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Orientierungslos

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Schon morgens im Bad kündigte sich an, dass dieser Tag nicht wie jeder andere werden würde.

»Maike, du musst unbedingt so eine Antirutschgummimatte in deine Badewanne kleben, sonst ist das Duschen bei dir ja lebensgefährlich.«

Die Warnung meines Vaters klang mir noch in den Ohren, als ich an diesem ungemütlichen Dezembermorgen des Jahres 2006 den Halt verlor. Ich hatte schlecht geschlafen, war noch im Halbschlaf ins Bad gestapft und hoffte auf Besserung nach der Dusche. Daraus wurde nichts. Als ich das Wasser anstellen wollte, rutschte ich aus, schlug mit dem Knie unsanft gegen den Wannenrand, mein Gleichgewichtssinn verabschiedete sich, meine Hände griffen nach dem flattrigen Duschvorhang, und schon fand ich mich fluchend auf dem Wannenboden wieder. Autsch.

Das würde einen dicken blauen Fleck geben. Ich rieb mir das Knie, zog mich umständlich mit den Armen am kalten Wannenrand hoch und duschte einbeinig balancierend im Schnelldurchlauf. In meinen kuscheligen Bademantel gehüllt humpelte ich voller Selbstmitleid in die Küche. Dort setzte ich einen starken Kaffee auf, der hoffentlich meine Lebensgeister wecken würde. Der blaue Lieblingsbecher mit dem Leuchtturm drauf verfehlt seine Wirkung eigentlich nie, aber an diesem Morgen fehlte mir nicht nur die Orientierung, ich fühlte mich richtig niedergeschlagen.

Ich schlurfte zurück ins Bad. Diese müde Person, die mir da aus dem beschlagenen Spiegel entgegenblickte, wer war das eigentlich? In meiner Wohnung fanden sich zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Dekoleuchttürme, aber ich hatte das Gefühl, keiner konnte mir den richtigen Weg weisen. Immer drehte ich mich im Kreis. Ich sah den Horizont vor lauter Leuchttürmen nicht mehr.

Die Frau im Spiegel war 35 Jahre alt, studierte Wirtschaftsinformatikerin, unfreiwillig kinderlos und gerade frisch zum zweiten Mal geschieden. Es fühlte sich alles falsch an. Mit meinem Alter haderte ich nicht, aber der Job und die Familiensituation waren ganz und gar nicht das, was ich mir für mein Leben mit Mitte dreißig ausgemalt hatte. Ich verdiente gutes Geld und war frei, zu tun und zu lassen, was ich wollte, aber was wollte ich denn? In den vergangenen Jahren hatte ich mehrfach den Arbeitgeber gewechselt. Ich dachte, damit würde sich das Blatt wenden.

»Viel Erfolg und alles Gute. Wir werden dich vermissen.«

»Du bleibst der Branche ja erhalten, dann sehen wir uns auf der Messe. Da feiern wir!«

So oder ähnlich hatten mir die Kolleginnen und Kollegen jeweils gute Wünsche zum Jobwechsel mit auf den Weg gegeben. Geändert hatte sich jedoch nichts, denn ich hatte den wichtigsten Faktor übersehen: Ich hatte immer nur den Arbeitgeber gewechselt, der Job war aber der Gleiche geblieben. Und in dem funktionierte ich zwar ganz gut, war aber schon über Jahre unglücklich und suchte jeden Morgen aufs Neue meine Motivation.

Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel. In meinen Augen war kein Glanz, sie schauten mattgrau zurück. Ich fühlte mich farblos und unscheinbar.

Mit dem Kaffee setzte ich mich auf den Barhocker am Küchentisch und versuchte, das schmerzende Knie zu ignorieren. Das bekannte Gefühl, der Verdruss, in meinem Job gefangen zu sein, kroch wieder in mir hoch. Es war ein klassisches Hamsterrad.

»Das kann es doch nicht gewesen sein …«, ging es mir als Mantra ständig durch den Kopf. Nur einen Ausweg hatte ich nicht parat.

