Читать книгу Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy - Страница 13

Ruthie 1 Ruthies Sonnabend

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Ruthie Siegal war in der Highschool viel öfter verabredet gewesen als jetzt. Zum einen, weil sie viel mehr freie Abende gehabt hatte. Jetzt besuchte sie an vier Abenden in der Woche Kurse an der Wayne; Freitag war traditionsgemäß ein Familienabend. Obwohl ihre Familie nur an den hohen Feiertagen in die Synagoge ging und obwohl Mame nach Bobes Tod nicht mehr koschere Küche hielt, buk sie doch eine chala und briet ein Hühnchen. Freitag blieb ein besonderer Abend, mit den Kerzen in den Leuchtern, die Bobe aus Polen mitgebracht hatte, und mit einer sauberen Tischdecke über dem Wachstuch. So blieben nur die Sonnabend- und Sonntagabende, und manchmal brauchte Mame ihre Hilfe.

Zum zweiten liefen ihr nicht sonderlich viele junge Männer über den Weg, die darauf erpicht waren, sie auszuführen. Das Verkaufspersonal bei Sam’s war weiblich, und nur Frauen kamen Kleider kaufen, auch wenn mal ein Ehemann widerwillig mitzottelte. In ihren Abendkursen waren viele der jungen Männer keine Juden, und die Juden waren verheiratet oder verlobt.

Das ganze letzte Highschool-Jahr über war sie mit Leib gegangen, aber der hatte sie immer bedrängt, mit ihm zu schlafen. Sie wollte nicht. Sie hatte nicht nur Angst vor den Folgen, sie wollte auch nicht noch mehr Ärger ins Haus bringen und das Vertrauen ihrer Mutter missbrauchen, die ihr weitaus bereitwilliger vertraute als die Mütter ihrer Freundinnen ihren Töchtern. Den Ausschlag gab schließlich die Tatsache, dass es sein Wunsch war, nicht ihrer. Sie begehrte ihn einfach nicht genug, und wenn sie nachgegeben hätte, dann nur, um ihn zu behalten. So hatte sie ihn am Ende nicht behalten.

Heute Abend war sie zum dritten Mal mit Murray verabredet, der ihren Montags- und Mittwochskurs besuchte, weil er auch Sozialarbeiter werden wollte. Nach jenem letzten fußstampfenden Auftritt von Leib, als er zusammengebrochen war, geweint und sie wüst beschimpft und sich dann abrupt beruhigt und aus ihrem Leben entfernt hatte, war Ruthie vielleicht mit fünf jungen Männern ausgegangen, aber mit keinem davon mehr als zweimal, und meistens reichte einmal völlig.

»Aber im Zweifelsfall musst du ihnen doch eine Chance geben«, sagte ihre beste Freundin Trudi. »Du musst doch abwarten, was mit ihnen los ist.« Ruthie hatte keine Zeit an Hohlköpfe und freche Schlemihls zu vergeuden. Da war sie zu Hause bei ihren Lehrbüchern besser aufgehoben, als vier Stunden damit totzuschlagen, einen käsigen Gorilla abzuwehren und Gespräche zu führen, als würden sie tröpfchenweise aus den Tiefen des Rückenmarks abgesondert. Wenn sie sich nicht durch die Abendkurse zwang, würde sie nie Sozialarbeiterin werden; dann blieb sie ewig in der Sackgassenstelle einer Warenhausverkäuferin. Die älteren Frauen, die dort arbeiteten, mochten Ruthie, denn sie hatte stets einen Blick für ihre Erschöpfung und sprang ihnen bei; aber in Ruthies Augen waren das Versagerinnen. Wenn sie hilfsbereit war, dann teils aus Gewohnheit, denn so war sie erzogen, teils aus widerwilligem Einfühlungsvermögen und teils aus dem Aberglauben, sie könnte sich von jener ungewollten Zukunft mit kleinen Bestechungsversuchen loskaufen. Es war keine echte mizwe.

Sie hatte Beklemmungen wegen heute Abend, weil ein drittes Mal fast eine Festlegung war und weil sie unsicher war, ob sie ausgehen durfte. Mame hatte ihre üblichen Runden durch die Altkleiderläden gemacht, und viele Sachen mussten ausgebessert werden. Obwohl Ruthie bei Sam’s Rabatt bekam, konnten sie sich nicht viele neue Kleidungsstücke leisten. Am Nachmittag hatte sie eigentlich Naomi zeigen wollen, wie man einen Schneemann baut, aber Nieselregen hatte den Schnee weggeschmolzen. Dafür hatten sie sich Illustrierte angeschaut. Ruthie fand, sie nahm sich immer zu wenig Zeit, um Naomis Englisch zu verbessern.

