Читать книгу Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy - Страница 8

Jacqueline 1 Auf der Suche nach dem Inbild der Jugend

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14 mai 1939

Marie Charlotte ist meine absolut beste und liebste Freundin und der einzige Mensch auf der Welt, dem ich meine geheimsten Gedanken und Wünsche anzuvertrauen wage. Suzanne hat bewiesen, was für eine falsche Schlange sie ist, und ich werde nie, nie wieder so dumm sein, ihr zu trauen. Ich schäme mich, dass ich so blöde war, ihr von dem kleinen Gespräch mit Philippe im Musée Carnavalet zu erzählen. Wer hätte auch gedacht, dass sie gleich zu ihm hingeht und mit der für sie typischen lauten, ordinären Stimme, damit es nur ja jeder hört, verkündet: Ich höre, Jacqueline ist jetzt deine Freundin, dein Liebchen.

Ich bin die unglücklichste Siebzehnjährige in meiner ganzen deuxième classe am lycée Victor Hugo. Marie Charlotte hat nur eine jüngere Schwester, die ihr das Leben schwer macht, aber ich habe zwei: doppelt gemoppelte Plage. Ich kann von Glück sagen, dass Maman nicht geschmacklos ist und den Zwillingen nie diese abscheulichen, gleich aussehenden Kleider anziehen würde. Maman achtet sogar sehr darauf, ihnen immer verschiedene Sachen zu geben, aber die kleinen Biester finden es komisch, die Leute zu verwirren. Heute ist Renée in Nadines Rock und Pullover gegangen, und Nadine trug Renées, und die kleinen Biester fanden es lustig, den ganzen Tag lang so zu tun, als seien sie die andere. Sie verständigen sich mit Grunzlauten wie Wilde oder Hunde und manchmal, könnte ich schwören, durch Gedankenübertragung.

Maman weigert sich einfach zu verstehen, dass es eine Demütigung ist, diese Bälger mit in den Park schleppen zu müssen oder ins Kino. Sie haben ständig nur Unfug im Sinn und toben herum wie die schlimmsten Gassenbengel und schlagen sich die Knie auf und lachen lauthals. Damit nicht genug, nennen sie sich gegenseitig Rivka und Naomi, solche peinlichen Ghettonamen, dass ich sie ohrfeigen könnte. Am Samstag hat Maman mich gezwungen, sie mitzunehmen, als ich mit Suzanne (diesem Luder) und meiner lieben Marie Charlotte ins L’Étoile gegangen bin. In der Szene, wo Gabrielle ihrem Geliebten François in die Arme sinkt, haben diese Monster geschmatzt und gekichert. Ich war gedemütigt. Ich werde nicht mehr ins Kino gehen, wenn das bedeutet, die Zwillinge mitzunehmen, und das werde ich Maman klarmachen! Manchmal, wenn Marie Charlotte und ich auf unserer Spezialbank im kleinen Park Georges Cain beim lycée sitzen, pirschen sich die kleinen Biester an, um uns zu belauschen.

Ich glaube an das Allgemeine, nicht an das zufällige Besondere. In diesem Haus in der Rue du Roi de Sicile (deren Namen niederzuschreiben mir zugegebenermaßen immer noch einen vernunftwidrigen Genuss bereitet, wegen seines mit der Wirklichkeit so unvereinbaren romantischen Klanges) im Vierten Arrondissement unweit der Metrostation St. Paul geboren zu sein, ist lediglich eine Sache des Zufalls und hat keine bleibende Bedeutung. Ebenso ist es nicht wahrhaft von Belang, dass ich Jacqueline Lévy-Monot genannt werde und nicht zum Beispiel Marie Charlotte Lepellier. Ich möchte das finden, was im menschlichen Leben wahr, bleibend und allgemeingültig ist, statt in meiner kleinen Ecke zu sitzen und mir immer wieder sogenannte Volksweisheiten, so dumm wie jeder andere Aberglaube, vorzusagen, wie es Maman tut: »Nor a schtejn sol sajn alejn«, nur ein Stein sollte allein bleiben, als wären wir hier nicht zusammengepfercht. Die Etiketten, mit denen wir einander versehen, hindern uns daran, zur Wahrheit vorzudringen, und wir müssen uns die Etiketten nicht nur von den eigenen Gesichtern reißen, sondern sie auch aus unserer Sicht auf andere verbannen. Engstirnigkeit ist der größte Feind des Fortschritts, so glaube ich, und ich habe einen Aufsatz dieses Inhalts geschrieben, der den zweiten Preis gewann, einen Petit Larousse, den ich jeden Tag benutze.

