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Die Medizin

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Bei der Entwicklung und Ausarbeitung der sexualethischen Normen stand die Medizin stets in engem Austausch mit der Philosophie und der Religion.84 Oftmals reflektierte sie nur die akzeptierten Anschauungen und Sitten einer Zeit, aber manchmal war sie auch eine Kraft des Wandels. Vom hippokratischen Korpus aus dem alten Griechenland bis zu den Schriften von Galen im 2. Jahrhundert n. Chr. spiegeln die medizinischen Empfehlungen zur sexuellen Disziplin die Ambivalenz griechischer und römischer Philosophen und verstärken sie.85 Bis in die Renaissance behalten Galens Theorien erhebliche Wirkungsmacht. Die Interpretation der Syphilis als Krankheit und nicht als göttliche Strafe erscheint erst im 15. Jahrhundert in medizinischen Schriften, die auf ein starkes Auftreten der Krankheit innerhalb der sozialen Elite reagieren. Im 19. Jahrhundert erweisen sich medizinische Autoren als enorm einflussreich, ob es nun um Fragen der Masturbation geht (die nach ärztlicher Meinung zum Wahnsinn führt), der Homosexualität (die jetzt zu den Perversionen gezählt wird und medizinisch diagnostiziert und behandelt werden muss), der Empfängnisverhütung (die für ungesund erachtet wird, weil sie den sexuellen Exzess fördert und so zum Verlust der körperlichen Kraft führt) oder der Geschlechterrollen (die auf der Grundlage von medizinischen Bewertungen der körperlichen und psychologischen Gesundheit bestätigt werden). Im 20. Jahrhundert ändern sich natürlich die meisten der oben genannten ärztlichen Ansichten (am wenigsten vielleicht die Interpretation der Geschlechterrollen).

Als zur Jahrhundertwende die Theorie der Psychoanalyse aufkommt, bringt sie neue Wahrnehmungen der Bedeutung und Rolle von Sexualität mit sich. Gerade auch im medizinischen Bereich. Wie auch immer man über Sigmund Freud urteilen mag, seine Einsichten brechen mit einer Kraft über die Welt herein, die beinahe die Grundlagen der traditionellen Sexualmoral mit sich reißt. Freuds Theorie unterfüttert Augustinus’ und Luthers Behauptung der Unbezähmbarkeit des sexuellen Begehrens, die Macht des sexuellen Bedürfnisses ist jetzt jedoch nicht mehr das Ergebnis der Sünde, sondern ein natürlicher Trieb und zentral konstitutiv für die menschliche Persönlichkeit.86 Vergangene Bemühungen, die Sexualität rationalen Zwecken unterzuordnen, können jetzt als Repression interpretiert werden. Eine fehlgeleitete Sexualität ist vor Freud ein moralisches Übel, nach Freud eine psychische Krankheit.87 Die therapeutische Praxis macht sich daran, Tabus zu brechen, und wird weithin – wie ehemals Reue und Vergebung – als Befreiung erlebt.

Doch die psychoanalytische Theorie wirft genauso viele Fragen auf, wie sie beantwortet. Freud wendet sich zwar gegen sexuelle Tabus, die Heuchelei und Krankheit erzeugen, hält aber dennoch an der Notwendigkeit der sexuellen Beschränkung fest. Seine Sublimationstheorie fordert Disziplin und ein Kanalisieren des sexuellen Instinkts zum Wohle der Gesellschaft. Sexuelle Normen werden also keineswegs abgeschafft, und Freuds eigene Empfehlungen sind in vieler Hinsicht recht traditionell. Was nichts daran ändert, dass seine Forschungen die weltlichen und religiösen Traditionen vor eine enorme Herausforderung gestellt haben.

Mit der Medikalisierung der menschlichen Sexualität wurde der Sex von einem ethischen oder gar ästhetischen Problem zu einer Frage der Gesundheit. Ironischerweise boten jedoch Experten aller Art – Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer – moralischen Beistand an. Davon zeugen etwa die langwierigen Bemühungen, sexuelle Devianz oder Perversion zu definieren und zu identifizieren, die sexuelle Aktivität als notwendigen Teil der menschlichen Selbstentfaltung zu propagieren oder die Verknüpfung von Medizin und Recht bei der Bestrafung oder Resozialisierung von Sexualstraftätern. Insbesondere Frauen schienen anfällig zu sein für moralische Beschränkungen und Urteile, die auf den vorherrschenden medizinischen Einschätzungen ihrer sexuellen Fähigkeiten, ihrer »femininen« Merkmale und ihrer Bereitschaft beruhen, die Mutterrolle zu akzeptieren.88 Gleichgeschlechtlich orientierte Männer und Frauen wurden zudem von der Ärzteschaft genauso stigmatisiert wie von religiösen Traditionen. Mit dem Vorwurf der Unmoral oder der Diagnose eines krankhaften Verhaltens wurden sie marginalisiert, manchmal sogar inhaftiert und Prozeduren der Verhaltens- und Charakteränderung unterworfen. Was auch immer dazu geführt hat, dass Homosexualität aus der offiziellen Liste der Krankheiten der American Psychiatric Association von 1973 gestrichen wurde, die sozialen Konsequenzen dieser Entscheidung waren enorm.89

Verdammter Sex

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