Читать книгу Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy - Страница 11

Bernice 1 Bernice und die Piraten

Оглавление

Bernice war in der Überzeugung aufgewachsen, ihr Name sei »Bernice-Professor-Coates’-Tochter«, etwa wie Kristin Lavransdatter, fiel ihr auf, als sie den Roman von der Undset las. Zu der Zeit war ihr Name schon seit Jahren zu »Arme-Bernice-Professor-Coates’-Tochter« erweitert worden, der arme, mutterlose Jeff und die arme, mutterlose Bernice.

Mutter war eine mollige, warme, schusselige Frau gewesen, der ständig Schals und Handschuhe herunterfielen und die stets eine voluminöse, aus den Nähten platzende lederne Handtasche, so rund und zylindrisch wie ein Flusspferd, mitschleppte und dazu eine mit Büchern und Strickzeug, Taschentüchern und Arzneien vollgepfropfte Reisetasche, nicht nur auf ihren allsommerlichen Europareisen, sondern auch bei Tagesausflügen nach Boston oder zu Abendbesuchen bei Freunden. Wer den Professor, hager, vorzeitig ergrauend, mit einem Spazierstock, den er hauptsächlich beim Treppensteigen benutzte, neben seiner fülligen, oft nachlässig gekleideten Frau Viola sah, der hielt ihn für den Kopf und sie für den Körper.

Und doch erinnerte sich Bernice, wie sich Viola bei den Donnerstagsessen mit zwei ihrer Freundinnen durch die Ilias und Pindar rezitiert und diskutiert hatte. Violas Latein und Griechisch waren dem des Professors weit überlegen, und Viola war auch keine taube Nuss auf seinem Spezialgebiet, den modernen europäischen Sprachen. Wenn der Professor seine Schützlinge – Studenten oder Klubfrauen oder Rentner oder Schullehrer – jeden Sommer in den Ferien auf eine Bildungsreise durch Europa führte, um die vornehme Armut seines Salärs aufzubessern, kamen aus Violas Tasche die Guides Bleues und die Baedeker, ergänzt durch Geschichte und Kunstgeschichte.

Viola war eine stattliche Frau gewesen, mit weitem Schoß und herzlicher, belustigter Stimme, eine Frau, der niemand zugetraut hätte, innerhalb eines Monats zu sterben, an doppelseitiger Lungenentzündung in einem scheußlichen, unvergesslichen Februar. Bernice war damals elf gewesen, Jeff zwölf und schmächtig für sein Alter, scheu, in Bücher vergraben. Bernice hatte begonnen, den Haushalt zu führen, in tiefer Verwirrung und mit ständigem innerem Gebet, ihre Einsamkeit und ihre Last mögen nicht von Dauer sein. Mutter würde wiederkommen, ebenso unversehens, wie sie entschwunden war, zuerst ins Krankenzimmer, dann ins Krankenhaus, dann in den plötzlich geschrumpften Leib. Ihr Vater hatte immer nur hinter meist verschlossenen Türen gelebt, doch ihre Mutter hatte sie, bei allem Respekt, den sie für ihre Konzentration verlangte, immer auf den Schoß genommen, während sie las oder plauderte.

Das ganze nächste Jahr über wachte Bernice jeden Morgen mit der Hoffnung auf, ihre Mutter würde in der Küche sein und Schinkenspeck braten, Rosinenzimttoast bereiten. Immer wieder wartete sie auf diesen Geruch nach Zimt und Kaffee.

Doch sie kam herunter in eine kalte und leere Küche mit dem Geschirr vom Vorabend, schon von ihr abgewaschen oder auch nicht, um Frühstück zu machen, ein Mädchen, bald groß genug, um an die hohen Borde heranzukommen. Für Jeff und sich machte sie Haferschleim mit einem Drittel Erdbeermarmelade, ihre Erfindung. Sie erfand viele Gerichte in ihrer frühen Kochphase, die meisten davon sonderbar. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte ihr der Professor ein Fannie Farmer-Kochbuch. Sie hasste es auf Anhieb, seinen ruhigen, gebieterischen Ton, sein Gewicht, seine Schnürschuhmanier, aber sie meisterte es trotzdem. Schlichte, vernünftige Küche. Warum nicht? War das nicht, wie die Leute sie sahen? Ein schlichtes, vernünftiges Mädchen.