Sie hätte gern gesehen, wenn Duvey das übernommen hätte, aber der war wenig zu Hause, sobald er sich mal aus dem Bett bequemt hatte. Er trieb sich wieder mit seiner alten Gang herum. Sie war sich nicht ganz sicher, was die wieder ausfraßen – sie wusste, dass Duvey Pariser in der Brieftasche hatte und zu schwarzen Prostituierten im Paradise-Valley-Bezirk ging. Nach den Wochenenden war der Rasen im Park mit Kondomen übersät wie geplatzte Luftballons, die Leib ihr als Argumente zu seinen Gunsten gezeigt hatte.

Duvey hatte auch ein Messer, das weit mehr eine Waffe war als ein Anglermesser, außerdem, wann ging er schon angeln? Eine von Ruthies Sonntagsarbeiten war es, alle Schlafzimmer zu putzen. Mame hatte immer schreckliche Angst, Duvey könnte in den Großen Seen ertrinken. Ruthie machte sich mehr Sorgen über die Untiefen von Detroit. Sie sah das Straßenleben und die Kleinkriminalität im Viertel als eine Reihe von klebrigen Fallen, ihnen allen gestellt, um sie in der Armut festzuhalten.

Duvey spielte Karten um Geld (oder besser gegen Geld, dachte Ruthie manchmal, da er so unweigerlich verlor). Trotzdem gab Duvey Mame immer ein Bündel Geldscheine, wenn er von den Erzfrachtern heimkam, bevor er seine Heuer unter die Leute brachte. Mame trug das Geld auf die Bank und hob davon ab, wenn die unausweichlichen kleinen Kümmernisse herniedergingen wie Sommerhagel, viele kleine Steinchen, aber jedes tat weh, wenn es traf.

Ihr mittlerer Bruder Arty hatte geheiratet, als er knapp so alt war wie Ruthie jetzt, neunzehn. Er fand nur Gelegenheitsarbeiten als Laufbursche, und so wohnte er mit Sharon bei der Familie. Nachdem Mrs. Rabinowitz von oben ins Städtische Siechenheim gekommen war, hatte Mame beim Hauswirt erreicht, dass Arty und Sharon nach oben ziehen konnten. Die Wohnung stank nach dem Dreck von Jahrzehnten, und Sharon, Mame und Ruthie hatten eine ganze Woche gebraucht, um sie sauber zu kriegen. Sharon war im siebten Monat mit Marilyn schwanger gewesen. Danach hatte Sharon noch Clark bekommen.

Wenn Duvey sich mit Mädchen sehen ließ, dann nur mit aufgedonnerten, wasserstoffblonden Schicksen. Wenn er zu Hause war, trieb er sich gewöhnlich mit der Gang herum, ging in Bars, hörte Jazz, spielte die ganze Nacht Poker und Siebzehnundvier und verlor Geld dabei. Er hatte Ruthie das Kartenspielen beigebracht, aber sobald sie es konnte, schlug sie ihn stets. Sie hatte Naomi die Kinderspiele gezeigt, Mau-Mau, damit sie mit den anderen Kindern spielen konnte. Kinder konnten so gemein sein zu jemandem, der ein bisschen anders war. Sie litt manchmal für Naomi. Sie hätte ihr die Kanten ihres Detroiter Viertels am liebsten ausgepolstert. Naomi war ein aufgewecktes kleines Ding, aber naiv. Französische Juden brauchten wohl länger in ihrer Entwicklung. Sie war viel nachdenklicher als ein amerikanisches Kind in ihrem Alter, aber viel unbedarfter, viel weniger in der Lage, sich zu behaupten. Wahrscheinlich war ihre Familie orthodoxer gewesen.

Im Haus ihrer Freundin Sophie stand am Sabbat alles still. Sie saßen im Dunkeln, und die Mädchen durften nicht mal lesen oder nähen oder Radio hören. Selbst als die Siegals wegen Bobe noch koschere Küche hielten, hatte es nie diese Tyrannei der Untätigkeit gegeben. In Ruthies Vorstellung musste das den Sabbat von etwas Besonderem zu etwas Gefürchtetem machen.