Ich ringe mit der romantischen Schwäche in mir, die zum Beispiel den Namen unserer engen Straße mag, die letzten Endes nur eine heruntergekommene Durchfahrtsstraße von beträchtlichem Alter, aber geringem architektonischem Wert ist, gesäumt von Läden und Geschäften wie dem Kürschner, bei dem Maman arbeitet, über denen sich kleine, überfüllte Wohnungen wie die unsere häufen. In unserem Erdgeschoss ist eine koschere Fleischerei. Die Straße des Königs von Sizilien, wo höchst königlich die alten, roh gemauerten Eingangsflure, dunkel wie kleine Bergwerksschächte, nach Urin stinken, wo höchst königlich Tag und Nacht Maschinen dröhnen und Nähmaschinen rattern. Der König von Sizilien muss auf abgelaufenen Absätzen gegangen sein und seine Mäntel geflickt haben, wie Maman es mit unseren tut.

Wie soll ich sie je überleben, diese Wüste aus Zeit, die sich endlos und trostlos vor mir erstreckt, bis ich endlich als Erwachsene für mich sein werde und mich nicht mehr von morgens bis abends meiner Familie erklären muss? Eine Familie ist ein zufällig entstandenes Gebilde, eine Gruppe von Menschen, die der Zufall zusammengeführt und gezwungen hat, auf ungenügendem Raum zusammenzuleben. Wenn ich nicht meine winzige Stube im obersten Stock hätte, eine Treppe höher als unsere Wohnung, ich würde ersticken!

15 septembre 1939

Seit zwei Wochen sind wir im Krieg, aber das Leben scheint ziemlich unverändert. Überall werden königsblaue Verdunkelungsvorhänge angebracht, falls Luftangriffe kommen. Maman macht sich Sorgen, dass Papa einberufen wird. Ich habe mit der première classe begonnen. Ich habe zwei Nachhilfeschülerinnen, denen ich nach der Schule Stunden gebe, Immigrantinnen mit mangelhaften Französischkenntnissen, eine süße Zehnjährige und eine dicke Elfjährige, die mit offenen Augen schlafen kann. Noch niemand hat dieses Gehirn aufgeweckt, das in ihrem Schädel ruht wie eine sonnenbadende Schildkröte. Ich beabsichtige, die Schale aufzubrechen! Die Zehnjährige ist meine Kusine, erzählt mir Maman, als kündigte sie eine köstliche Süßspeise an, wohingegen ich mir die größte Mühe gebe, allein aufgrund der von einer Schicksalslaune willkürlich zusammengewürfelten Gene keinerlei Vetternwirtschaft aufkommen zu lassen. Aus Kozienice, sagt Maman mit lächerlicher Aufgeregtheit: irgendein staubiges Nest in Polen, wo Maman zufällig geboren wurde, ein Fehler, den sie intelligent genug war richtigzustellen, indem sie mit sechzehn nach Frankreich ging. Tante Batya sieht älter aus als Maman, obwohl sie die nächstjüngere Schwester ist, und zieht sich unmöglich an, wie eine Bäuerin.

Manchmal fühle ich mich zur Lehrerin berufen, weil ich die Begabung dafür habe, und ich halte das für eine ebensolche Begabung wie die zur Schauspielerei, die ich gleichfalls zu besitzen glaube. Maman sagt mir, dass alle jungen Mädchen Schauspielerinnen werden wollen, weil sie sich vorstellen, das brächte Glanz und Ruhm. Ich weiß, dass es harte Arbeit ist, eine andere Persönlichkeit anzunehmen. Maman hält mich für naiver, als ich bin. Beide Begabungen erfordern, andere zu verstehen, und beide erfordern eine besondere Art der Demut. Maman meint, es ist Egoismus, der mir den Wunsch eingibt, Schauspielerin zu werden, aber ich sehe es als eine Art Selbstverleugnung, worin meine eigene Persönlichkeit sich dem Charakter einer anderen unterordnet, einer Berenice, einer Phädra, einer Julia.

Literatur zu unterrichten heißt gewissermaßen, sie darzustellen. Beide Gaben beeinflussen und ergänzen einander, aber ich fürchte, beide Begabungen zu haben ist so schlimm, wie keine zu haben. Maman hat etwas Grausames zu mir gesagt, als ich ihr gegenüber meine Zweifel erwähnte, meiner Berufung zu folgen. Sie sagte, ich nähme mein hübsches Aussehen viel zu ernst. Seitdem habe ich mich einer Selbstdisziplin unterworfen, die wenigstens mir beweisen soll, wie sehr sie sich in ihrer Einschätzung meiner Ernsthaftigkeit irrt. Ich habe mir die ganze Woche lang verboten, in den Spiegel zu schauen. Wenn ich mir die Haare kämme, tue ich es nur mit dem Tastsinn. Niemand in der Familie hat meine neue Disziplin bemerkt, aber das ist mir recht, denn wenn ich sie erklärte, würde ich bestimmt für meine Anstrengungen verspottet werden.