Jetzt, dreizehn Jahre später, machte sie immer noch jeden Morgen dem Professor das Frühstück. Montags bis freitags mochte er seine Eier pochiert oder als Ochsenaugen auf Zimttoast, mit knusprigem, aber nicht angekohltem Schinkenspeck. Er trank Café au lait mit einem Teelöffel Zucker. Er mochte seine Morgenzeitung, den Globe, zusammengefaltet neben seinem Teller. An Wochenenden bevorzugte er Pfannkuchen mit Ahornsirup, und das Frühstück wurde um neun Uhr serviert.

Der Professor verließ zeitig das Haus, um zum fünf Querstraßen entfernten Campus zu gehen, aber letzte Nacht hatte es geschneit, und er nahm sich zusätzliche Zeit zur Bewältigung der noch nicht freigeschaufelten Bürgersteige. Die Leute dachten oft, sein leichtes Humpeln rührte von einer Kriegsverletzung her, denn er hatte in dem Krieg gedient, der allen Kriegen ein Ende machen sollte. Bernice wusste, dass ihr Vater den Krieg in Washington mit dem Übersetzen deutscher Kommuniqués zugebracht hatte. Sein Fuß war verletzt worden, als ihm eine Kuh drauftrat, auf der Farm ihres Großvaters in Putney, Vermont, als Bernice noch klein war.

Den Eberkopfspazierstock hatte er in Köln erstanden, als Ersatz für einen älteren Hickorystock, der – auch wenn das allen hier unglaubhaft vorgekommen wäre – in einer Straßenschlägerei entzweigegangen war, als der Professor einen jüdischen Heine-Forscher besuchte, mit dem er eine Korrespondenz unterhielt. Beim Verlassen eines Theaters waren die Braunhemden über seinen Freund hergefallen, der kurz zuvor bereits von der Universität gejagt worden war. Bernice sah dieses Abenteuer als die vielleicht beste Stunde des Professors; den jedenfalls hatte sein körperlicher Mut halb überrascht und halb beschämt, denn Schlägereien fand er unkultiviert. Bernice hielt den Eberkopfgriff auf Hochglanz. Deutschland hatten sie danach von ihrer Reiseroute gestrichen.

Bernice stand am Spülbecken und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Sherlock Holmes streckte den mageren, sehnigen Arm und injizierte sich die Kokainlösung, die sie sich immer als blaue Flüssigkeit vorstellte, wie Kobalt. Ihre eigene Droge war, sich im Kopf Abenteuerfilme vorzuspielen. Am Sonntagnachmittag war sie mit ihrer Nachbarin Mrs. Augustine im Kino gewesen, um sich Errol Flynn als Pirat anzuschauen. Danach hatte sie diesen Film mit Variationen durchgespielt, während sie das Haus putzte, während sie die Socken des Professors stopfte, während sie die Manuskripte anderer Professoren tippte, aber ihre Vorstellung von sich selbst als herausgeputzter Beutemaid irgendeines Piraten hatte sich innerhalb eines Tages abgenutzt, war eigentlich vom ersten Moment an unglaubwürdig. Seitdem hatte sie sich zu den Piraten geschlagen. Doch, es hatte auch Piratinnen gegeben, Anne Bonney zum Beispiel.

Mit dem Säbel um sich zu hauen und sich durch die Takelage zu schwingen war ihr Schönstes, auch wenn sie an Flynns sinnliches Gesicht und seinen drahtigen Körper mit Wohlgefallen zurückdachte. Bernice handhabte das Rapier mit einiger Fertigkeit, denn sie hatte mit ihrem Bruder in St. Thomas gefochten, unter dessen Eleven immer einige, wenn auch nicht besonders gern gesehene Mädchen waren. Nun rief sie einen Tagtraum auf, von dem sie drei Jahre lang gezehrt hatte. Darin flog sie zum Pazifik und rettete Amelia Earhart von einer unkartierten Insel, auf der sie abgestürzt war. Manchmal führte Bernice die Expedition an, und manchmal flog sie als blinder Passagier mit und übernahm dann an einem kritischen Punkt, erwies sich als beste Fliegerin der ganzen Gruppe: So sehr aus der Luft gegriffen war das gar nicht. Die Burschen auf dem Flugfeld achteten ihr Talent.

