinsel Krim) entführten Iphigenie, die der Göttin dort in ihrem Menschenopfer fordernden Kult als Priesterin dienen muss. Euripides zeigt die Überführung des Artemis-Kults vom skythischen, d.h. aus griechischer Sicht barbarischen Tauris nach Griechenland als Prozess der Zivilisierung. Das Menschenopfer wird abgeschafft. Die Tragödie bietet damit eine Ursprungserklärung des Artemis-Tempels im attischen Brauron. Der größte und berühmteste Artemis-Tempel befand sich in Ephesos an der Westküste Kleinasiens, der heutigen Türkei. Er wurde in der Antike zu den sieben Weltwundern gezählt. Das dort verehrte Kultbild (‚Artemis von Ephesos‘, 7./6. Jh. v. Chr., in römischen Kopien erhalten) ist eine mit vielen Tierbildern, Ranken und mehreren Reihen von Brüsten (oder Stierhoden) geschmückte stehende Frauenstatue: Diese Artemis erscheint als fruchtbare Göttin der Natur und des Tierreichs. Als Jagdgöttin wird sie mit kurzen Gewand, Köcher, Pfeilen und Bogen dargestellt. Die bekannteste Figur (‚Diana von Versailles‘, römische Kopie eines griechischen Originals von 350/40 v. Chr.) zeigt sie in schreitender Bewegung, mit Schulterblick und Griff in den Köcher, eine Hirschkuh an ihrer Seite. Rainer Maria Rilke hat eines seiner skulpturenbeschreibenden Gedichte dieser Statue gewidmet (Kretische Artemis, 1908).

Ihre größte Präsenz hat die Diana-Figur in der Kunst und Literatur der Renaissance und des Barock. Das hängt mit der Beliebtheit der Jagd als adeligem Vergnügen zusammen. In diesem Zusammenhang dient Diana als Hauptfigur, um die eigene Gegenwart mythisch zu spiegeln. Zur Idealisierung des Jagdvergnügens verbindet sich die antike Göttin dabei mit der Tradition der Schäferdichtung. Als arkadisches Idyll repräsentiert Dianas Jagdwelt genau den unbeschwerten, natürlichen Freiraum, den die höfische Gesellschaft in der Jagd sucht und in ihren Jagdschlössern künstlich inszeniert. Einen literarischen Anfang setzt hier Giovanni Boccaccios Kleinepos La caccia di Diana (Dianas Jagd, um 1334), das die Aktaion-Geschichte umkehrt: Indem die hier beschriebenen jungen Frauen vom Jagdfieber zur Verliebtheit wechseln, verwandelt sich ihre tierische Beute in junge Männer. Im Sieg der Liebesgöttin Venus über die Jagdgöttin Diana wird allegorisch die zivilisierende Macht der Liebe gefeiert. Dennoch ist Diana nicht einfach die Unterlegene. Ihre idealisierte antike Natürlichkeit bleibt als Verlockung wirksam. In der späteren Schäferdichtung löst sich der Name Diana weit von der antiken Göttin ab (überaus erfolgreich und stilbildende für Europa ist der Schäferroman Los siete libros de la Diana (Die sieben Bücher der Diana, von Jorge de Montemayor, 1559). Als Einheit erscheinen die Göttin und das arkadische Idyll dagegen in der Malerei, wobei es gerade der Status der heidnischen Göttin ist, der den Malern die Freiheit zur erotischen Darstellung gibt. So wird die keusche Göttin zum beliebten Motiv, um den Mythos gegen alle Keuschheit als Lizenz zum freizügigen Körperbild zu nutzen. Die Aktaion-Episode bietet sich dazu besonders an, weil sie die nackte Göttin (zumeist zusammen mit ebenso nackten Nymphen) im Bade zeigen lässt: Lucas Cranach der Ältere (1. Drittel des 16. Jh.), Tizian (1559), Jan Bruegel der Ältere (1595), Francesco Albani (1617), Rembrandt (1634), Jacob Jordaens (um 1640), Giovanni Domenico Tiepolo (1720/21) und viele andere wählen dieses Motiv – und nicht nur dies, so dass eine Vielzahl verschiedener, zumeist erotisierter Diana-Gemälde entsteht (Diana beim Bade von Jean-Antoine Watteau, 1715/16, und François Boucher, 1742). Auch wenn der Mythos als Lizenz zur Erotik eine immer geringere Rolle spielt, bleibt die nackte Diana ein beliebtes Motiv der Malerei (Hans von Marées, Diana im Bade, 1863; Pierre-August Renoir, Diane, 1867; Camille Corot, Badende Diana, 1870; Arnold Böcklin, Schlafende Diana, 1877; Hans Makart, Jagdzug der Diana, 1880). Eine monumentale Brunnenplastik der Artemis-Aktaion-Episode findet sich im Park des Bourbonen-Schlosses im italienischen Caserta (um 1779).

