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Landgang

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Zum Wintersemester 1991 schrieb ich mich an der Kieler Universität für das Studienfach Sozialökonomie ein. Eigentlich wollte ich BWL studieren, damit hätte ich zunächst ein solides Fundament und könnte mir alle Wege offenhalten. Die Zentralstelle für Studienplatzvergabe bot mir jedoch nur Essen und Göttingen als Studienorte an. Gab es da überhaupt Wasser und Schiffe? So weit landeinwärts und aus meiner Sicht beides in Süddeutschland gelegen. Das kam nicht infrage. Also blieb ich dem Norden treu und entschied mich für Sozialökonomie und Kiel. Das war überschaubar, ich fühlte mich in der Stadt wohl, und außerdem bestand die Chance, während des Grundstudiums den Studiengang zu wechseln. Hamburg war mir zu dem Zeitpunkt noch viel zu groß und unübersichtlich.

Schnell wurde klar, dass ein Universitätsstudium nichts für mich war. Viel zu wenig Struktur und viel zu viele Möglichkeiten, sich mit Partys und anderen Dingen im Umfeld abzulenken. Nach drei Semestern und nur zwei erfolgreich bestandenen Kursen beendete ich aus eigenen Stücken das Lotterleben. Ich merkte, dass es nicht voranging und wollte mich stattdessen an der Fachhochschule für Betriebswirtschaft einschreiben. Dazu benötigte ich entweder eine abgeschlossene Ausbildung oder ein halbjähriges Betriebspraktikum. Ich bekam von der Fachhochschule eine Liste mit kooperierenden Betrieben und bewarb mich. Leider waren die Plätze bei den von mir präferierten Logistikunternehmen schon vergeben, so schloss ich einen Praktikumsvertrag bei einer Büroausstattungsfirma ab.

Mir gefiel der Betrieb, die Aufgaben waren abwechslungsreich, und ich hatte mich schnell mit einigen Mitarbeitern und den Auszubildenden angefreundet.

»Frau Brunk, wir sind sehr zufrieden mit Ihnen und möchten Sie gern bei uns behalten. Können Sie sich vorstellen, bei uns eine kaufmännische Ausbildung mit dualem Studium an der Wirtschaftsakademie zu absolvieren?«

Das Angebot nach dem Praktikum klang gut, ich sagte ohne lange nachzudenken zu. Ausbildung, Studium und dazu ein Gehalt, mit dem ich monatlich gut über die Runden kommen würde. Optimal. Da gab es nur ein Problem. Die Plätze für die Betriebswirte waren für das kommende Studienjahr bereits alle vergeben.

»Was halten Sie eigentlich von Wirtschaftsinformatik?« Der Geschäftsführer schaute mich erwartungsvoll an.

Ich zögerte. Mathematik und Zahlen lagen mir grundsätzlich, ich hatte auch Spaß an Computeranwendungen und verfügte über erste Programmierkenntnisse. Aber eigentlich wollte ich doch etwas anderes. Oder?

»Ja, vielen Dank, ich nehme Ihr Angebot sehr gern an!«, hörte ich mich sagen.

So bin ich also in meine IT-Karriere geschliddert, ein absoluter Zufall. Ich hätte mir das selbst nicht ausgesucht. Es hat funktioniert, aber eine rechte Begeisterung wollte sich nie einstellen.

Meine Freundin Marion erinnerte mich noch Jahre später an meine wahre Leidenschaft während des Studiums.

»Du hast doch nie gern programmiert, Maike. Du hast nur stundenlang dem damals angesagten Bildschirmschoner Johnny Castaway zugesehen.«

Ich lachte. Ja, sie hatte recht.

Damals waren bewegte Bilder auf dem PC-Bildschirm noch neu, und ich war fasziniert von dem sympathischen auf einer Südseeinsel gestrandeten Seemann, der den Tag damit zubrachte, auf die nächste Flaschenpost, ein vorbeifahrendes Schiff, eine kackende Möwe oder eine Meerjungfrau zu warten. Da der Bildschirmschoner natürlich nur ansprang, wenn ich gerade nicht programmierte, ließ ich immer häufiger die Hände von der Tastatur. Der digitale Inselmann war viel zu spannend und bot eine fantastische Ablenkung. Ich hätte schon damals bemerken können, dass mein Herz nicht für die Informatik schlug.