Als Nächstes stapfte sie zum Campus mit einer Liste von Büchern, die der Professor haben wollte. St. Thomas war kein katholisches College, denn das hätte es in den Ruch gebracht, von Schülern niederer sozialer Herkunft bevorzugt zu werden. Wenn überhaupt, dann war es episkopal (Teilnahme an den Gottesdiensten war, zumindest auf dem Papier, Vorschrift); im Grunde jedoch war St. Thomas ein College, auf das reiche Eltern die Söhne schickten, die es geschafft hatten, woanders rauszufliegen, Jungen, die sich an Wochentagen betranken, Jungen, die am falschen Ort in der falschen Gesellschaft oder mit dem falschen Geschlecht erwischt worden waren, Jungen, die, um die Prüfungsfragen vorher zu erfahren, den Pedell bestochen hatten und dabei aufgeflogen waren.

Ihr Vater hatte einst den Ehrgeiz gehabt, St. Thomas für etwas Vielversprechenderes zu verlassen, aber die Kombination aus der Großen Depression und Violas Tod hatte ihn dort ein für alle Mal auf Grund gesetzt. Sie saß mit ihm auf Grund. »Wie geht es ihm?«, fragten die Nachbarn sie. Wie es ihr ging, sah man ja. Gesund, immer gesund.

Der Briefträger kam mit der Morgenpost die Straße herauf. Sie wartete auf ihn und entfernte sorgfältig den Schnee von den Rhododendren. »Wie geht es Ihnen heute, Msch Coates?« Aus Taktgefühl vernuschelte er ihre Anrede, denn der Briefträger empfand ihren ledigen Stand als eine Schande, die er nicht betonen mochte.

Sie wurde für ihre Nettigkeit zu den Rhododendren mit einem Brief von ihrem einzigen Bruder Jeff belohnt, inmitten einer Handvoll Briefe aus Europa von Bekannten, die Einwanderungsbürgen oder Hilfe suchten. Vielleicht hatte Jeff auch dem Vater geschrieben, aber er wusste, dass sie täglich die Post in Empfang nahm, und schrieb ihr getrennt.

La Colina Roja
Taos, New Mexico 30. November 1941

Liebster Brachvogel,

es ist kalt hier oben. Letzte Woche hatten wir ein paar Stäubchen Schnee, aber am meisten vermisse ich Neuengland im Herbst und dann wieder schmerzlich, wenn die Feiertage nahen. Es tut mir leid, dass ich zu Thanksgiving nicht heimkommen konnte, aber offen gestanden kann ich nicht zweimal fahren – keine $$ wie üblich, deshalb dachte ich, ich komme zu Weihnachten. (Ich bin halb versucht, nicht hierher zurückzukehren, aber wir werden sehen.)

Sie las nicht weiter und faltete den Brief sorgfältig in ihre kleine, praktische Umhängetasche (was musste sie, gattenlos, kinderlos, beruflos, schon dabeihaben außer ihrer Brieftasche, der Geldbörse, den Schlüsseln und einem kleinen, praktischen Kamm zur Erste-Hilfe-Leistung, wenn der Wind ihren kurzen, praktischen Haarschnitt zerzaust hatte?). Die Zeilen hatten sie aufgewühlt. Jeff war wieder einmal auf dem Absprung in eine neue Richtung. Der Professor würde verärgert, sarkastisch reagieren. Sie hingegen war neidisch auf die Freiheit, die Jeff vielleicht nicht gewinnbringend nutzte, aber immer hatte.

Die Freiheit, eines Morgens seine Sachen zu packen und sich davonzumachen, abzuhauen. Er hatte Freiheit in Hülle und Fülle, und sie hungerte nach einem Krümel davon. Sie empfand auch eine Handbreit Zorn, ein Gefühl, dass sie keine Schwierigkeiten gehabt hätte, sich nützlich in der Welt niederzulassen und ihre Energie, ihre Intelligenz, ihre Kraft einer würdigen Aufgabe zu widmen. Ihr fielen fünfzig Unternehmungen ein, zu denen sie nur zu gerne aufgebrochen wäre.