Bobe wollte in der Küche alles recht haben; sie meinte es ernst, wenn sie eine Speise trejf nannte. Für sie waren unkoschere Speisen unrein, physisch unsauber und verdorben wie ein Teller voll Dreck oder verwesendem Fisch. Ansonsten, fand Ruthie immer, waren Bobe und Mame es recht locker angegangen. Tate kümmerte das wenig. Er war Sozialist und Freidenker, und in seinen Augen waren die Reste von jüdischem Kultus im Familienleben etwas für die Frauen und die Kinder, anheimelnd, aber nicht das, worauf es ankam.

Bobe und Mame hielten jüdischen Kultus und jüdische Sitten beide für wichtig, aber anpassungsbedürftig, ein neues Leben in einem neuen Land; in der Befolgung gingen sie recht pragmatisch vor. Ruthie vermutete, dass sie selbst es auch einmal so halten würde. Sie hatte Bobe innig lieb gehabt und das Zimmer mit ihr geteilt, bis Bobe an Magenkrebs starb.

Bobe war seit Ruthies achtem Lebensjahr ihre ganz besondere Aufgabe gewesen. Wenn Bobe krank war, pflegte Ruthie sie, auch wenn das bedeutete, nicht zur Schule zu gehen. Das konnte sie doch jederzeit aufholen, und sie schaffte es auch stets. Als Arty davon redete, einen Sohn haben zu wollen, hatte Bobe zu ihr gesagt: »Wenn ein Junge geboren wird, dann machen die Männer viel davon her. Sie haben den briß, und sie beten, und es wird gefeiert. Aber wenn ein Mädchen geboren wird, dann ist die Mutter in ihrem Herzen doppelt froh. Denn sie wird in ihrer Tochter neu geboren, und vielleicht geht es diesmal besser.«

Bobe erblindete allmählich an grauem Star. Ein Arzt im Krankenhaus sagte, das konnte operiert werden, aber wer hatte das Geld für Operationen? In Polen hatte sie feine Stickereien an Blusen und Tüchern gefertigt. Bobe nähte unaufhörlich für die Familie, auch wenn sie es hauptsächlich nach Gefühl machte und sich manchmal in den Farben vertat – dann wagte niemand, es ihr zu sagen, um sie nicht zu beschämen. Sie war empfindlich, was die Schärfe ihrer Augen anbetraf, gab immer vor, mehr zu sehen, als sie tatsächlich sah. Den ganzen Tag lang hörte sie sich mit Mame die Seifenopern im Radio an. »Ma Perkins«, »Unser Mädel Sonntag«, »Die Romanze der Helen Trent«: Konnte ein Mädchen aus einer Bergbaustadt im Westen als Ehefrau eines der reichsten englischen Lords ihr Glück finden? Gab es noch romantische Liebe nach fünfunddreißig? Würde Stella Dallas sich je von ihrer missratenen Tochter Lolly-Baby lossagen? Seit Bobes Tod hatte Mame so was nie mehr gehört. Ruthie wusste nicht genau, warum – weil sie dann Bobe vermisste oder weil sie es eigentlich nie hatte leiden können. Als sie fragte, tat Mame die Frage mit einem Achselzucken ab. »Bin ich Mrs. Rockefeller? Hab ich Zeit, mit dem Ohr am Radio zu sitzen? Wer sorgt dafür, dass wir einigermaßen hinkommen, wenn nicht ich?«

Ruthie stand jetzt am Fenster ihres Zimmers, das auf die um halb fünf schon dunkle Hintergasse ging. Eine spillerige Katze kauerte unter einer Kiste. Ruthie wandte sich ab, um nicht zu sehen, wie sie da draußen im Regen fror. Automatisch streckte sie die Hand nach Boston Blackie aus, früher Bobes Katze und jetzt ihre. Boston Blackie war ein großer, schwarzweißer Kater, der fast vierzehn Pfund wog, das meiste davon Knochen und Muskeln. Sein linkes Ohr war ausgefranst, und sein Schwanz hatte am Ende einen Knick. Tate sagte, da war ein Wirbel gebrochen. Als Bobe ihn ins Haus genommen hatte, war er froh gewesen, die Straßenkämpfe und das Streben nach Geschlechtsverkehr aufgeben und sich zur Ruhe setzen zu können. »Er ist ein Philosoph«, sagte Bobe immer. »Den ganzen Tag denkt er über G-tt und die Welt nach. Einen Mann, so dankbar wie dieser Kater, kannst du lange suchen. Gib ihm Hühnermagen, und er dankt es dir mit Schnurren und Schmiegen. Streichle ihm den Kopf, und er kniet vor dir nieder. Lass ihn in dein Bett, und er benimmt sich wie ein feiner Herr.«

