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4. Kapitel

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Friedrichshagen, Anfang Juli 1913

Es fiel Luise von Wernher nicht leicht, sich auf die veränderten Lebensumstände einzustellen. Auf einmal saß sie da, allein mit drei Kindern, ohne Vermögen, ohne die gewohnten gesellschaftlichen Kontakte.

Natürlich schnitt man sie nicht, man schien besorgt, bot ihr Hilfe an, aber das geringste Angebot klang so großzügig, als wäre es unverschämt, es anzunehmen.

Lediglich den kleinen Hof eines Tagelöhners hatte ein befreundeter Anwalt retten können. Ein kleines Bauernhaus mit zwanzig Morgen Land war ihr und ihren drei Kindern geblieben.

Völlig unerfahren in der Landwirtschaft, ungeübt in körperlicher Arbeit stand sie vor der schier unlösbaren Aufgabe, sich und ihre Familie durchzubringen.

Hätte ihre Mutter nicht zu ihren Gunsten interveniert, hätte ihr Vater aus verletztem Stolz nichts unternommen, ihr zu helfen.

„Was bist du nur für ein Mensch“, hatte ihre Mutter getobt, „deine einzige Tochter und ihre Kinder sind in größter Not, und du tust nichts, nur weil Achim sich das Leben genommen hat! Wir nehmen sie hier auf. Und wenn du dich auf den Kopf stellst.“

Und als er noch etwas dagegen sagen wollt, fügte sie nur hinzu: „Und wenn es dir nicht passt, ziehen wir zu meinen Eltern!“

Damit war die Sache ausgestanden.

Zwei Wochen später kam der Möbelwagen aus Berlin.

Schon am Nachmittag wurden die Möbel und das Geschirr, das ganze bewegliche Hab und Gut, das Luise geblieben war, verladen.

Die Köchin hatte am Nachmittag einen Berg Bouletten gebraten und ihren köstlichen Kartoffelsalat gemacht, und so saßen Luise von Wernher, ihre Kinder, das Personal und die Möbelpacker sowie der Kutscher ein letztes Mal in der großen Küche beisammen. Die Frauen und Kinder tranken Limonade, die Männer Bier und zum Abschluss einen kleinen Schnaps. Aber obgleich das Essen wirklich jeden Geschmack getroffen hatte, war die Stimmung gedrückt. Jeder Versuch, sie aufzulockern, misslang.

Man wusste, es war ein Abschied für immer. Nicht nur von dem zauberhaften Anwesen, auch von der schönen Vergangenheit.

Luise schickte ihre Kinder früh zu Bett.

„Wir müssen morgen früh aufstehen“, sagte sie, „da solltet ihr ausgeschlafen sein.“

Und als sie protestieren wollten, hatte sie ein Leckerchen bereit.

„Ich habe“, begann sie und machte ihr spitzbübisches Gesicht, dem niemand in der Familie widerstehen konnte, „mit den Möbelmännern gesprochen“.

Sie machte eine Pause, um die Spannung zu steigern.

„Wenn ihr ausgeruht seid und auf der Fahrt nicht einschlaft, dann dürft ihr in dem Möbelwagen mitfahren.“

Diese Aussicht wirkte Wunder. Bevor man es überhaupt bemerkt hatte, waren die Kinder in ihren Zimmern verschwunden.

Ein letztes Mal ging Luise in die Kinderzimmer.

Da, wo bisher die Betten gestanden hatten, lagen nur die Matratzen auf dem Boden. Die Bettgestelle waren schon verladen.

‚Mein Gott’, dachte sie, als sie die Kinder sah. Natürlich wusste sie, dass sie nur so taten, als ob sie schliefen. Aber sie schien diesen kleinen Betrug zu glauben, gab jedem ihrer Kinder einen Gutenachtkuss, löschte das Licht und ging in ihr eigenes Schlafzimmer.

Lange stand sie am Fenster und sah in den Garten hinaus, der inzwischen im Dunkel lag.

Sie hatte Anweisung gegeben, die Allee zu beleuchten und unter der Kastanie eine Fackel zu entzünden. Sie warf ihr flackerndes Licht auf die Bank, auf den Stamm des Baumes, zauberte Figuren, sich ständig bewegend, ausgelassen tanzend. Paare, die sich trennten und sich wieder fanden und zwischen all den ausgelassenen Gästen sie, Luise und Achim.

„Schluss jetzt!“, befahl sie sich, und mit einem Mal war alles vorüber: Die Allee lag in trübem Licht, die Gartenfackel blakte, die Musik war nur der Wind.

Mit einem Ruck drehte sie sch um. Die Frau, die ihr im Spiegel gegenüber stand, sah traurig aus, müde auch, abgekämpft vielleicht, verzweifelt wohl eher nicht. Das wäre zuviel gesagt. Nein, verzweifelt war sie nicht wirklich. Leer, das traf es wohl besser. Während sie sich im Spiegel betrachtete, ohne wirkliches Interesse, legte sie die Kleidung ab.

Stück für Stück legte sie auf den einen noch verbliebenen Stuhl. Sie sah sich zu, wie sie das Kleid gerade zog, wie sie das Unterkleid glättete.

Sie wunderte sich, dass sie sich auf einmal so fremd war. Nichts konnte sie mit dem Bild, das sie im Spiegel sah, verbinden. Sie und ihr Spiegelbild hatten nichts gemein.

Sie schnitt eine Grimasse. Ihr Spiegelbild gab sie wieder. Aber sie spürte nichts.

Sie entkleidete sich weiter, machte sich nicht mehr die Mühe, alles ordentlich auf den Stuhl zu legen. Bis sie nackt vor dem Spiegel stand.

Sie war schön. Immer noch.

Warum sah man ihrem Körper die letzten Tage und Wochen nicht an?

Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und schlüpfte unter die Decke. Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen.

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