Sie sollte ihre aufgehäuften Schreibarbeiten beenden. Bernice tippte Manuskripte anderer Fakultätsmitglieder ab und gab das damit verdiente Geld prompt auf dem nahen Flugplatz aus. Der Flugplatz war den Winter über eingeschneit, und so sparte sie ihr Geld, um einen Anteil an einer Maschine zu erwerben, einer Piper Cub mit 60 PS, die ihr Freund Steve abbezahlte. Wenn sie bis zum Frühjahr zweihundertfünfzig Dollar sparen konnte, dann gehörte ihr ein Viertel des Flugzeugs und dann konnte sie zehnmal so oft fliegen. Seit die Regierung im Jahr zuvor ein Trainingsprogramm für die Luftwaffe am College eingerichtet hatte, wartete sie oft den ganzen Tag am Flugplatz und bekam trotzdem kein Flugzeug. Sie strebte eine Verkehrspilotenlizenz an, aber bei dem Tempo, in dem sie sich bisher Zeit in der Luft leisten konnte, würde sie dafür noch Jahre brauchen. Jeff hatte einen Pilotenschein wie sie, aber mit der Fliegerei nie weitergemacht.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, schrieb er – als sie in der überheizten Bibliothek beim typischen Schlangenzischen der Heizkörper darauf wartete, dass die Bibliothekarin die Bestellungen des Professors heraussuchte, und den Brief wieder entfaltete –:

Ich frage mich immer, warum ich es hier nicht aushalte. Das Licht ist grell, die Landschaft monumental. Die Tiwa nennen den Berg hinter Taos heilig, und sie haben bestimmt recht. Vielleicht ist es die entwürdigende Schinderei, für Quinlan zu arbeiten, aber das trifft es nicht. Ich kann, so scheint es, nichts Eigenständiges tun. Ich fühle mich, als schaute ich durch die Augen von Malern, die hier schon gemalt haben. Ich kann, so scheint es, der Landschaft nicht frisch begegnen. Bei all ihrer Großartigkeit und Wildheit und Faszination bin ich nicht fasziniert.

Überdies ist die Geschichte mit Dolores heikel geworden. Mein mündliches Spanisch – und mein mexikanisches Spanisch, das ich im Gegensatz zum Professor für ein fabelhaft geschmeidiges und spritziges Idiom halte, dem lispelnden, tuntigen Tonfall des Kastilischen weit überlegen – hat rasche Fortschritte gemacht, leider ebenso Dolores’ Wunsch, in mir den zukünftigen Spender von Ringen, Haciendas und Babys zu sehen.

Mit der Dolores-Situation könnte ich allenfalls noch fertig werden, wenn ich das Gefühl hätte, in meiner eigenen Landschaft angekommen zu sein, aber sosehr mich diese hübsch kolorierten Mesas und Berge, die in starken Farben gestrichene Wüste, die uralten Pueblos auch rühren, letztlich ist dies nicht mein gelobtes Land.

Jedenfalls freue ich mich auf unsere Zeit zusammen. Zweifellos wirst du mir wie immer mein Ich erklären und alles klarstellen. Ich träume von etwas Tropischerem. Ich muss der Sonne folgen, aber zu etwas Üppigerem, Saftigerem. Die Berge sind am Ende doch nicht meine heiligen Orte. Dies ist nicht mein Gusto. Zu viel Ocker vielleicht, zu viel gebranntes Siena. Oder vielleicht einfach ein anderer Gesellschaftskreis. Warum empfinde ich mich in Europa ganz selbstverständlich, ganz ohne Frage als Maler und hier nicht?