Der Gedanke an den Abend munterte mich etwas auf: Die Firmenweihnachtsfeier sollte an diesem Tag mit einer abendlichen Schiffstour durch den Hamburger Hafen stattfinden, anschließend war ein großes Essen im beschaulichen Portugiesenviertel vorgesehen. Geplant war eine Rundfahrt auf einer traditionellen Barkasse, einem dieser typischen kleinen rustikalen Boote, mit denen früher die Hafenarbeiter zu den Docks geschippert wurden. Natürlich sind die Barkassen inzwischen etwas komfortabler ausgestattet, alle verfügen über umlaufende Holzsitzbänke oder Stühle, einen geschützten Innenraum, einen überdachten Außenbereich und ein WC. Je nach Ausführung ist auf diesem Bootstyp Platz für um die fünfzig Personen.

Sollte ich mit meinem geschundenen Knie nun wirklich noch ans andere Ende der Stadt in die Firma fahren oder heute einfach Homeoffice machen? Oder vielleicht doch alles absagen und es mir an diesem Abend zu Hause gemütlich machen? Was konnte aus diesem Tag nach dem blöden Duschunfall schon noch werden?

Ich ging in Gedanken kurz die Liste der unbedingt erforderlichen Anrufe und Bürotätigkeiten des Tages durch. Sehr lang wurde die Liste nicht. Die Auflistung der heimischen Aufgaben versprach da viel mehr Abwechslung: Der Schmutzwäscheberg im Schlafzimmer war auf beachtliche Ausmaße angewachsen, der Kühlschrank war fast leer, die Spülmaschine wartete darauf, ausgeräumt zu werden, und war es nicht höchste Zeit, die Winterreifen aufziehen zu lassen? Ich hätte den Tag so gut sinnvoll nutzen können, das große Fenster im Wohnzimmer hätte ich auch zu gern mal wieder auf Hochglanz gewienert – stattdessen die innere Auseinandersetzung mit meinem Gewissen. Ich rief im Büro an.

»Sie können heute ausnahmsweise von zu Hause arbeiten, wenn Sie wirklich nicht mit dem Auto in die Firma kommen können, aber in den nächsten Wochen möchte ich Sie regelmäßig hier vor Ort sehen«, gab mein Chef widerwillig sein Okay. Er teilte mir allerdings zugleich noch eine aufwendige Aufgabe zu, zu der ich ihm vor Feierabend Ergebnisse mailen sollte.

Also schlechte Karten für die Winterreifen und das Wohnzimmerfenster. Aber den Wäscheberg würde ich immerhin zwischendurch abtragen können und die Küche bot auch willkommene Abwechslung. Normalerweise drücke ich mich vor der Hausarbeit, aber wie so häufig in letzter Zeit schien sie mir das kleinere Übel zu sein.

Es nützte ja nichts, ich begab mich ins Arbeitszimmer. Nun gut, diese Bezeichnung war etwas weit hergeholt, es diente außerdem als Gästezimmer, Abstellkammer, Wäschezimmer, als Werkstatt, und mit den zwei kleinen Hanteln in der Ecke hinter der Tür hatte es sogar einen Fitnessbereich. Als ich mich an den Schreibtisch setzte und den PC hochfuhr, fiel mein Blick erstmals bewusst nach draußen. Durch die Milchglasscheibe im Bad war mir gar nicht aufgefallen, wie dunkel es draußen noch war, obwohl die Uhr an der Wand bereits halb zehn zeigte. Ein trüber Tag. Nebel vermischte sich mit Nieselregen und waberte als undefinierbare graue Pampe zwischen den hohen Tannen durch den kleinen Garten hinterm Haus. Auf der Terrasse tanzten einzelne vertrocknete braune Blätter umher, bis sie vom Regen beschwert an einem der Laubhaufen hängen blieben.

Über meinem Schreibtisch hatte ich eine Postkarte an die Wand gepinnt: »Was immer du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es jetzt« stand da. Darüber war eine große leuchtende Sternschnuppe an einen dunklen Himmel gezeichnet.

»Ach, Goethe, du hast ja so recht.« Wenn ich nur wirklich wüsste, was ich denn eigentlich wollte. Ich wusste eher, was ich nicht mehr wollte.

Meine große Freiheit

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