Am nächsten kommen sich die mythische und die reale Figur in einem Diana-Gemälde der École de Fontainebleau (um 1550), das offiziell die antike (unbekleidete) Jagdgöttin zeigt, zugleich aber als Portrait von Diane de Poitiers gilt, der Maitresse von König Heinrich II. von Frankreich. Das für sie erbaute Schloss Anet ist insgesamt mit vielen Skulpturen, Gemälden und Tapisserien zum Artemis/Diana-Mythos ausgeschmückt, als Huldigung an den Vornamen der Bewohnerin und zugleich zur (durch den Mythos ermöglichten) Schaffung einer erotischen Atmosphäre. In entgegengesetzter Absicht wird der Artemis-Mythos zur literarischen Huldigung der unverheirateten englischen Königin Elisabeth I. verwendet. Hier kommt gegen alle Erotisierung das Keuschheitsmotiv zur Geltung. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang Ben Jonsons Komödie Cynthia’s Revels (Kynthias Freudenfeste, 1660; Kynthia ist ein Beiname der Artemis, abgeleitet vom Berg Kynthus, ihrem Geburtsort), ein allegorisches Lehrstück gegen höfische Verstellung und Eitelkeiten. Bekannter noch als die Komödie selbst ist eine ihrer Hymnen, in der das Lob der antiken Göttin mit dem aktuellen Herrscherinnenlob verschmilzt: „Queen and huntress, chaste and fair“.


Anonym (Schule von Fontainebleau): Diana als Jägerin, ca. 1550, Paris, Musée du Louvre

Neben der spielerischen Doppeldeutigkeit, wie sie die mythische Darstellung der Diane de Poitiers zeigt, entwickelt sich auch eine eindeutige Portrait-Tradition, in der Herrscherinnen und andere Hofdamen als Diana erscheinen. Diese Portraits sind bei weitem weniger erotisch als die rein mythischen Gemälde und ihnen geht es vor allem um die Darstellung der historischen, individuellen Person. Die Verkleidung als antike Jagdgöttin löst das Weibliche von der aktuellen Geschlechterrolle und verklärt es zu einer erhabenen Herrschaft und Macht. So lassen sich die französische Regentin Maria de’ Medici 1605 und Maria Theresia, die Frau des französischen Königs Ludwig XIV., 1663/64 als Diana portraitieren. Der Hofmaler Ludwigs XV., Jean-Marc Nattier, stellt nicht nur die königliche Maitresse, Mme de Pompadour, zweimal als Diana dar (1746 und 1752), sondern auch weitere Hofdamen: Mme Bouret (1745) und Mme de Maison Rouge (1756), die Ehefrauen zweier Financiers am französischen Hof. Ihrem Rang gemäß geht es dabei weniger um Herrschaft und Macht. Das Mythische drückt hier vielmehr eine idealisierte, betörende Weiblichkeit aus.

Insgesamt wird die Artemis/Diana-Figur durch ihre breite Präsenz in der bildenden Kunst zum Inbegriff dominanter Weiblichkeit. Ihr lateinischer Name findet als weiblicher Vorname seit der Renaissance bis heute eine für mythische Götter- und Heldennamen wohl einzigartig häufige Verwendung. Auch in musikalischen Gattungen ist die Diana eine nicht selten gewählte Figur, vor allem in Kantaten (Alessandro Scarlatti, 1660–1725, Diana e Endimione, Diana und Endymion; Georg Friedrich Händel, Diana cacciatrice, Jägerin Diana, 1707) und Ballett (Charles-Simon Favart, Les Nymphes de Diane, 1740). Heinrich Heine hat ein „Tanzpoem“, d.h. ein Ballettkonzept Die Göttin Diana (1854) verfasst, das die antike Göttin auf burleske Weise mit einem jungen deutschen Ritter zusammenführt.

In der Kunst und Literatur der Moderne verbindet sich die Diana-Figur mit dem Typus der Femme fatale (im Gemälde von Gustave Moreau, Diane à la biche, Diana mit der Hirschkuh, 1872, und im ersten, Diana betitelten Teil des Romanzyklus Die Göttinnen von Heinrich Mann, 1902). In seinem Essay Le bain de Diane (Das Bad der Diana, 1954) stellt der Schriftsteller und Zeichner Pierre Klossowski die Artemis-Aktaion-Episode ins Zentrum einer Reflexion über Nacktheit, Voyeurismus und erotisches Begehren. Anhand desselben Motivs ist eine Ausstellung des Düsseldorfer Museums Kunst Palast dem Zusammenhang von Kunst und Voyeurismus nachgegangen („Diana und Actaeon – der verbotene Blick auf die Nacktheit“, 2008/2009).

LITERATUR

Karl Hönn: Artemis. Gestaltwandel einer Göttin. Zürich 1946

Eugenia Fosalba: La Diana en Europa: ediciones, traducciones e influencias. Barcelona 1994

Tobias Fischer-Hansen: From Artemis to Diana. The Goddess of Man and Beast. Kopenhagen 2009 SM

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