In Liebe wie immer

Jeff

Sie selbst mochte Erdfarben, die Welt vom Flugzeug aus gesehen. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als Zach sie mit hinaufgenommen hatte, sie allein, denn Jeff malte und wollte nicht mit. Zuerst hatte er ihr Bentham Center von oben gezeigt, ordentlich, klein, bald verschwunden, und dann hatten sie sich emporgeschwungen, hinauf und über den Jumpers Mountain und dann weiter zum Connecticut River, angeschwollen und schlammig vom Frühlingstauwetter. Als Nächstes hatte Zach versucht, sie zu hänseln, ihr Angst einzujagen, zog die Maschine in große träge Loopings und dann in kurze abrupte Rollen, in Sturzflüge. Schließlich hatte er gemerkt, dass sie überhaupt nicht schrie, nicht angstgelähmt war, sondern begierig, verzückt, und mindestens so viel Spaß daran hatte wie er. Er hatte sich zu ihr herübergelehnt, ihr Haar verwuschelt und es mit der Faust gepackt. »Möchtest du es lernen, Bernie?«

Sie hatte heftig genickt, unfähig, etwas zu sagen, unfähig, ihr Verlangen zuzugeben.

»Sag bitte.«

Da endlich sprach sie. »Bitte, Zach. Bitte! Bring es mir bei.«

Er schien es lange, unter Stirnrunzeln zu bedenken, verlängerte und genoss ihre Qual, gab ihr das Verlangen zu schmecken und die Spannung. »Vielleicht tu ich’s, vielleicht auch nicht.« Aber er hatte es getan.

»Komme schon«, platzte sie zu laut heraus. Mrs. Roscommon hatte ihr zugeflüstert. Bernice eilte zum Tresen, wo ein Stapel der bestellten Bücher zu wackeliger Höhe aufgetürmt war.

Es war ihr peinlich, so weggetaucht zu sein, hinaus in die Welt. Nun war sie wieder im tristen Einerlei. Wenn sie sich an jene Tage mit Zach und Jeff erinnerte, dann glichen sie dem Moment in Der Zauberer von Oz – ein Film, den sie dreimal gesehen hatte –, wenn Dorothy aus Kansas hinaus nach Oz gelangt und Schwarz und Weiß zu herrlichem und strahlendem Technicolor erblühen. Da sie für Musicals wenig Begeisterung aufbrachte, hatte sie kaum Technicolorfilme gesehen; dieser Übergang berührte sie zutiefst. Genauso war es, aus Bentham Center hinaus ins Abenteuer zu gelangen. Sie hatte sich jene Tage so oft in Erinnerung gerufen, dass sie schließlich nicht mehr sicher war, wie die Ereignisse sich wirklich zugetragen hatten, denn durch immer reichlichere Ausschmückung waren sie inzwischen zur Hälfte Phantasieprodukte. Sie kam sich manchmal verrückt vor, wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie damit zubrachte, Ereignisse immer wieder zu durchleben und zu überarbeiten, die Zach und Jeff zum großen Teil vergessen haben mussten, sie so lange zu überarbeiten, bis sie selbst nicht mehr sicher war, was sie erinnerte und was sie dazuerfunden hatte.

Während sie nach Hause trabte, um die Bücher abzuladen, und dann zum Fleischer um Lammkoteletts und zum Gemüsehändler um Broccoli, wenn es welchen gab, und Blumenkohl, wenn nicht, dachte sie, dass es vielleicht sogar noch einen Hauch erträglicher war, neben Errol Flynn mit einem Säbel zwischen den Zähnen von Pirat zu Pirat zu springen, als ständig zu jenem Paradies zurückzukehren, als sie sich ihrem Bruder und Zach kurzzeitig anschließen durfte. Oft träumte sie, dass sie flog. Sie träumte sich zurück an die Instrumente von Zachs Aeronca, legte sie in die Kurve, drückte sie in den Sturzflug, drehte sie in Kunstflugrollen. Letzte Woche war sie in der Nacht weinend aufgewacht. Wie hätte sie jemandem erklären sollen, dass sie weinte, weil sie das Fliegen beherrschte, aber kein Flugzeug hatte? Die Freudianer hätten gesagt, das habe mit sexueller Frustration zu tun, aber von Sexualität wusste sie nichts, und fliegen war für sie wirklicher, als des Professors Koteletts zu braten.