Naomi saß über den Schreibtisch gebeugt und machte ihre Hausaufgaben in Rechtschreibung. Eigentlich war es kein Schreibtisch, sondern das Unterteil einer Frisierkommode. Der Spiegel war entzweigegangen, und einer Schublade fehlte ein Griff, also hatte ein Mensch mit mehr Geld als Verstand sie auf die Straße gestellt, wo Ruthie sie entdeckt hatte. Arty und Mame und sie hatten sie zusammen nach Hause geschleppt, und Ruthie hatte sie blau angestrichen. So hatten jetzt Naomi und sie ihren eigenen Schreibtisch. Sie verwuschelte Naomis braunes Lockenhaar, krauser als ihr eigenes. Naomi schaute auf und sah ihr verzweifelt in die Augen. »Sind deine Hausaufgaben so schwer? Soll ich dir helfen?«, fragte Ruthie.

»Englisch ergibt keinen Sinn. Es gibt keine Regeln.«

Ruthie dachte darüber nach. »Ein paar muss es doch geben.«

Naomi schaute sie immer noch an. »Werden meine Augen je grün wie deine?«

»Aber deine Augen sind doch hübsch, Naomi. Haselnussbraun ist genauso hübsch.«

»Wird mein Haar je schwarz wie deins, oder wird es immer braun sein?«

»Ist dein Haar dunkler geworden, seit du klein warst? Vielleicht wird es dann noch dunkler. Aber es hat eine hübsche Farbe. Man nennt das hier Kastanienbraun. Ich weiß nicht, warum. Ich habe noch nie eine Kastanie gesehen.«

»Was ist eine Kastanie?«

»Schlag es in deinem Lexikon nach.«

Naomi hatte ein großes grünes Englisch-Französisch-Lexikon von ihrem Vater bekommen. Es gehörte zu den wenigen Schätzen, die sie aus Europa mitgebracht hatte. »Marrons! Du weißt nicht, was das ist? Sie werden an Straßenecken verkauft, über kleinen Feuern geröstet. Sie werden gemahlen und in Süßspeisen getan. Und in Sirup. Marrons glacés.« Naomis herzförmiges kleines Gesicht belebte sich, bis es fast sprühte. Sie vibrierte vor Energie. »Es gibt eine Süßspeise, die heißt Mont Blanc, das ist Kastaniencreme, très riche. Esst ihr das nie?«

»Ich glaube, wir haben hier keine Kastanien. Wir haben Hickorynussbäume überall in Michigan und Walnussbäume. Wir sind mal zu einem Häuschen gefahren, das einem russischen Juden gehört, einem Freund von Tate, und wir haben schwarze Walnüsse gepflückt. Das war, bevor du gekommen bist, Naomele. Ich hoffe, wir fahren irgendwann mal wieder hin. Das sind große ölige Kugeln, die du aufreißen musst, um an die innere Nuss zu kommen, und sie hinterlassen auf deinen Händen dunkle Flecken.«

Murray wollte sie zum Essen ausführen und dann ins Kino, aber sie half Mame noch bei den Piroschki, indem sie den Teig vorbereitete. Der Abend war bitterkalt. Duvey war aus. Nur Arty und Tate saßen im Wohnzimmer und hörten die Nachrichten. Sharon und die Kleinen waren bei Mame in der Küche, so wie jetzt auch sie und Naomi, um es warm zu haben. Für die Kohlen mussten sie selber aufkommen, deshalb konnten sie sich nicht leisten, das Haus bullig warm zu halten. Der Wind vom Fluss rüttelte an jedem Fenster und kroch in die Ritzen des alten Holzhauses. Die dampfige Küche roch gut und machte Ruthie den Abschied schwer.

Als sie in ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen, kam Naomi ihr nach und saß bedrückt auf dem unteren Etagenbett, in dem Ruthie schlief (das Vorrecht der Brotverdienerin), und schaute mit traurigen Augen. »Zazkele, was schmollst du?« Ruthie fasste Naomi liebevoll unter das kleine spitze Kinn.

