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Naomi 3 Der Rachen schließt sich

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Leib ging Naomi nicht aus dem Sinn, und sie hatte deswegen ein nicht ganz reines Gewissen. Da sie ihn viel toller fand als Murray, konnte sie sich nicht vorstellen, warum Ruthie Murray vorzog. In ihrer Phantasie kam Trudi ganz plötzlich um, ohne Schmerzen, und Leib ging mit ihr auf und davon. Naomi war nicht an den Jungen in ihrer Klasse interessiert, die manchmal auf ihr herumhackten und sie hänselten und Lieder sangen, dass französische Mädchen Schlüpfer aus Seidenpapier trugen und anderen unanständigen Quatsch. Sie war jetzt das drittgrößte Mädchen in der Klasse, das größte weiße Mädchen.

Den Schulweg ging sie mit Sandy Rosenthal, aber ihre eigentliche, geheime Freundin war Clotilde. Schwarze und weiße Mädchen durften nicht befreundet sein, deshalb verbargen sie ihr Geheimnis vor Lehrern und Kindern gleichermaßen. Beide achteten darauf, Momente zu erwischen, wo sie miteinander Französisch sprechen konnten, wo sie teilen konnten, wie fremdartig sie das Leben hier fanden, die Schule, die Stadt, das Essen, das Wetter. In ihren Augen war Clotilde schön, mit der Haut wie Holz und Asche zugleich, den großen, strahlenden graubraunen Augen, den gleichmäßigen, leuchtend weißen Zähnen, dem krauslockigen Haar, das wie Rot und Schwarz zusammen war. Clotilde war zu sanftmütig für Detroit, für die gleichgültigen Grobheiten der Schule mit den Rüpeleien, den Herausforderungen, den Prügeleien auf dem Schulhof, der Subkultur aus schweinischen Witzen und Bandenkriegen und Horrorcomics. Ihr Vater war in einem U-Boot im Pazifik, was sich für beide ziemlich furchterregend anhörte. Da musste er eine Art Diener abgeben, aber nachts auf dem Turm Wache stehen, weil, erklärte Clotilde verächtlich, die Marine meinte, Neger könnten im Dunkeln besser sehen als Weiße.

Manchmal hatte Naomi das Gefühl, in Detroit in einen heftigen, seit Generationen andauernden Familienkrach zwischen den Farbigen und den Weißen geraten zu sein, nur dass die streitenden Parteien einander nicht einmal deutlich wahrnahmen und dass die Weißen alle Macht hatten, wie die Nazis in Frankreich. Sie hatten die Polizei, die Verwaltung, die Schulen, die Krankenhäuser, einfach alles. Naomi konnte sich ausrechnen, wer den Kürzeren zog, ohne ihre Beobachtungsgabe anzustrengen.

Als die Sommerferien kamen, freute sie sich mehr darauf als je zuvor, denn die Schule war eine Prüfung, die nie aufhörte. Aber dann merkte sie nur allzu rasch, dass ihre Ferien keine waren, denn die Tagesstätte ging sommers weiter wie winters. Außerdem versorgten jetzt Tante Rose und Sharon auf gleichem Raum mehr Kinder als vorher. Naomi wurde einkaufen geschickt, ein schwieriges Unterfangen durch die roten Marken und die blauen Marken und welche Marken diese Woche gültig waren und welche benutzt werden mussten, bevor sie verfielen.

Sharon sagte, was für ein Glück Naomi hatte, so früh alles über Babys zu lernen, denn sie selbst hatte vorn nicht von hinten unterscheiden können, als sie Marilyn bekam. Nun konnte Naomi bald einem Mann eine gute Frau werden, denn sie wusste bereits, wie sie ihre eigenen Babys nähren, baden, halten und anziehen musste. Sharon sagte, das war viel wichtiger als alles, was Naomi auf der Schule lernte, und hier bekam sie die richtige Erziehung.

Naomi widersprach nicht laut, aber sie fühlte sich nicht beglückt. Sie fühlte sich eingeklemmt. An den Spätnachmittagen entfloh sie, um an einer der Ecken Völkerball oder Brennball zu spielen. Jungen und Mädchen spielten bis Einbruch der Dunkelheit. Eines Abends versuchte Brillen-Rosovsky, sie zu küssen, als sie alle auf den Verandastufen des Hauses saßen, in dem Brille wohnte, und sie trat ihn vors Schienbein. Hinterher tat es ihr leid, dass sie mit dem Tritt nicht bis nach dem Kuss gewartet hatte, um herauszufinden, wie das war, aber sehr leid tat es ihr nicht.

