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Mein Weg aufs Wasser

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Ich bin weit oben im Norden Deutschlands aufgewachsen, in Nordfriesland, in einem kleinen Dorf namens Ostenfeld nahe der »Grauen Stadt am Meer« – Husum. Ostenfeld liegt zwölf Kilometer landeinwärts, fast mittig zwischen Husum und Schleswig. Die Landschaft ist flach, kein Hügel stört den Weitblick. Auf den Feldern sieht man manchmal Kühe, häufig Schafe und mittlerweile unzählige Windräder. Die Bäume und Büsche auf den Knicks, so nennen wir die Feldumrandungen, sind windgeschoren, das heißt, sie neigen sich nach Osten und wachsen auf der Ostseite deutlich üppiger, da in Nordfriesland meist Westwind herrscht. Als Friese arrangiert man sich von Beginn an mit dem feuchten, windigen Klima. Es ist ja, wie es ist. Von Nieselregen und Windböen lassen wir uns den Tag nicht verderben.

Meine Eltern trafen sich bei einer Tanzveranstaltung während des Studiums in Kiel, verliebten sich und zogen bald nach ihrer Hochzeit nach Nordfriesland. Meine Mutter brachte als Lehrerin an der Grundschule über Jahrzehnte so gut wie dem ganzen Dorf das Lesen und Schreiben bei, mein Vater war Berufsschullehrer in Husum und engagierte sich sehr in der dörflichen Gemeindearbeit. Bis heute ist ihre Telefonnummer dreistellig, das hat sich auch trotz zwischenzeitlichem Anschluss des Dorfes an das Glasfasernetz nicht geändert.

Ich wuchs mit zwei jüngeren Brüdern auf, Gerald und Malte. Gerald war nur knapp ein Jahr jünger als ich. Mit zwei Jahren erkrankte er schwer an einer Hirnhautentzündung und wurde in der Folge gehörlos. Für unsere Familie war das ein erschütternder Einschnitt, fast ein Jahr lang drehte sich durch die Krankheit alles um die Genesung meines Bruders. Als große Schwester lernte ich schnell, selbstständig zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Unsere Familie erlernte die Gebärdensprache, zusätzlich entwickelten Gerald und ich unsere eigene Sprache, jenseits der regulären Handzeichen. Wir stritten und liebten uns wie alle Geschwisterkinder und hatten eine schöne Kindheit auf dem Lande mit unendlichen Stunden draußen in der Natur und im Handballverein in der benachbarten Sporthalle. Die Kenntnis der Zeichensprache kam mir später in so mancher Lateinklausur zugute. Ich brachte meinen engsten Freundinnen das Fingeralphabet bei, und so konnten wir uns entspannt hinter dem Stuhlrücken Worte buchstabieren, ohne dass die Klassenaufsicht es mitbekam.

Als Gerald und ich acht und neun Jahre alt waren, wünschten wir uns ein Geschwisterchen. Im darauffolgenden Jahr wurde Malte geboren. In den ersten Jahren betüdelte ich mein kleines Brüderchen wo es nur ging. Mein wachsendes Bedürfnis auszugehen, kollidierte jedoch bald darauf mit der Pflicht, auch mal auf den Kleinen aufzupassen. Inzwischen ist der »Kleine« mir deutlich über den Kopf gewachsen und hat eine eigene Familie. Außerdem ist er – wer hätte das gedacht – Lehrer geworden. Malte lebt ebenfalls in Hamburg, und wir treffen uns regelmäßig.

Im Jahr 2017 starb Gerald mit nur 44 Jahren als junger Familienvater in Hamburg an einem bösartigen Hirntumor. Wir hatten zeitlebens eine besondere Verbindung. Er lebt weiter in unseren Herzen und in seinen beiden süßen Töchtern, deren Patentante ich bin.