Nach der Ausbildung blieb ich noch ein Jahr auf freiberuflicher Basis für das Schulungszentrum des Betriebes. An den Amtsgerichten in Schleswig-Holstein sollten PCs eingeführt werden, und ich bekam den Auftrag, Schulungen für die Windows-Oberfläche, eine Textverarbeitung und eine spezielle Gerichtssoftware durchzuführen. Ich reiste durch das Land und hatte alle zwei Wochen acht neue Schüler vor mir, anschließend schrieb ich Rechnungen an die Auftraggeber. In dieser Zeit lernte ich vor allem, keine Angst vor Hierarchieebenen zu haben, egal ob da gerade gesetzte Richter, die vermeintlich über den Dingen standen, oder Schreibkräfte mit Sorge vor dem Verlust ihrer geliebten Schreibmaschine vor mir saßen. Für meinen späteren Berufsweg war diese Lektion sehr hilfreich. Das Dozentendasein lag mir, vermutlich wurden die erblich bedingt tief in mir ruhenden Lehrergene optimal angesprochen. Ich war zu dieser Zeit mit meinem langjährigen Freund in einem Hamburger Vorort zusammengezogen, und wir planten zu heiraten.

Als der Schulungsauftrag nach einem Jahr auslief, beschloss ich, mich beruflich umzuorientieren. Ich wollte nicht dauerhaft »Lehrer« sein. Außerdem gab es nach dieser ersten Selbstständigkeit ein böses Erwachen, als das Finanzamt mir mitteilte, dass ich die eingenommene Umsatzsteuer bitte abführen möge. Ich war 24, hatte gerade sehr gut verdient und das Leben mit dem ersten eigenen Geld in vollen Zügen genossen. Trotz meiner kaufmännischen Ausbildung und meines Faibles für Buchhaltung hatte ich an die Umsatzsteuer keine Gedanken verschwendet. Ich war überzeugt davon, alles im Griff zu haben. Als die hohe Nachzahlung kam und meine Finanzplanung gehörig durcheinanderwirbelte, schwor ich mir, mich nie wieder selbstständig zu machen.

Nach einer Zwischenstation als Teamassistentin bei einer Firma für Sieb- und Brechanlagen zum Betonrecycling landete ich bei einer Hamburger IT-Firma, die Dokumentenmanagement- und Workflow-Systeme verkaufte. Es ging grob gesagt darum, das Papier aus den Büros zu verbannen. Zunächst war ich Assistentin, später Vertriebsbeauftragte. In dieser Branche blieb ich neun Jahre stecken. Es gab gute Zeiten, ich hatte tolle Kollegen, der Job funktionierte, aber ich hatte einfach zu wenig Begeisterung dafür.

Inzwischen hatte ich geheiratet, wir hatten ein Haus gekauft, und ich träumte von einer eigenen Familie. Die Ehe scheiterte bereits im ersten Jahr, und ich suchte mir eine Wohnung in Hamburg. Danach hatte ich mehrfach den Arbeitgeber gewechselt und den vorübergehenden Ausstieg aus dem Angestelltendasein dann doch wieder mit einer Selbstständigkeit gewagt. Gemeinsam mit einer früheren Kollegin hatte ich ein Beratungsunternehmen in der uns vertrauten IT-Branche gegründet. Zunächst mit sehr viel Elan und Gründergeist hatten wir unzählige Seminare zur Existenzgründung besucht, einen Businessplan geschrieben, ein Darlehen erhalten, ein Firmenlogo designt, Visitenkarten drucken lassen und schicke Büroräume angemietet. Leider stellte sich jedoch schnell heraus, dass eine Zweiergründung ihre besonderen Tücken hat. Unsere persönlichen Voraussetzungen waren zu unterschiedlich, sodass wir dieses Experiment schon nach einem Dreivierteljahr auflösten. Ich landete wieder als Angestellte im Vertrieb.

Ständig überlegte ich, wo meine wahre Bestimmung zu finden wäre. Überall konnte man doch lesen, dass jeder etwas hatte, das er besonders gut beherrschte und mit dem er oder sie glücklich werden würde. Was konnte nur mein besonderes Talent sein, fragte ich mich bei so manchem Glas Wein nach Feierabend. Meine Wohnung hatte ich in dieser Zeit mit zahlreichen Leuchttürmen dekoriert: Kalender, Poster, Skulpturen, Postkarten – jedoch fehlte mir die Orientierung. Vielleicht waren es einfach zu viele Leuchttürme?