Naomis Haar war so kraus wie eh und je. Sie überredete Ruthie, es ihr für den Sommer kurz zu schneiden. Tante Rose bekam einen Anfall, als sie sah, was Ruthie getan hatte, aber Naomi gefiel ihr neuer Haarschnitt. Tante Rose sagte, sie sähe aus wie ein Pudel. Naomi sagte, Pudel seien französisch und das sei sie auch. Tante Rose sagte, sie werde so frech und vorlaut wie amerikanische Mädchen, und wo sei das liebe kleine Mädchen geblieben, das zu ihnen gekommen war?

Naomis Brüste wuchsen. Die Brustwarzen juckten. Sie fühlte sich reizbar, und ihr war langweilig und heiß. Sandy wollte ein taubenblaues Kostüm und ein Taftkleid, wenn der Krieg vorbei war. Sharon wollte einen elektrischen Kühlschrank. Naomi wollte einundzwanzig, mit der Schule fertig und woanders sein. Wenn sie daran dachte, wie lange es noch dauerte, bis sie groß genug war, um irgendwas auf eigene Faust zu tun, fühlte sie sich im Voraus erschöpft. Es dauerte einfach zu lange, groß zu werden, es lohnte kaum das Warten. Am meisten freute sie sich auf die Tage, wenn der Eismann mit seinem Pferdekarren kam und sie sich ein Stück Eis zum Lutschen erbetteln konnte. Es war so heiß, dass Boston Blackie den ganzen Tag nur unter der blauen Hortensie im Hof schlafen wollte.

Vielleicht wurde sie mal Sekretärin wie Ruthie. Ruthie arbeitete nicht mehr in dem Kaufhaus, sondern sie hatte eine Stellung beim Wohnungsamt von Detroit. Für kürzere Arbeitszeit bekam sie mehr Geld. Rose sagte, Sekretärin sei genauso gut wie Sozialarbeiterin, aber Ruthie war nicht der Meinung und fuhr immer noch vier Abende die Woche zur Wayne.

Ruthie erklärte, dass sie nicht als richtige Sekretärin arbeitete, sondern im Schreibsaal für die Stenotypistinnen. Als Jüdin hatte sie Glück, solch eine Stellung zu finden, in einem Büro, aber es war nicht das, was sie wirklich wollte, und sie hatte nicht vor, auf Dauer dabeizubleiben, vertraute sie Naomi an. Ihrer Mutter erzählte sie das nur ein einziges Mal, denn Rose ging an die Decke, wenn sie so was hörte. Rose bekam es mit der Angst, wenn sie meinte, eins ihrer Kinder wollte etwas, was es nicht haben konnte, aber Ruthie sagte, dass Rose sich mit zu wenig zufrieden gab, weil sie nicht begriff, wie die Welt sich veränderte. »Für Leute wie uns kann alles nur noch schlechter werden oder besser.«

In letzter Zeit dachte Naomi viel über Geld nach. Als kleines Mädchen war es für sie selbstverständlich, dass ihre Eltern arbeiteten. Sie waren nicht reich, sie waren Arbeiter wie alle im Viertel, aber sie aßen gutes Essen, das Maman nach der Arbeit kochte, und alle Mädchen halfen, und sonntags fuhren sie aufs Land oder sie gingen ins Kino oder in den Jardin des Plantes oder das Musée de l’Homme. Jedes Jahr machten sie im August richtige Ferien und verließen für vierzehn Tage Paris.

Als Papa in den Krieg musste, war ihre Familie ärmer geworden. Seitdem hier der Krieg angefangen hatte, ging es ihnen besser. Tante Rose und Sharon verdienten Geld, Ruthie hatte eine bessere Stellung, Arty stand am Fließband im Fisher-Karosseriewerk, und Onkel Morris machte viele Überstunden. Das Auto war endlich abbezahlt. Die Miete war zweimal erhöht worden, aber jetzt mit der Mietpreisbindung blieb sie stabil.

Sie sparten und steckten das Geld in Kriegsanleihen. Ruthie gab Naomi jede Woche einen Vierteldollar, damit sie dafür in der Schule Verteidigungsmarken kaufen konnte, aber Naomi tat es oft nicht. Sie wusste, wie das Papiergeld, das die Regierung ausgab, sich über Nacht in simples Papier verwandelte, und sie brachte es nicht fertig, ihre Vierteldollarmünzen auf diese Marken zu verschwenden, mit denen man nicht mal einen Brief frankieren konnte. Ihrem Gefühl nach begriffen die amerikanischen Verwandten einfach nicht, dass man an Münzgeld festhalten musste. Sie hatte ein Versteck unter einer morschen Diele in dem Zimmer, das sie mit Ruthie teilte. Dort versteckte sie ihre Vierteldollars, zumindest bis feststand, ob die Regierung stürzen würde. Regierungen taten das oft.