»Wer ist der Mann? Was willst du von ihm?«

»Er ist ein netter junger Mann, ein Student aus dem College. Du wirst ihn mögen.«

»Werd ich nicht.« Naomi schaute finster. »Du trägst mein Lieblingskleid für ihn.«

Das rote Taftkleid. Es war Ruthies einziges hübsches Kleid, obwohl sie einen Dollar auf das grüne Samtkleid angezahlt hatte, das jetzt zurückgelegt war. Sie hoffte, es im Januar abbezahlt zu haben, denn ihr fehlten noch fünf Dollar. So lange durfte es eigentlich nicht zurückgelegt werden, aber die zuständige Verkäuferin mochte Ruthie.

Murray kam zu früh, doch Ruthie war so nervös gewesen, dass sie sich zurechtgemacht hatte und schon wieder mit einer Schürze über dem Kleid in der Küche stand und Mame beim Piroschkibacken half. Rasch riss sie sich die Schürze ab und lief ins Wohnzimmer. Tate gab sich ungezwungen mit Murray, schüttelte ihm die Hand und fragte ihn nach seiner Meinung, ob die Engländer mit den Bombenangriffen zermürbt werden konnten, ob die Deutschen immer noch vorhatten, in England einzumarschieren. Ruthie gefiel an Murray, dass er verlegen dreinschaute und sagte, das wüsste er nicht. Männer plapperten oft nach, was sie in der Zeitung gelesen hatten, und gaben vor, eine Art Geheimwissen zu besitzen.

Gerade, als er ihr ungeschickt in den Mantel half – das Futter war zerrissen, und ohne Bobe waren sie mit dem Ausbessern im Verzug –, kam Duvey herein. Mame hatte Murray von der Küchentür aus begrüßt und verkrumpelte mit den Händen ihre Schürze, als könnte das verbergen, dass sie eine trug. Jetzt kreischte sie auf, als sie Duveys Gesicht sah. »Dovidel!«, schrie Mame. »Was ist dir passiert?«

»Bin auf dem Eis ausgerutscht«, sagte Duvey unwirsch und rieb sich die Nase.

Tate schaute Ruthie an, die seinen Blick erwiderte. »Du solltest dich mit deinem jungen Mann auf den Weg machen, bevor ihr zu spät kommt«, sagte er sanft. Tate glaubte auch nicht an Duveys Sturz, wollte aber Mame nicht erschrecken, indem er Skepsis äußerte. Wenn er von Chevrolet heimkam, war er kaputt bis auf die Knochen und mochte sich nicht mehr Ärger suchen, als ihm ohnehin zuteil wurde.

»Majn lebn, du hast dir was am Auge getan, an der Nase.« Mame untersuchte Duveys Gesicht, der zog ungeduldige Fratzen, ließ sich aber trotzdem bemuttern und ins Badezimmer bringen.

Draußen auf der Straße, als sie zur Woodward-Straßenbahn eilten, sagte Murray: »Ich fand, es sah aus, als ob dein Bruder eine Schlägerei hatte.«

»Danke, dass du vor Mame nichts gesagt hast. Morgen wird er ein blaues Auge haben.«

»Weißt du, worum es da geht?«

Ruthie schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, ob ich’s wissen will. Duvey ist ein bisschen ungeraten.«

Sie gingen in ein chinesisches Restaurant, was für Ruthie neu war. Darüber musste Murray lachen. Schließlich aßen doch alle Juden, die keine koschere Küche einhielten, chinesisch, wenn sie ausgingen. In der Reformsynagoge, wenn du da deine bar mizwa bekamst, wurde dir sogar gesagt, nun seist du ein Mann und solltest mit deiner Familie jeden Sonntag chinesisch essen gehen.

Murray war nur wenig größer als Ruthie, nicht wie Leib, der sie um dreißig Zentimeter überragt hatte. Ihr gefiel, dass er so klein war, wie Tate, wie sie selbst. Sie hatte keine Angst vor ihm wie unterschwellig immer vor Leib. Er schien sanfter.

Er erzählte ihr, wie sein Vater als De Soto-Dodge-Händler 1930 Pleite gemacht und danach versucht hatte, als Vertreter zu arbeiten. Dann hatte er die Ersparnisse abgehoben und eine Hühnerfarm gekauft. »Wie er auf die Idee gekommen ist, Juden aus Detroit könnten plötzlich eine Hühnerfarm betreiben, weiß ich nicht. Zurück aufs Land. Er sagte immer, egal, was passiert, verhungern können wir nicht.«