Eines Abends im Januar 2003 saß ich vom Tag ausgelaugt matt auf der Couch und zappte durch die Programme. Ein Spielfilm mit Uschi Glas, eine Naturdoku über die russische Taiga, eine Daily Soap, eine CSI-Serie …

Beim WDR blieb ich hängen. Bettina Böttinger hatte drei Talkgäste in ihrer Sendung. Peter Heinrich Brix mochte ich als drögen Partner von Jan Fedder in Neues aus Büttenwarder, daneben saßen zwei Frauen, die ich nicht einordnen konnte.

Uta Glaubitz, eine Berliner Berufsfinderin, war mit einer ihrer Klientinnen zum Talk geladen. Es ging um Berufswechsel. Die resolute Frau, die Frau Glaubitz als Fallbeispiel begleitete, berichtete gerade, dass sie eigentlich ausgebildete Krankenschwester war und davon träumte, Kapitänin auf hoher See zu werden. Ich war sofort gebannt und schwer beeindruckt. Ging so was denn überhaupt? Konnte jemand, der langjährig in seinem Beruf tätig war, einfach irgendwann komplett umschwenken, im wahrsten Sinne alles über Bord werfen und etwas ganz Neues beginnen? Ich konnte mir das nicht so recht vorstellen. Aber natürlich geht das, man muss nur vom Sofa hochkommen.

Ich blieb erst mal sitzen und starrte auf den Bildschirm, während in meinen Gedanken am Horizont ein Leuchtturm aufblinkte. Wenn es möglich war, noch mal ganz von vorn anzufangen, was würde ich dann ändern? Dass ich etwas ändern musste, war mir klar – es fehlte jedoch der Impuls für die richtige Richtung. Fasziniert verfolgte ich die Sendung. Die Krankenschwester war bei Uta Glaubitz in der Beratung gewesen und hatte herausgefunden, wo ihre Talente und vor allem ihre Motivation vergraben lagen. Die beiden hatten einen Plan ausgearbeitet, welche Schritte erforderlich waren, damit die Krankenschwester tatsächlich Kapitänin eines großen Pottes werden konnte. Sie war auf dem Weg zu ihrem Glück und ließ ihr altes Leben einfach hinter sich. Das wollte ich auch.

Direkt nach der Sendung suchte ich im Internet nach Informationen zu Frau Glaubitz und notierte mir die Telefonnummer. Am Folgetag rief ich ihr Büro an und meldete mich direkt zum nächsten Berufsfindungsseminar in Hamburg an. Das Seminar fand im Konferenzraum eines Hotels nahe dem Hauptbahnhof statt, wir waren insgesamt vier Teilnehmerinnen. Wir kamen aus sehr unterschiedlichen Branchen, hatten aber das gleiche Problem. Unseren aktuellen Beruf wollten wir nicht mehr, wussten aber noch nicht, wohin die Reise uns führen sollte. Im Laufe der zwei Workshop-Tage wurden uns interessante Fragen gestellt.

»Wofür stehen Sie morgens gern früh auf?«

»Was wäre Ihr Traumjob, wenn Sie sich einfach einen aussuchen könnten, ohne überlegen zu müssen, wie man dorthin gelangt?«

Es ging auch um das Selbstbild und das Fremdbild, wir wurden aufgefordert, den jeweils anderen Teilnehmerinnen Attribute zuzuschreiben. Wie wirkten sie auf uns, was trauten wir ihnen zu? Das fand ich ungeheuer interessant. Man umgab sich ja sonst meist mit der vertrauten bubble, jeder hatte irgendwie seinen vermeintlich festen Platz und wusste, was er konnte. Was kam dabei raus, wenn man ohne Kenntnis der Hintergründe und des Lebenslaufs von wildfremden Personen eingeschätzt wurde?

Wir wurden gefragt, wessen Job wir gern hätten. Mein Traumjob zu diesem Zeitpunkt wäre die Position von Birgit Breuel als EXPO-2000-Chefin in Hannover gewesen. Das hätte mir gefallen: viel Organisation, viele Menschen, viele Nationen, viele Herausforderungen. Im wirklichen Leben vermutlich auch viel Politik, viel Lobbyarbeit und viele Kompromisse – diese Schattenseiten sah ich aber natürlich nicht, als ich überlegte, was ich machen würde, wenn ich mir einfach einen Job aussuchen könnte.

Es stellte sich heraus, dass die anderen mir ausnahmslos eine Selbstständigkeit zutrauten und dass sie mich als offenen, kommunikativen Menschen wahrnahmen. Mein eigenes Selbstbild war zu dieser Zeit ein ganz anderes. Ich fühlte mich eher schüchtern, war mit vielen zaghaften Ideen gescheitert und träumte viel. Dass es höchste Zeit war, meinem Leben eine andere Richtung zu geben, wusste ich. Aber wo sollte es nur hingehen?