Wenn sie Leute sagen hörte, wie schlimm Hamsterer waren, lastete ihr Hamsterschatz aus Ruthies Vierteldollars auf ihrem Gewissen. Aber wenn all das Geld, das Tante Rose und Onkel Morris in Papieranleihen verwandelten, futsch war, dann konnte sie alle retten. Silber und Gold waren echt. Tante Batya hatte Polen mit ein wenig im Mantelsaum eingenähtem Gold verlassen, und davon hatten die Balabans nach Frankreich kommen und von vorn anfangen können.

Wenigstens hatte Ruthie jetzt mehr Zeit für sie, denn Ruthie hatte aufgehört, mit Männern auszugehen. Manchmal ging Naomi mit Trudi ins Kino und manchmal mit ihrer ganzen Familie oder mit Sharon (Arty hatte Spätschicht und konnte nicht mit) und manchmal mit Ruthie allein. Kleine Restaurants und Geschäfte machten zu, aber die Kinos waren rund um die Uhr geöffnet und immer voll. Sie sahen Alan Ladd in Die Narbenhand, Greer Garson in Mrs. Miniver und Bob Hope in Geliebte Spionin. Sie saßen Abenteuer in Panama, Saboteure und Der Dollarregen aus, alle paar Tage zwei oder drei Spielfilme hintereinander.

Jeden Abend hörten sie Radio und lasen Zeitung, sogar Naomi, deren Englisch sich so weit verbessert hatte, dass sie die Zeitungen ebenso gut las wie Onkel Morris. Ihr Lieblingsfach war Geografie, was Teil von Gesellschaftskunde war. Sie liebte es, die Namen aus dem Radio und den Zeitungen auf Karten im Atlas zu finden und die Bewegungen der Armeen in Ägypten, Neuguinea und der Sowjetunion nachzuvollziehen, obwohl es stets darauf hinauslief, dass die Achsenmächte vorrückten. Immer mehr musste auf den Karten schwarz schraffiert werden.

Tante Rose hielt sie dazu an, im Haus und auf dem Hof den Sommer über barfuß zu laufen, denn Schuhe waren rationiert. Ihre Fußsohlen wurden so hart, dass sie vor Brille und Sandy prahlte, sie könne über Glasscherben gehen, ohne sich zu schneiden, also zertrümmerten die eine Limoflasche. Naomi wollte eigentlich nicht, aber sie setzte den Fuß auf die Scherben und humpelte darüber, und sie hatte recht, der Fuß blutete nicht. Sie gewann ein Zehncentstück von Sandy und eins von Brille, aber dann musste sie ihnen für die Hälfte des Geldes Eistüten kaufen.

Alvin drehte einen Hydranten auf, und alle rannten durchs Wasser und spritzten im Rinnstein, bis die Polizei kam. Trudi sagte, sie könnten zu ihrem Haus kommen und unterm Gartenschlauch durchlaufen. Trudis Eltern wohnten im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses, und ihr Vater sprengte gern den Rasen. Naomi bekam von Ruthie einen neuen Badeanzug, leuchtend grün mit rückenfreiem Oberteil und einem süßen Röckchen. Sie versuchte sich einig zu werden, ob sie darin sexy aussah. Sandy redete andauernd davon, was sexy war und was nicht. Ihr anderes Wort war ›traumhaft‹. Sandy redete zu viel von Jungens, aber weil sie so nah wohnte, konnte Naomi sogar mit ihr spielen, wenn sie auf die Tagesstättenbälger aufpassen musste.

Sandy hatte honigblondes Haar, ungewöhnlich unter den Juden ihres Viertels. Im Gesicht wirkte sie knochig, die Nase habichtartig, der Kiefer ein wenig vorspringend, aber Sandy bildete sich etwas auf ihr Haar ein und tat, als wäre sie hübsch, und alle andern machten das mit. Sandy musste auf ihren rotznasigen kleinen Bruder Roy aufpassen, noch ein Band zwischen ihnen.