»Und was ist passiert? Habt ihr alle Hühner aufgegessen?«

»Erst hat ein Hund sich welche geholt, dann ein Fuchs. Die Überlebenden kriegten eine Krankheit. Eines Morgens lagen sie alle, die Beine in die Luft gestreckt, räudig und zerrupft, tot auf dem Hof. Dann haben wir’s mit Puten versucht, von gepumptem Geld.«

»Mit Puten?« Ruthie lachte. »Ich dürfte nicht lachen. Ich weiß nicht, warum ich das komisch finde.«

»Aber es war ja komisch. Wenn es was noch Blöderes gibt als Hühner, dann sind es Puten. Aber wenigstens krähen sie nicht. An den grässlichen Spektakel bei Sonnenaufgang habe ich mich nie gewöhnt.« Murray wedelte mit den Armen und lieferte eine glaubwürdige Imitation. Alle schauten zu ihnen herüber, aber Murray schien das nicht zu bemerken. Er hatte nur Augen für sie. Ruthie wurde rot. »Jetzt hat er einen Pächter auf der Putenfarm. Meine Eltern sind wieder in die Stadt gezogen, in einen Vorort. Er verkauft wieder Autos für einen Händler an der Grand River, aber in letzter Zeit ist die Produktion gedrosselt worden, und ich weiß nicht, was er als Nächstes versuchen wird.«

Seine Augen hinter der Hornbrille hatten ein volles, warmes Braun mit Bernsteineinsprengseln. Sein glatt zurückgekämmtes, hellbraunes feines Haar haftete vor statischer Aufladung an seinem Hemdund Pulloverkragen und stand ihm auf dem Kopf zu Berge. Sie versicherten einander, dass sie beide fest entschlossen waren, den College-Abschluss zu machen. Murray sah sich nach einer Stelle als Kellner um, damit er tagsüber aufs College gehen und schneller fertig werden konnte. Vorläufig arbeitete er in einem Blumenladen.

»Ich muss auf dem College bleiben«, sagte Ruthie. »Das ist meine einzige Hoffnung, das ist das, was ich wirklich will. Dann kann ich Menschen wie meiner eigenen Familie helfen. Ich kann sie besser verstehen als die Leute, die nie in ihrem Leben in Not waren.«

Murray schilderte ihr seine Vorstellungen von dem Leben, das er sich wünschte, wickelte sie langsam aus wie einen sorgfältig verpackten Porzellanteller. Er wollte in der Stadt arbeiten, aber nicht dort wohnen. »Wenn du die Grand River hinausfährst, oder Ann Arbor Trail oder Plymouth Road, dann kommst du aufs Land. Du kannst da draußen ein Farmhaus kaufen und zur Arbeit in die Stadt fahren. Und wenn du dann eine Familie hast, haben die Kinder nicht die Probleme wie in der Stadt, sie sind gesund. Sie haben Wiesen und Bäume und Vögel um sich. Das hat mir gut getan.«

Sie waren so ins Gespräch vertieft, dass sie zu spät ins Kino kamen, aber es lief erst die Wochenschau. Der japanische Gesandte Kurusu und Botschafter Nomura legten, wie sie bekundeten, allerletzte Angebote für einen Frieden zwischen Japan und Washington vor. Dann kam ein Foto von den Dionne-Fünflingen, wie sie alle gleich angezogen im Schnee spielten. Die Marineinfanterie zog sich aus Schanghai zurück, aber der Sprecher sagte, sie kämen bald wieder. Dann fing der erste Spielfilm an, ein Ellery-Queen-Krimi mit Ralph Bellamy, in dem Murray schon nach der Hälfte den Mörder erriet; und dann Joan Crawford in Die wunderbare Rettung.

Nach der Straßenbahnfahrt gingen sie trotz des rauen Windes sehr langsam zu Ruthies Haus. Sie war durchgefroren, fühlte sich kalt und klamm, wollte sich aber trotzdem nicht beeilen. Er hatte ihre Hand genommen, als er ihr aus der Straßenbahn half, und er hielt sie immer noch. Seine Hand war warm und trocken. Sie fand es leicht, mit ihm zu gehen, weil er keine Riesenschritte machte. Ich mag ihn, dachte sie und war ganz erstaunt über sich. Sie sah sich sein Gesicht an, wenn sie unter den Straßenlaternen durchkamen. Seine Nase verlief völlig gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Sein Mund war voll und weich. Sie stellte sich vor, ihn zu küssen, aber dazu würde es wohl nicht kommen, noch nicht. Irgendwann würde sie ihn küssen. Aber diesmal war wohl eine Umarmung das Richtige.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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