Am Ende des Seminars wusste ich, welche Eigenschaften der Job, der zu mir passt, haben musste. Ich müsste selbstständig arbeiten, möglichst viel direkt mit Menschen und Organisatorischem zu tun haben, kreativ sein können, war nicht gut darin, mich unterzuordnen, bräuchte regelmäßig neue Herausforderungen, mochte keine Routine, war touristisch interessiert, sollte am besten an der frischen Luft unterwegs sein, und vielleicht wäre auch Fotografie ein Thema. Wie bitte? Was für ein Job konnte das nur sein? Es stand leider nicht dabei, dass ich mich direkt mit Hafentouren selbstständig machen sollte und auch nicht, wie das ging, auch wenn die Beschreibung perfekt auf meinen heutigen Job passte.

Es war 2003, ich hatte noch Schulden vom Hauskauf der gescheiterten ersten Ehe abzuzahlen, war inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, Alleinverdienerin, und mein Mann studierte. Ich träumte immer noch von einer eigenen Familie, doch mein Kinderwunsch sollte sich nicht erfüllen. Damals hatte ich wenig Selbstvertrauen. Ich stand im Job unter Druck, fühlte mich im IT-Vertrieb zunehmend fehl am Platz und fand einfach den Ausweg aus meinem Dilemma nicht. Ein halbes Jahr lang kämpfte ich sogar mit Herzrhythmusstörungen und zu hohem Blutdruck. Meine Ärztin verschrieb zunächst Betablocker, legte mir später aber dringend eine Änderung der beruflichen Situation nahe, da ich durch die Betablocker nur noch antriebslos auf dem Sofa rumhing. Ich verlor in dieser Zeit fast den Kontakt zu mir selbst.

Das Seminar gab mir Hoffnung. Danach hatte ich viele Ideen, setzte aber erst mal keine davon um. Ich war sehr zögerlich und fühlte mich in den Umständen gefangen. Vielleicht konnte ich irgendwo eine Umschulung machen? Ein paar Jahre zuvor hatte ich nebenbei ein Zusatzstudium im Bereich Kultur- und Bildungsmanagement begonnen und ernsthaft überlegt, ob ich nicht doch hätte Lehrerin werden sollen. Innerlich fühlte sich das aber an wie eine Sackgasse. So lief mein Leben im immer gleichen Trott weiter, alles dümpelte in seichtem Gewässer vor sich hin.

Bis zu dem Tag, an dem ich für ein IT-Beratungsprojekt bei einem neuen Arbeitgeber zum ersten Mal einen Fuß in ein wunderschönes, imposantes Gebäude an der Hamburger Binnenalster setzte, den Hauptsitz der Reederei Hapag-Lloyd. Ich war für ein Projekt im Kreuzfahrtbereich engagiert worden. Über der prächtigen Eingangshalle prangte der Leitspruch des Firmengründers Albert Ballin: »Mein Feld ist die Welt.« Der Spruch zog mich in seinen Bann, die dort aufgestellte Büste von Herrn Ballin beäugte mich vermeintlich kritisch von links. Ballin schien zu mir zu sprechen.

»Mädchen, irgendwas in deinem Leben läuft gehörig schief. Tu was dagegen!«

Drei Monate lang ging ich fast jeden Morgen an dieser Büste vorbei, und immer schien sie mir zuzuraunen. Es hatte etwas Unheimliches. Bildete ich mir das ein oder sprach Ballin wirklich zu mir? Unmerklich nickte ich ihm täglich zu. Das Haus und der Betrieb gefielen mir sehr. Ich erinnerte mich an die früheren Traumschiff-Episoden. Vielleicht wäre doch Kreuzfahrtmanagerin mein Ding?

Eines Abends recherchierte ich in einer Weinlaune die notwendigen Qualifikationen. Eine Ausbildung im Tourismus oder ein betriebswirtschaftliches Studium waren von Vorteil. Damit konnte ich leider nicht dienen. Sollte ich noch mal ganz von vorn anfangen? Beim Durchklicken der verschiedenen Angebote landete ich auf der Seite eines Düsseldorfer Studieninstituts. Sie boten in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Schmalkalden in Thüringen das Fernstudium Tourismus-Betriebswirtschaft an. Es würde meine Situation nicht umgehend verändern, aber mir doch eine Perspektive bieten. Ich hatte das Gefühl, etwas in Gang zu setzen. Ich meldete mich an, das Studium dauerte drei Jahre.

Meine große Freiheit

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