Sandy redete sich ein, der Hof zwischen den beiden Häusern sei was Besonderes. Ihr Paps hatte eine große Kabeltrommel aus Holz mitgebracht, die sie als Tisch benutzten, mit Holzkisten vom Kaufmann als Stühlen. Manchmal hatten Sandy oder sie Geld für eine Limo, aber meistens nicht. Da bei beiden Familien Zucker stets knapp war, behalfen sie sich mit kaltem Wasser und einer Scheibe Zitrone und spielten, das seien Cocktails, während Sandy ihr die Texte von »Chattanooga Choo Choo«, »Praise the Lord and Pass the Ammunition«, »Blues in the Night« und »Jingle Jangle Jingle« beibrachte. Teenager – so nannte Sandy das – Teenager zu sein schien eine Menge Arbeit. Man erwartete von ihr, dass sie über die Red Wings Bescheid wusste, die Hockey spielten, und über die Tigers, die Baseball spielten, und dass sie die Namen der Spieler kannte, sogar derjenigen Spieler, die schon eingezogen worden waren, und das, obwohl sie noch nie ein Baseball- oder ein Hockeyspiel gesehen hatte.

Am Abend saßen sie, nachdem es zum Spielen zu dunkel geworden war, auf den Verandastufen des Eckhauses, und Alvin ließ eine Zigarette rumgehen. Er mopste immer Chesterfields aus der Handtasche seiner Mutter. Naomi konnte schon daran ziehen, ohne zu husten. Ihr wurde schwindlig, aber das ließ sie sich nicht anmerken. Der Sommer war auch deshalb besser als der Winter, weil nach der Schule die Kinder sie eher in ihren Kreis aufnahmen, den Kreis der jüdischen Kinder ihres Alters aus den umliegenden vier Blocks. Es war, als zählte im Sommer alles nicht so stark, und alles wurde leichter genommen. Außerdem lernte sie auch. Wenn sie ihr eine Fluppe reichten oder schweinische Witze erzählten, dann reagierte sie nicht mehr mit Empörung, dann sagte sie nicht mehr, dass Tante Rose ihr so was verboten hatte. Sie machte einfach mit und hielt den Mund.

»Das wird unser Abschlussjahr«, sagte Sandy im gleichen Ton, in dem sie sonst sagte, Jungs seien traumhaft.

»Na und?«, sagte Naomi.

»Dann machen wir eine Abschlussfahrt nach Bob Lo. Es gibt ein Fest, und wir schreiben uns gegenseitig in unsere Autogrammbücher. Es gibt auch Tanz.«

Brille lachte. »Und die Mädchen müssen sich ihre eigenen Festkleider nähen, ha-ha, mein lieber Mann, wirst du blöd aussehen.«

»Bäh«, sagte Naomi. »Wenn ihr eure Anzüge nähen müsstet, was würdet ihr erst mal doof aussehen! Wisst ihr was, ich ziehe eine Einkaufstüte an. Die male ich rot an.«

»Frenchy, in einer Einkaufstüte siehst du bestimmt schnafte aus«, sagte Alvin.

»Die Laffen hier schmeißen neuerdings mit Sprüchen um sich«, sagte Sandy mit saurer Grimasse. »Die meinen, die sind richtige Casanovas.«

Aber schon fünf Minuten später jagten sie einander mit geschlossenen Augen um die große Ulme und spielten Blindekuh. Es machte Spaß, im Dunkeln herumzustolpern, aber Brille kniff sie hart in den Po. Als sie aufschrie, tat er, als wüsste er nicht, was war. »Ich hatte die Augen zu«, sagte er grinsend. »Woher soll ich wissen, was ich da gemacht habe?« Ihre Pobacke tat immer noch weh, und sie fand es unanständig, dass er sie da berührt hatte.

Am nächsten Tag gingen Alvin und Brille mit fünf anderen Jungen auf dem Weg zum Ballspielen vorbei und sagten nicht mal hallo. Sie taten, als sähen sie Sandy und Naomi nicht. Ich weiß nicht genau, ob es wirklich einen G-tt gibt, dachte Naomi, und obwohl es Sünde ist, das zu denken, und obwohl jetzt, wo ich eine Frau bin, alles zählt, denke ich trotzdem, das Leben könnte besser eingerichtet sein, ganz zu schweigen von Kriegen und Nazis. Wenn ich zu bestimmen hätte, dann müssten Kinder nicht dieses ganze Großwerden durchmachen. Bei mir würden alle Menschen groß geboren werden und das alles überspringen, dieses Warten und diese ganzen Umstände und dass man immer das Falsche tut und sagt.