Wann immer sich die Gelegenheit bot, war ich von klein auf im oder auf dem Wasser unterwegs. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wir fuhren früher oft zum Baden an die Nordsee oder an den nahe gelegenen Fluss Treene, außerdem lag das Freibad im Heimatdorf gleich nebenan. Mein Vater stammt aus Hamburg, wir besuchten regelmäßig meine Großeltern im Stadtteil Blankenese. Ein Kinderbild zeigt mich mit vier Jahren mit strahlenden Augen und voller Enthusiasmus auf meiner ersten großen Hafenrundfahrt in Hamburg. Auf einem anderen Bild stehe ich mit sehnsüchtigem Blick an der Kaikante. Doch meine Hafenkarriere war noch in weiter Ferne.

In unserer Kindheit waren Gummi- und Tretboote hoch im Kurs. Wir hatten zwei Gummiboote, in denen unsere Eltern Gerald und mich regelmäßig auf der Treene herumpaddeln ließen. Ab einem Alter von ungefähr acht Jahren fuhr mein Vater uns mit dem Auto ein paar Kilometer flussaufwärts und setzte uns dort ab, um uns nach gut drei Stunden stromabwärts im Nachbardorf wieder einzusammeln. Da es damals keine Handys gab, bekam ich zwanzig Pfennig mit auf den Weg und vermeldete unsere erfolgreiche Ankunft jeweils über die örtliche Telefonzelle. In heutiger Zeit wäre das wohl undenkbar. Unsere aufregenden Paddelreisen hatten entlang grasbewachsener Deiche und durch im Wasser stehende Kuhherden geführt. Die Herausforderung war, erfolgreich um die großen Tiere herumzumanövrieren. Wir hatten uns vorgestellt, die Kühe seien Seeungeheuer und wir Wikinger auf Beutezug. Einmal stülpten wir ein T-Shirt über eines unserer beiden Paddel und »segelten« majestätisch an den bedrohlichen Ungeheuern vorbei. Wir hatten reichlich Fantasie und vor allem viel Spaß. Dass die Wikinger die Treene tatsächlich früher von der nahe gelegenen Stadt Haithabu aus genutzt hatten, um zur Nordsee zu gelangen, wurde mir erst viele Jahre später bewusst. Die Gummiboote reisten einige Jahre lang auch mit in den Familienurlaub, und wir paddelten damit über viele wilde Seen und Flüsse. Dass ich in Freizeitparks wie dem HANSA-PARK oder LEGOLAND am liebsten Schiffschaukel, Wildwasserbahn und Tretboot fuhr, versteht sich wohl von selbst.

Unzählige Schiffe in meinem Leben waren aus Papier und selbst gefaltet. Ich liebe es, Papiere aller Art zu falten, ob Zeitungsseite oder Bonbonpapier, alles wurde schon immer im Handumdrehen zu einem Schiff geformt. Wenn wir uns bei Renovierungsarbeiten im Studentenalter aus Zeitungsseiten Hüte bastelten, um die Haare zu schützen, trug ich mitunter ein Faltboot auf dem Kopf. Auch heute noch hängen in meiner Küche zwölf bunte Miniaturpapierboote in einem Bilderrahmen, die meine Freundin Marion mir jüngst zugedachte. Die Faltleidenschaft besteht weiterhin.

Meine Eltern sind seit ich denken kann Segler. Ich fand zu dieser Art der Fortbewegung leider bis heute keinen richtigen Zugang. Im Erwachsenenalter machte ich zwar einen Segelschein auf der Hamburger Alster, zähle mich jedoch eher zu den Schönwetter- und Flautenseglern, wenn überhaupt. Sobald sich ein Segelboot im Wind bei mehr als drei Windstärken nur ganz leicht zur Seite neigt, melden sich umgehend meine inneren Alarmglocken und versetzen mich in den Überlebensmodus. Meine Pupillen werden groß, Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, und die Atmung wird hektisch. Ich mag das nicht, meine Hände suchen dann umgehend Halt, und ich hoffe inständig, dass dieser Törn bald vorüber sein möge. Die fröhlichen Gesichter meiner erfahrenen Mitsegler, die erst bei aufkommendem Wind so richtig Freude am Segeln haben, können mich dabei leider nicht beruhigen.

