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8. Kapitel

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Dollien, 7. Januar 1915

Liebste Freundin!Nun ist alles viel schneller gegangen, als wir alle erwartet hatten. Clementine hat Weihnachten geheiratet, ohne Verlobungszeit, gleich so. Die beiden hatten das vorher abgesprochen, dass sie auf eine Verlobung verzichten wollten.

Wir wollen heiraten“, hatte Clementine gesagt, „was sollen wir Zeit mit der Verlobung verlieren? Max hat seinen Stellungsbefehl bekommen. Da haben wir keine Zeit zu verlieren.“

Und sie hatte natürlich Recht. Jetzt in diesen Zeiten zählt manchmal jeder Tag. Ich habe ihr zu Bedenken gegeben, sie könne ganz schnell Witwe werden.

Sie hat mich nur ganz traurig angesehen.

Dann ist es immer noch besser, ich war wenigstens kurze Zeit seine Frau als gar nicht.“

Wie ich sie verstehe!

Wir hatten – wie Du Dir denken kannst – keine ausgelassene Feier, aber würdig und schön war sie doch. Nur Maxens Eltern, einige wenige Nachbarn und einige Honoratioren aus der Stadt waren geladen. Der Pastor hatte angeregt, am Weihnachtstag die Trauung direkt vor dem Gottesdienst vorzunehmen, und natürlich haben wir dankbar angenommen. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Sogar in den Gängen und auf der Empore standen die Leute. Fast alle unsere Bauern waren gekommen, und die Erntehelfer hatten eine Abordnung geschickt. Das hat mich am meisten gefreut.

Vater sagte: „Das machen die nur, weil sie abhängig von uns sind“.

Aber das glaube ich nicht. Ich habe ihre Gesichter gesehen. So sieht nicht jemand aus, der nur aus Pflichtgefühl an so einer Feier teilnimmt.

Wer mir gar nicht mehr gefällt, ist Ludwig. Jetzt, wo Max im Krieg ist, nimmt er die Stelle des Verwalters ein. Und das ist nicht gut. Er ist zu jung dafür. Mag sein, dass er ein guter Landwirt ist und beurteilen kann, wann was zu machen ist. Aber ihm fehlt das Menschliche. Er sieht nur, was gut für das Gut ist. Die Menschen interessieren ihn nicht.

Bei uns war es ungeschriebenes Gesetz, dass die Erntehelfer bis in den April blieben. Arbeit hatten sie genug. Erst waren sie mit Dreschen beschäftigt, dann haben sie Holz gemacht und schließlich Zäune repariert. Nach der Saat wurden sie dann entlassen. Aber den ganzen Winter hatten sie ein Dach über dem Kopf und wurden versorgt.

Und was hat Ludwig gemacht?

Mehr als die Hälfte hat er rausgesetzt, jetzt mitten im Winter.

Du wirst fragen, was mein Vater dazu gesagt hat. Er wollte seine Zustimmung verweigern, aber da hat Ludwig ihm gedroht, er würde die Arbeit schmeißen. Und mein Vater kann das Gut wirklich nicht mehr alleine führen. Zu lange hat er sich nicht mehr um die wirkliche Arbeit gekümmert. Hier mal ein bisschen Felder abreiten, da mal in den Pferdestall sehen, das war es auch schon. Alles andere hatte ihm Max abgenommen. Und später hatte sich Ludwig immer unentbehrlicher gemacht.

Ich habe die Gesichter dieser armen Menschen gesehen, als sie den Hof verließen.

Und musste weinen. Ich weiß nicht, worüber mehr, ob über die Härte meines Sohnes oder seine Gleichgültigkeit.

Und da habe ich auf einmal etwas Fürchterliches gedacht: Wenn mich Gott – oder irgendeine Macht – vor die Entscheidung stellen würde: ‚Einer von den zwei Männern, Max oder Ludwig kann diesen Krieg überleben. Wen würdest du wählen?’ Ja, wen würde ich wählen? Meinen eigenen Sohn, der mir auf einmal so fremd geworden ist, der eigentlich – entschuldige, wenn ich das so sage – nicht mehr mein Sohn ist? Oder Max, meinen Schwiegersohn, der mir durch seine Liebe zu Clementine – und ihre Liebe zu ihm – so lieb und teuer geworden ist, wie ich es nie für möglich gehalten hätte?

Weißt Du, liebste Freundin, das Schlimme an diesem fürchterlichen Krieg ist nicht nur, dass unsere Männer und Kinder sterben. Ohne jeden Sinn! Genauso schlimm ist, dass alle unsere Empfindungen, unsere Werte durcheinander geraten. Dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, jahrhunderte lang.

Manchmal, wenn ich darüber nachdenke, bin ich ganz verzweifelt.

Wer hat denn Recht in dieser fürchterlichen Welt?

Bettina, die ihre Aufgabe darin sieht, Kranken zu helfen, und auf ihr eigenes Leben verzichtet?

Oder Clementine, die weiß, ihr kleines Glück kann ganz schnell beendet sein, noch bevor es wirklich angefangen hat?

Oder Ludwig, der ganz sicher sein Glück finden wird – ja, ich glaube, er wird es am ehesten von uns finden. Und das macht mich traurig. Zornig auch.

Weißt Du, liebste Freundin, was ich so schrecklich finde an unserem Schicksal? Wir sitzen hier in der Heimat, untätig, und warten ab.

Nicht, dass ich in den Krieg ziehen möchte. Ich stelle mir gerade vor, ich mit der Fahne in der Hand vor dem Heer wie auf dem Gemälde ‚Die Freiheit führt das Volk an’ von Delacroix.

Aber dass wir gar nichts tun können, das finde ich so schrecklich. Warten, immer nur warten!

Du kannst Deinen Mann umsorgen, wenn er auf Urlaub kommt. Wie die griechische Frau ihrem vom Krieg heimkehrenden Mann das Bad einließ, ihm die Wunden salbte.

Nicht einmal das kann ich.

Auf wen warte ich? Max? Auf ihn wartet Clementine. Und sie braucht ihn sehr.

Ich hoffe, ich werde mich nie auch nur ein bisschen zwischen die beiden drängen.

Obgleich es mir manchmal schwer fällt. Gerade jetzt im Winter. Wenn die Abende früh beginnen, im Salon das Feuer brennt. Ich nur träume. Da erscheint er mir schon.

Aber ich bin stark genug, ihn wegzuschieben. Er gehört zu Clementine!

Ich bin auch viel zu alt für ihn!

Basta!

Ich hab’ Dich lieb und wünsche Dir alles Gute.

Deine Luise

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