Ich verstehe nie, was die Leute meinen, wenn sie mich hübsch nennen, denn wenn ich in meine Augen schaue, sehe ich Verzweiflung, Entzücken, Freude, Trauer, eine gründlich forschende Neugier, Mitgefühl, einen distanzierten, fragenden Geist; Chaos und Kampf. Marie Charlotte ist hübsch. Sie hat ein gelassenes, reines Gemüt, in dem unumstößliche Ideen zur Ruhe kommen, und sie ist mit ihnen zufrieden, so wie ich mit den Möbeln in meiner Mansardenkammer zufrieden bin. Aber ich glaube, mein Gesicht ist so wandelbar wie meine Seele. Vielleicht kann ich nur als Schauspielerin diese Tiefen und Höhen enthüllen, diese Stürme, die unsichtbar toben und mich zutiefst durchrütteln. Wenn andere mich hübsch nennen, meinen sie mir zu schmeicheln, aber ich fühle mich geschmälert, unsichtbar hinter der Maske, die sie erschaffen, nicht ich.

21 février 1940

Papa hat seinen Gestellungsbefehl, und wir sind alle erschüttert. Er ist sehr fröhlich und sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen, es sei nicht anders, als ginge er in ein Ferienlager. Es ist wahr, der Kriegszustand ist bisher friedlich gewesen, und ich denke, die sensationslüsterne Berichterstattung der ersten Wochen ist verklungen angesichts der Wirklichkeit des modernen Krieges, der hauptsächlich eine Angelegenheit des Disputierens und des Sitzens zu sein scheint. Das entsetzlich eisige Wetter geht weiter, der härteste Winter, an den ich mich erinnern kann, als beklagte die Natur unsere Torheit in dieser langen, lächerlichen drôle de guerre.

Ich habe mich Papa in letzter Zeit entfremdet gefühlt, aber jetzt wünsche ich mir, wir könnten uns einander besser mitteilen. Unsere Meinungsverschiedenheiten beruhen in Wahrheit darauf, dass Papa es vorzieht, sich kulturell einzugrenzen, während ich versuche, meinen Horizont zu erweitern. Ich glaube, wir haben einander den Streit über das Farband-Picknick letzten Sommer nie verziehen. Ich weiß, dass ich recht hatte, aber vielleicht habe ich den Sachverhalt zu unverblümt dargestellt. Schließlich habe ich nichts mit einem Haufen bäurischer Jünger des einfachen Lebens zu tun, nur weil sie jüdisch sind. Jüdisch zu sein ist auch eine Sache des Zufalls. Ich bin jüdisch geboren worden, aber was bedeutet das? Als Religion finde ich es absurd. Als Speisegesetz archaisch! Mir wird gesagt, diese polnischen Flüchtlinge, die Balabans aus Kozienice, sind meine Tante, mein Onkel, meine Kusinen, aber ich kann mich mit ihnen nicht einmal über die simpelsten Dinge unterhalten, über Tische und Stühle, geschweige denn über meine Gedanken, meine Gefühle oder meine Ambitionen.

Ich verstehe Papas Engagement in der Poale-Zion nicht. Die Vorstellung, dass wir uns alle aufmachen und in den Orient gehen, um Dattelbauern zu werden, ist ein Hirngespinst, das ich keine fünf Minuten ernst nehmen kann. Papa ist immer Sozialist gewesen, aber seit zwei Jahren hat er sich für den törichten Zionismus engagiert. Ich könnte mir vorstellen, dass er von der Armee ohne dieses Gepäck heimkommen wird. Er braucht mehr Kontakt mit intelligenten Franzosen, die sich mit modernen Ideen auseinandersetzen. Seine Intelligenz ist größer, als für seine Fabrikarbeit benötigt wird, deshalb tendiert sein Denken zu Disziplinlosigkeit.

Papa hat große Kraft, was manchmal wundervoll ist und manchmal peinlich. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn für den Vorfall im letzten Herbst bewundern soll oder nicht. Wir warteten in einer Menschenmenge darauf, dass die mairie ihre Pforten öffnete, und als es zwanzig Minuten lang nicht geschah, warteten alle weiter und murrten. Und Papa ist einfach zur Spitze der Schlange vorgegangen und hat die Tür aufgestoßen. Sie war die ganze Zeit unverschlossen!