Eigentlich hätte sie Zach dafür hassen müssen, dass er ihr großmogelig das Fliegen beigebracht hatte, doch sie hatte nicht widerstehen können; es war das einzige Kosthäppchen vom Paradies, das ihr je zuteil geworden war. Sie hatte damals für ihn geschwärmt, doch sie war sich auch bewusst, dass sie nicht mehr Chancen bei ihm hatte als ein großer wolliger Hund. Er war gern mit ihr zusammen. Es amüsierte ihn, Jeffs aufgeweckter, unansehnlicher, gutmütiger Schwester das Fliegen beizubringen. Ihre Anhänglichkeit und ihre Anbetung waren ihm wohlgefällig wie dargebotener Weihrauch einem jeden Gott.

Zach war ein Geschöpf aus einer anderen Welt, aus dem gleichen Grund nach St. Thomas verbannt wie viele Jungen. Zach war nicht unheilbar dumm; er bekam schlechte Noten, weil er an allem Akademischen wenig Interesse hatte. Schulstunden bewegten sich nicht rasch genug durch die Luft. Zach hatte sturzbetrunken ein Auto zu Schrott gefahren. Am St. Thomas tat er das wieder, in einem Morgan, den er in der Haarnadelkurve des Jumpers Mountain demolierte.

Jeff hatte ihn aus dem Auto gezogen, bevor es in Flammen aufging. Jeff war von einem Rendezvous im Heuschober mit der mittleren Garfinkle-Schwester heimgeradelt. Nachdem er den blutenden, bewusstlosen Zach aus dem rauchenden Wrack gezogen hatte, war er zu den Garfinkles zurückgefahren und hatte ein Pferd ausgeliehen oder gestohlen, auf das er Zach lud und ihn so ins Bentham Center-Krankenhaus verfrachtete. Dann brachte er das Pferd zurück und radelte, aufgekratzt und mit sich zufrieden, heim, um ihr die Geschichte zu erzählen.

Dieser Unfall hatte Zach aus der Footballmannschaft katapultiert und seinen Alkoholkonsum reduziert. Außerdem hatte er aus den beiden Jungen Freunde gemacht, und Bernice war mitgezockelt, wenn sie sie ließen. Zach liebte sportliche schnelle Autos und sportliche schnelle Yachten, aber während er sich von vier Knochenbrüchen erholte, vertrieb er sich die Zeit, indem er fliegen lernte. Als Zach fliegen lernte, lernten auch seine Freunde fliegen – auf seine Kosten natürlich. Alleinsein war für ihn ein ungenügender Zustand, der sofort berichtigt werden musste. Trommelt die Truppen zusammen. Bringt die Begleiter herein. Ruft die getreuen Gefolgsleute. Er brauchte bei seinen Eskapaden Gesellschaft, und für sie war das Fliegen zur Leidenschaft, zum Mittelpunkt geworden.

Warum bildete sie sich ein, dass eine Verkehrspilotenlizenz sie befreien würde? Sie hätte immer noch die Pflicht, für ihren Vater zu sorgen. Luftrennen zu gewinnen, Flugzeuge zu testen wie Jacqueline Cochran war so weit entfernt wie das Mitsegeln auf einem Piratenschiff.

Sie schälte die Kartoffeln und schaute dabei zum Kalender. Noch drei Tage bis Sonntag, dem siebenten, ihrer nächsten Injektion der Kinodroge. Zwanzig Tage bis Weihnachten. Wann kam Jeff? Heute Abend, nach dem Abwasch, würde sie ihm schreiben, ihn drängen, ein Datum für seine Heimkunft festzumachen. Sie hatte schon Professor Horgan, der Kunstgeschichte lehrte, überredet, als Weihnachtsgeschenk für Jeff in Boston eine Tube Kadmiumrot und Kadmiumgelb zu besorgen, teure Farben, die er liebte und sich oft nicht leisten konnte. Er würde sich freuen.

Mit kleinen Bestechungen, kleinen Versprechungen, mit endlosen Tagträumen brachte sie sich dazu weiterzumachen. Was gab es sonst? Was sonst würde es je geben für Professor Coates’ Tochter, die die Betreuung und Verpflegung ihres Vaters geerbt hatte, die ihm den Haushalt führte und dessen Haushalt ihr Kost und Logis gewährte? Bernice, die im Schlaf flog und nur beim Aufwachen weinte, kurz, denn sie war zu vernünftig, um das, was nicht zu ändern oder zu umgehen war, lange zu beweinen.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

Подняться наверх