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Seegang

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Mein zweites Praktikum während der Schulzeit führte mich auf eine Nordseeüberquerung der ganz besonderen Art. Ich war damals 18 und Schülerin im zwölften Jahrgang eines Husumer Gymnasiums. In den Osterferien wollte ich ein außerplanmäßiges Betriebspraktikum machen, um in ein mir unbekanntes Berufsbild hineinzuschnuppern.

Der jüngste Bruder meines Vaters war damals Schifffahrtskaufmann bei der Reederei Hamburg Süd. Ich interessierte mich für Logistik, für Warentransporte und die Schifffahrt und wollte gern selbst Eindrücke und Einblicke bekommen. Im Frühjahr 1990 rief ich meinen Onkel in Hamburg an.

»Hey, Martin, sag mal, kann ich vielleicht in den Ferien bei euch im Betrieb ein Praktikum machen? Und solange bei dir in Hamburg wohnen?«

Die Aktion war ein wenig mit der Tür ins Haus, aber wir hatten schon immer ein ganz gutes Verhältnis.

»Maike, wie schön von dir zu hören. Klar kann ich dir das Praktikum organisieren, das wird schon gehen. Aber warte mal, mir fällt da noch etwas Besseres ein: Willst du nicht direkt zu unserer Partneragentur in Schottland und dir die dortige Firma ansehen? Ich kann mal mit John, dem Chef dort, reden. Ich sag dir in den nächsten Tagen Bescheid.«

Mir fiel vor Freude die Kinnlade runter, meine Augen strahlten, und ich konnte mein Glück kaum fassen. Meinte er das ernst? Nach Schottland? Natürlich wollte ich! Wenn das klappte, würde ich Ostern nach Schottland fahren. Ich begab mich gedanklich sofort voller Vorfreude auf die Fähre.

Ein paar Tage später kam die telefonische Zusage durch meinen Onkel. Ich war begeistert und hüpfte vor Freude mit dem Telefonhörer in der Hand. Schottland – das klang herrlich. Vor meinem geistigen Auge malte ich mir die sanft geschwungenen grün-braunen Hügel der Highlands mit den endlosen Steinwällen und ein paar dazwischen trottenden Schafen aus. Dazu quietschte im Hintergrund Amazing Grace aus einem Dudelsack.

»Ich hab da noch eine Überraschung für dich«, fuhr mein Onkel fort. »Hättest du Lust, mit einem Containerfrachter von Rotterdam nach Schottland rüberzufahren? Zwei Übernachtungen auf dem Schiff, du wärst der einzige Passagier an Bord. Ich kenne einen Kapitän, der dich mitnehmen könnte.«

Mir fehlten kurz die Worte. Ich war überwältigt, das klang toll. Mein Onkel würde mich auf einer Dienstreise nach Rotterdam in seinem Auto mitnehmen, mich zum Hafen bringen, und ich würde auf einem Feeder, einem kleinen Containerschiff, als einzige Frau und als einziger Gast an Bord nach Schottland mitschippern. Meinetwegen konnte es sofort losgehen.

Mein Zielort war Grangemouth am Firth of Forth. Bei dieser Ortsbeschreibung musste ich an Evelyn Hamann denken, die in einem bekannten Loriot-Sketch als Fernsehansagerin ihre liebe Not mit zahlreichen komplizierten »Tie-äitsch«-Worten hat und sich fast die Zunge zu verknoten scheint.

Nach Grangemouth sollte die Reise also führen – ich hatte noch nie davon gehört, entdeckte es dann aber in meinem Schulatlas knapp nördlich der Linie zwischen Edinburgh und Glasgow. Der Firth of Forth ist der breite Mündungsbereich des Flusses Forth in die Nordsee. Am Südufer liegt die Kleinstadt Grangemouth mit ihrem Seehafen.

Die Schule bewilligte mir eine Verlängerung der Osterferien um eine Woche, somit hatte ich drei Wochen Zeit für mein Abenteuer. Wir sausten also am Tag der Abreise frühmorgens in gut fünf Stunden über die Autobahn von Hamburg nach Rotterdam, ich war unglaublich aufgeregt und fragte meinen Onkel während der Fahrt Löcher in den Bauch. Das hatte ich in den vergangenen Wochen natürlich auch schon reichlich getan. Er blieb ganz entspannt und beantwortete jede Frage.

»Wie geht das auf einem Frachter zu?«

»Wie viele Menschen sind da an Bord?«

»Wo werde ich in Schottland unterkommen?«

»Bekomme ich eine eigene Kabine?«

»Darf ich an Bord überall rumlaufen?«

Wir erreichten den Hafen, und ich betrat zum ersten Mal in meinem Leben einen Frachter. Die Besatzung des Feeders GITTA bestand aus einem deutschen Kapitän, zwei polnischen Maschinisten und ungefähr zehn philippinischen Seeleuten. An Bord wurde Englisch gesprochen.

Mir wurde für die Dauer der Überfahrt die Krankenkabine mit einer sogenannten Schlingerkoje zugeteilt. Das Bett war so aufgehängt, dass die Schiffsbewegungen nicht zu spüren waren. Bei Verletzungen oder Krankheiten kann das sehr vorteilhaft sein. Der Kapitän zeigte mir persönlich meine Unterkunft und gab mir einen wichtigen Hinweis.

»Mädchen, schließ deine Kabine ordentlich ab, die Jungs hier an Bord haben ihre Frauen schon sehr lange nicht mehr gesehen.«

Ich schaute ihn mit großen Augen fragend an und nahm diesen Hinweis zuerst gar nicht richtig ernst. Trotz meines Schuljahres in Amerika war ich doch ein sehr unbedarftes Landei aus Nordfriesland und hatte natürlich keine Ahnung vom rauen Leben auf See. Vermutlich beherbergte man auf diesem Schiff nicht sehr häufig 18-jährige alleinreisende Schülerinnen.