Meine Mutter erzählt immer gern von dem Moment, als ich auf einem Familiensegeltörn mit großen Augen »Ist das normal?« fragte, als wir uns erstmals etwas zur Seite neigten. Meine Eltern lachten damals nur, während mein Innerstes zu rebellieren begann. Mein Vater versuchte, mich zu beruhigen: »Maike, du kannst uns und unserer Segelerfahrung da schon vertrauen und auch dem Boot selbst. Das hat einen Kiel und richtet sich dadurch immer von selbst wieder auf, da kann gar nichts passieren.«

Ich war zu dem Zeitpunkt bereits über dreißig Jahre alt und verfügte eigentlich über ein gutes physikalisches Grundverständnis, aber es war nicht mehr viel zu retten. Mein Vertrauen in Segelboote ist leider bis heute gestört. Unnötig zu betonen, dass es mir sehr entgegenkam, als bei meiner Segelscheinprüfung auf der Alster der Wind mit gerade mal zwei Windstärken über das Wasser hauchte. Wir brauchten gefühlt eine Stunde, um von unserem Liegeplatz auf der westlichen Alsterseite zum Prüfort auf die gegenüberliegende östliche Seite zu gelangen, eine Entfernung von etwas mehr als einem Kilometer. Die Manöver wurden im Zeitlupentempo gefahren, ich bestand die Prüfung und war erleichtert.

Zu großen motorisierten Schiffen hingegen hatte ich immer viel Vertrauen. Ich konnte nicht oft genug mit der Fähre von Hamburg nach Harwich in England hin und her schippern, und kein Sturm war mir zu groß – da konnte mich wenig erschüttern. Das erste große Schiff, auf dem ich mitgefahren bin, war die PRINZ HAMLET, da war ich neun Jahre alt.

In den Achtzigerjahren ging es mit unserer Familie zweimal in den Urlaub nach England, beide Male erfolgte die Anreise mit der Fähre von Hamburg aus über die Nordsee. Für meine Brüder und mich war es ein großes Abenteuer, das ganze Schiff zu erkunden, die Treppen hinauf- und hinunterzustürmen und durch die langen Gänge zu rennen. Unsere Familienkabine befand sich jeweils unter dem Autodeck, ganz unten im Rumpf des Schiffes. Sie hatte kein Fenster, man hörte gedämpft das Dröhnen der Maschinen und hatte den ganz typischen Duft der Schiffsmotoren in der Nase. Dafür lag man da unten recht ruhig, das Schiff bewegte sich kaum merklich, auch wenn draußen hoher Seegang herrschte. Immer fiel im Hintergrund irgendwo eine schwere Metalltür zu, ich mochte diese besondere Atmosphäre und fühlte mich im Schiffsbauch geborgen. Auch bei späteren Überfahrten wählte ich häufig eine dieser unten gelegenen Kojen.

Als die Frage nach meinen Ideen für die Zukunft und meinem Berufswunsch immer häufiger aufkam, war mir schnell klar, dass ich alles Mögliche, nur nicht Lehrerin werden wollte. Mütterlicherseits waren bei uns in der Familie alle Lehrer, meine Großeltern ebenso wie meine beiden Onkel und beide Tanten. Und meine Eltern. Mir allerdings bereitete der Gedanke, den ganzen Tag mit aufgedrehten Kindern und Jugendlichen zu verbringen, Unbehagen. Ich mochte die Dinge etwas geordneter. In der Grundschulzeit hatte ich noch mit großem Enthusiasmus meine armen Freundinnen und Freunde regelmäßig beim Spielen zum Diktat gebeten, aber mit zunehmendem Alter fühlte ich mich dem Lehrerdasein nicht gewachsen. Ich war zwar mit 13 schon so groß wie jetzt, also 1,88 Meter, aber auch immer die Jüngste in der Klasse, da ich schon mit fünf Jahren eingeschult wurde. Vor allem in der Pubertät war ich sehr schüchtern und zurückhaltend.