Trotzdem traf mich sein Gerede, ich solle mich mit Jungens »meiner eigenen Art« treffen, als ordinär und geschmacklos und obendrein völlig unempfänglich für die Person, die ich wirklich bin. Ich verstehe nicht, was mir ein künftiger Traktorfahrer zu sagen haben könnte oder was ich Papas Ansicht nach mit ihm gemein haben soll. Das ist eine von diesen monomanischen Zwangsvorstellungen. Wenn Papa und sein copain Georges zusammensitzen, können sie manchmal nur darüber reden, wer alles Jude ist und wer nicht. Das erinnert mich an dieses Luder Suzanne, nachdem sie mit ihrem ebenso ordinären Freund geschlafen hatte. Da ging sie die Straße entlang und rätselte, welche noch Jungfrau war und welche nicht.

Maman hat furchtbare Angst und wird viel Beruhigung und Trost brauchen, das sehe ich schon. Die Zwillinge heulen und klammern. Ich komme mir wie die Einzige mit einem kühlen Kopf vor!

16 juin 1940

Tatsächlich, die Deutschen sind hier, und es ist kein Massaker oder Blutbad, obwohl sie uns gezwungen haben, die Uhren eine Stunde vorzustellen, damit wir deutsche Zeit haben. Es ging ruhig und geordnet zu, kaum ein Schuss ist gefallen, und alle sind ein wenig betäubt. Ich sah einige gutgekleidete Menschen den vorbeimarschierenden deutschen Truppen zujubeln. Die schienen im Großen und Ganzen sauber und manierlich. Ich denke, unsere Angst ist von den Zeitungen aufgeblasen worden, die nichts anderes zu tun haben, als Sensationsgier zu erzeugen. Ich bin überzeugt, Maman schämt sich, die Zwillinge mit ihrem Chef M. Cariot in den Süden nach Orléans geschickt zu haben.

Ich habe mich der Suche nach dem Allgemeinen, dem Inbild des Allgemeingültigen verschrieben, denn nur so können wir uns rigoros aus dem Morast des zufälligen Besonderen erheben. Meiner Ansicht nach ist Patriotismus nicht nur eine Zufluchtsstätte für Schufte, sondern auch für Idioten und solche, die ihr ganzes Denken jeden Morgen vorgefertigt aus den geistlosen Zeitungen kaufen. Alle paar Jahrzehnte zetteln Regierungen Kriege an und versetzen die Menschen in Raserei, nur damit wir nicht die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Seite erkennen, die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage stellen und vernünftige Institutionen und Gesetze fordern. Ich bin überzeugt, dass die Deutschen – abgesehen davon, dass sie eine andere Sprache sprechen – sich von uns hauptsächlich insoweit unterscheiden werden, wie wir uns als Individuen voneinander unterscheiden. Wir sind zwei benachbarte Länder, die anscheinend nichts Besseres zu tun haben, als alle paar Jahre übereinander herzufallen, eine große Anzahl junger Männer hinzumetzeln und dabei die Landschaft zu verwüsten. Ich nehme an, wenn wir den Mut hätten, die Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen, statt alte Klischees zu wiederholen, dann würden wir feststellen, dass die Deutschen ein Volk sind wie wir, gut, schlecht und gleichgültig im selben Maße, wie wir es sind.

Wenn wir nur wüssten, wo Papa ist, wären wir wahrscheinlich ganz ruhig. Ich überquerte heute Nachmittag die Rue de Rivoli und habe dabei im Gedränge einen deutschen Soldaten angerempelt, einen Leutnant, glaube ich. Er hob die Hand an seine Mütze, lächelte und ging aus dem Weg – überhaupt nicht die Ungeheuer, die Säuglingen die Schädel zertrümmern, wie uns weisgemacht worden ist. So viel zur Unmenschlichkeit der Feinde. Ich habe von keinerlei Vergewaltigungen oder Plünderungen gehört. Die gendarmes sind wieder auf den Straßen und die Geschäfte wieder geöffnet.

29 juillet 1940

Papa ist wieder da! Erst die Zwillinge und dann er. Er ist aus einem Kriegsgefangenenlager entflohen. Er sagte, dass sie anfingen, die Juden von den anderen abzusondern, obwohl ich glaube, das ist nur ihr Sauberkeits- und Ordnungsfimmel. Sie sortieren gern alle in Schubfächer ein. Er arbeitete beim Müllkommando, als er aus dem Lager entfloh, und hat seine Uniform weggeworfen. Ich hoffe, er bekommt wegen seines übereilten Handelns keine Schwierigkeiten. Er wollte unbedingt nach Hause, aber es wird gesagt, dass die Deutschen sowieso bald alle Kriegsgefangenen entlassen.