An die Überfahrt mit dem kleinen Containerfrachter habe ich nur schöne Erinnerungen. Der Geruch im Schiffsinneren glich dem auf der Englandfähre. Eine kräftige Mischung aus Eisen und Schiffsdiesel. Dazu eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse auf den Gängen. Der Motor stampfte, und die Türen schlugen laut zu.

Wir legten am späten Nachmittag ab. Unsere Route führte zunächst durch die für mich unübersichtlichen Becken des größten Hafens von Europa, dann lag das offene Meer vor uns. Mit Erreichen der Nordsee spürte ich das leichte Rollen des Schiffes, also das Hin- und Herwogen nach rechts und links. Trotz der Schlingerkoje hatte ich abends das Gefühl, im Schiffsrhythmus in den Schlaf gewiegt zu werden. Die Nordsee zeigte sich am nächsten Morgen fast glattgebügelt, am Horizont war in alle Himmelsrichtungen nur Meer zu sehen, der Himmel war blau. Die Sonnenstrahlen tanzten funkelnd auf der Wasseroberfläche. Irgendwo links vor uns lagen die Britischen Inseln.

Ich hatte gut geschlafen und ging zum Frühstück in die Messe, so heißt an Bord eine Mischung aus Ess- und Wohnzimmer. Der Smutje, das ist der Schiffskoch, kredenzte frische Brötchen, Marmelade, Aufschnitt und Joghurt, dazu stand ein üppig gefüllter Obstkorb auf dem Tisch. Ich fühlte mich wie auf einer exklusiven Kreuzfahrt so als einziger Gast. Die Crew war längst im Einsatz.

Fast den ganzen Tag verbrachte ich auf der Brücke und war fasziniert von den Geschichten, die mir der Kapitän von früheren Reisen erzählte. Er war lange Zeit auf großen Pötten auf der Südamerikaroute im Einsatz gewesen und hatte viel erlebt, vor allem seine Erzählungen von durchquerten Stürmen auf dem Atlantik fesselten mich. Sicher war auch eine Prise Seemannsgarn dabei. Seiner Familie zuliebe hatte er auf ein kleineres Schiff gewechselt, blieb nun vornehmlich in Nordeuropa und war damit regelmäßiger zu Hause.

Den späten Nachmittag und Abend verbrachte ich warm eingepackt auf der Brückennock, also im Außenbereich der Brücke seitlich des Steuerhauses. Von hier hat der Kapitän bei Manövern im Hafen den optimalen seitlichen Ausblick. Ich schaute beseelt Richtung Horizont. Wann immer jemand von der Besatzung mich dort entdeckte, wurde ich nur verständnislos angeschaut und gefragt, was ich denn da täte. Ich bewunderte das Meer und die glutrot darin versinkende Sonne. Atmete die Nordsee tief ein und genoss die Weite. Für die Seeleute gab es das jeden Tag, für mich hingegen war es sehr besonders und einfach nur wunderschön. Abends freute ich mich, wenn irgendwo am Horizont plötzlich ein Licht zu entdecken war. Die nächtliche finstere Nordsee schien endlos.

Als ich nach der zweiten Nacht an Bord frühmorgens erwachte und gegen sechs Uhr aus dem Bullauge meiner Kabine schaute, staunte ich nicht schlecht. Ich sah auf hell erleuchtete Hafenanlagen und qualmende Schlote. Willkommen in Grangemouth. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt, aber was wusste ich schon von Hafenanlagen. In den kommenden Wochen würde ich diesen Hafen besser kennenlernen. Ich machte mich fertig und packte schon mal meine Tasche. Nach dem Frühstück würde ich dieses Abenteuer an Land fortsetzen.

In Schottland wohnte ich als Gast im Haus des Chefs der Hafenagentur. Eine Hafenagentur kümmert sich um alle Dienstleistungen rund um den Hafenbetrieb und die Schiffsabfertigung, zum Beispiel um Zollformalitäten, Ausrüstung, Logistik, Liegeplätze, Schlepper- und Lotseneinsätze.

Das wunderschöne Haus der Familie erschien mir fast wie ein herrschaftlicher Landsitz. Es erstreckte sich über drei Stockwerke und verfügte über vier Badezimmer. Die beiden erwachsenen Kinder studierten und waren über die Ostertage nach Hause gekommen, den Haushalt komplettierten zwei große Hunde. An einem Tag nahm mich die Tochter mit auf einen Bootsausflug ihres Tauchklubs nach Oban an der schottischen Westküste. Während die Gruppe ein Schiffswrack erkundete, hielt ich oben im Begleitboot Ausschau nach Nessie. An einem anderen Tag cruiste ich mit dem Sohn durch die Highlands. Wir hörten Musik der B-52’s und sangen lauthals mit. Zwischendurch brachte er mir die schottischen Sehenswürdigkeiten im Umland näher. In einer urigen Destillerie probierte ich meinen ersten Whisky und besichtigte anschließend das beeindruckende Stirling Castle, den früheren Herrschaftssitz von Maria Stuart. Die Landschaft war überwältigend, Schottland war einfach schön.

Im Rahmen meines Praktikums erklärten die Büromitarbeiter mir die Abläufe bei der Schiffsabfertigung an der Hafenkante, und ich erhielt den interessanten Auftrag, die Firmenbroschüre aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Insgesamt war alles sehr spannend und eine komplett neue Welt für mich. Ich war fasziniert und informierte mich nach meiner Rückkehr umgehend über logistische Berufsfelder im Binnen- und Seeverkehr.

Nach der Schule kam es dann aber ganz anders.

Meine große Freiheit

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