Sie überlegte, ob es auch so schwer wäre, wenn sie zu Hause bei ihrer Familie wäre. Hier war sie in der Fremde und ohne ihre Zwillingsschwester. Sie würde nicht so schmollen und bocken und nach Sachen treten, wenn sie Rivka immer bei sich hätte, die wusste, was sie wusste, und sah, was sie sah, und sie ergänzte. Sie wäre nicht so unglücklich, wenn sie mit Rivka zusammen wäre, wie es eigentlich sein sollte.

Die Nacht war heiß und stickig. Detroit war wie ein weiter, niedriger, schlecht belüfteter Schrank voller Maschinen. Sie hatte eine Prüsche auf dem Po. Wie konnte er so was Gemeines machen, und warum? Jungs waren rätselhaft und doof, aber Mädchen gaben sich nun mal mit ihnen ab, also musste sie es auch.

Immer, wenn sie Ruthie was über Jungs fragte, redete die von Liebe, Liebe, Liebe. Sie liebte Ruthie, sie liebte Rivka und Maman und Papa. Sie liebte sogar Jacqueline. Aber die Vorstellung, Brille oder Alvin zu lieben, war ein unkomischer Witz, wie sich in einen Lastwagen zu verknallen. Mädchen redeten davon, in Tyrone Power verliebt zu sein oder in Alan Ladd. Sandy konnte sich nicht zwischen Harry James und Frank Sinatra entscheiden. So geschwärmt hatte Jacqueline wenigstens nicht. Vielleicht hatte sie ihre ältere Schwester nicht genug zu schätzen gewusst. Auf die unmittelbar vor ihr liegenden Jahre, wenn sie, wie Sandy immer sagte, in die Highschool kamen und richtig mit Jungs gingen, blickte sie angesichts solcher Aussichten mit argwöhnischem Abscheu.

Schließlich schlief sie ein, in ihrem von der Hitze und vom Schweiß verkrunkelten Bett. Obwohl die Wachen das Gebäude Vélodrome d’Hiver nannten, war es nicht Winter, sondern Sommer und heiß. Sie verbrannte vor Durst. Ihre Kehle war ausgetrocknet, ihre Zunge voller Blasen. Sie wunderte sich, wie die schreienden Babys das aushielten. Heute Morgen war eins gestorben, das kleine Mädchen mit den großen grauen Augen. Die junge Mutter hielt das Baby immer noch, wie eine schmutzige, schlaffe Lumpenpuppe, der Kopf baumelte.

Rivka spürte immer wieder Brechreiz, weil alle so stanken. Sogar die Erwachsenen rochen wie Babys, die sich vollgemacht hatten. Zu tausenden und abertausenden waren sie zusammengepfercht, in der Arena, auf den Tribünen oder auf der Rennbahn unter der blauen Glasdecke wie eine Verhöhnung des Himmels, die die Hitze und den Gestank hinunterdrückte. Die Wachen, Franzosen wie sie, aber plötzlich tückisch, brüllten sie andauernd an. Es war wie in einer Schule, wo grausame Schulmeister sie bestraften, aber die Erwachsenen wurden genauso bestraft wie die Kinder.

Sie hatten Hunger und Durst und lagen in ihrem eigenen Schmutz, so zusammengezwängt, dass alle aneinanderlehnten. Es war so laut und so überfüllt, dass sie es wie einen einzigen, in allen gemeinsam bohrenden Kopfschmerz empfand. Ein kleiner Junge, dessen Mutter vor zwei Nächten gestorben war, schloss sich an sie und Maman an. Er weinte jetzt nicht mehr viel. Er fühlte sich unter ihren Fingerspitzen feuerheiß an. Seine Wimpern hatten seine Augen zugeklebt, und er lag auf ihren Füßen mit dem Kopf in Mamans Schoß. Sein Name war Jules. Seinen Zunamen wusste er nicht. Er wusste auch nicht, wie alt er war, aber Maman hatte, als sie noch sprechen konnte, gesagt, er war wohl zwischen drei und vier. Sie selbst war Naomi-Rivka, beide zugleich, auch ihre Kehle brannte zu sehr vor Durst, um zu sprechen, zu weinen oder Maman zu fragen, wann es aufhören würde. Die Luft selbst war nur noch Schmutz, und sie spürte ihren Körper zerfallen wie verschimmelnden Käse …

Sie erwachte in ihrem dunklen, heißen Zimmer und hörte Ruthie im Bett unter ihr im Schlaf seufzen. Boston Blackie lag auf ihren Füßen und schnarchte leise. Sie fühlte sich von Angst zerschunden. Sie fühlte sich, als blutete sie Angst ins Bettzeug. Es war nur ein Albtraum. Aber das glaubte sie nicht. Das glaubte sie ganz und gar nicht.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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