Das änderte sich, als in mir die Idee reifte, nach der zehnten Klasse für ein Schuljahr nach Amerika zu gehen. Ich hatte in einer Jugendzeitschrift darüber gelesen und war sofort Feuer und Flamme. Meine Eltern unterstützten diesen Wunsch von Beginn an, forderten aber auch, dass ich mich, soweit möglich, selbst um die organisatorischen Dinge kümmern sollte. Diese Verantwortung für mein eigenes Leben und vor allem die Erfahrung, es ein Jahr lang auf mich allein gestellt in einem anderen Land zu schaffen, prägten mich sehr und gaben meinem Selbstbewusstsein und -vertrauen einen großen Schub. Ich lebte in einer Gastfamilie und ging auf eine Highschool, aber niemand sprach Deutsch, und ich hatte nur vier Jahre Schulenglisch im Gepäck, da Latein meine erste Fremdsprache war. Das Jahr in den USA verschaffte mir ein breites Englischfundament, das mir bis heute hilft, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen und englische Tourmoderationen anzubieten.

Mein erstes einwöchiges Schulpraktikum absolvierte ich nach meiner Rückkehr aus Amerika in einem Husumer Reisebüro. Als 16-jährige Praktikantin durfte ich allerdings wider Erwarten keine Flüge buchen oder Urlaubsreisen testen, sondern sortierte eine Woche lang dicke Kataloge in Regale – also verwarf ich diesen Berufswunsch nach der Woche schnell wieder.

Ich nahm in der Schule an einer Berufsfindungs-AG teil und hielt die Augen in meinem Umfeld offen. Was für Berufe gab es eigentlich? Mein Großvater hatte sich neben seiner Lehrertätigkeit immer in der Gemeinde engagiert. Über viele Jahre veranstaltete er Tagesreisen für die örtliche Seniorengruppe, er plante, organisierte und moderierte in seiner Freizeit ganztägige Bustouren. Die Idee, selbst Gäste zu begrüßen und durch ein Mikrofon wichtige Informationen zu verbreiten, gefiel mir. Vielleicht war das Reiseleiterdasein meins? Mit meiner Oma schaute ich wann immer es ging gern das Traumschiff. Insgeheim träumte ich davon, mich wie Chefhostess Heide Keller in einer schicken weißen Uniform um die Gäste zu kümmern und für jedes Problem eine Lösung parat zu haben.

Viel später entdeckte ich während meiner Studienzeit in Kiel einen Aushang am Schwarzen Brett. Ein Veranstalter von Schülersprachreisen suchte neue Betreuer für seine Englandreisen. Im Alltag als Lehrerin konnte ich mir eine Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen nach wie vor nicht vorstellen, in der Freizeit wäre es aber bestimmt kurzweilig. Ich schrieb meine Bewerbung und erhielt schon zwei Tage später die Einladung zum Vorstellungsgespräch und kurz darauf die Zusage. In den folgenden Jahren jobbte ich mehrfach als Gruppenleiterin in England und lebte während der Zeit immer wieder bei derselben englischen Gastfamilie. Mein größtes Vergnügen war es, die Schüler schon ab Hamburg mit der Fähre zu begleiten. In den frühen Neunzigerjahren habe ich die Nordsee auf diesem Weg ein Dutzend Mal überquert. In diesem Job sammelte ich auch die ersten Erfahrungen mit Tourmoderationen, den Tücken von Busmikrofonen und damit, Gruppen bei Laune und im Zaum zu halten. Ohne mich dort genauer auszukennen, moderierte ich plötzlich Stadtrundfahrten durch die englische Hauptstadt. Ich war zwar als Neunjährige mit der Familie in London gewesen, fand damals aber zum Leidwesen meiner Eltern meine Micky-Maus-Hefte spannender als den Buckingham Palace. Als ich nun selbst moderieren sollte, kannte sich zum Glück der Busfahrer aus und gab mir an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten rechtzeitig Hinweise. Ich hatte glücklicherweise ein im Bus herumtollendes Publikum aus 11- bis 17-jährigen Schülern, die sehr gnädig mit mir als Anfängerin waren. Doch auch wenn mir dieser Job sehr viel Spaß machte, fand ich in den Folgejahren noch nicht den Dreh, mich beruflich in diese Richtung zu bewegen.

Meine große Freiheit

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