Es ist, als habe seit seiner Rückkehr ein Erdbeben sein Epizentrum direkt unter unserer kleinen Wohnung. Er rennt herum und trifft sich mit all seinen copains von den alten radikalen Zeitungen und von der Poale-Zion. Sie haben sogar eine Delegation geschickt, um mit den jüdischen Kommunisten zu reden, von denen berichtet wird, dass sie dem Hitler-Stalin-Pakt nicht zustimmen wie der Rest der Partei. Früher weigerte sich Papa, mit Kommunisten überhaupt zu reden, aber jetzt hastet er in ganz Paris herum und bespricht sich mit jedem Brauskopf. Er hat eine Art jüdische Widerstandsbroschüre weiterverteilt, die sich Que faire nennt und von Hand abgeschrieben wird und die von Horrorgeschichten und Parolen strotzt wie partout présent: seid überall, und faire face: erhebt euch gegen sie. Ich bin erleichtert, dass Papa in Sicherheit ist – wie lange er es allerdings bleibt, wenn er so weitermacht, ist eine andere Frage. Doch ich muss sagen, bis uns die Zwillinge zurückgebracht wurden, dünner und verdreckt und voller Geschichten von brennenden Fahrzeugen und alleingelassenen Babys und im Tiefflug angreifenden Flugzeugen, war es hier außerordentlich friedlich, nur Maman und ich. Sie war krank vor Sorge, aber ich habe sie getröstet, und ich glaube, sie achtet mich jetzt mehr.

14 septembre 1940

Ich persönlich glaube, dass man eine innere Gelassenheit erreichen muss. Ich gebe zu, es ist beunruhigend, durch die Straßen zu gehen und Plakate angeschlagen zu sehen, welche die Juden en bloc anprangern, und all die pöbelhaften neuen Zeitungen zu sehen, die nichts tun, als allen Juden den Tod zu wünschen, Au Pilori zum Beispiel. Aber ich übe mich in Selbstdisziplin, während ich umhergehe, und sage mir, ich weiß, ich bin nicht schmutzig, ich bin nicht gemein, ich bin so französisch wie alle anderen und ebenso von französischer Kultur durchdrungen wie jeder meiner Lehrer, also bin nicht ich es, gegen die sich diese Gemeinheit richtet, und ich werde sie einfach nicht an mich heranlassen. Wütend werden bedeutet, denen Macht zu geben, die angreifen. Einen derartigen Angriff nicht beachten bedeutet, die Angreifer zu entmachten, nicht sich selbst. Wir geben diesen Schreihälsen ihre Macht, indem wir uns beleidigen lassen.

Papa und Maman sind sehr bestürzt, weil die Staatsbürgerschaft der Balabans widerrufen worden ist. Sie sind erst seit 1935 in Frankreich, und ihnen ist ihre französische Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Sie tun mir leid, aber ich kann es nicht allzu befremdlich finden. Sie scheinen sich keinerlei Mühe gegeben zu haben, sich in die französische Gesellschaft einzufinden. Sie sprechen mit ihren Freunden nur Jiddisch oder Polnisch und sind unübersehbar Ausländer, sogar auf der Straße. Wenn man in einem anderen Lande lebt und sich so auffällig verhält, ist das für mein Gefühl nahezu arrogant. Trotzdem tun mir die Balabans unendlich leid.

2 octobre 1940

Jetzt ist Anordnung ergangen, dass wir alle zum zuständigen Polizeirevier gehen müssen, wo wir registriert werden wie Prostituierte oder Verbrecher und ein großes, hässliches JUIF auf unsere Ausweise gestempelt bekommen. Ich habe am Frühstückstisch angekündigt, dass ich einfach nicht hingehen werde. Ich dachte, Papa und Maman würden entsetzt sein, doch nein, Papa sagte, er wolle darüber nachdenken, was passieren könnte, wenn wir nicht gehorchen. Er findet es keine schlechte Idee, die Registrierung zu verweigern, wenn uns nur etwas einfällt, wie wir sie umgehen können. Ich weiß, es hat keinerlei Bedeutung, aber derart ausgesondert und gekennzeichnet zu werden finde ich einfach demütigend.

Marie Charlotte war in letzter Zeit äußerst merkwürdig zu mir. Die letzten beiden Male, die wir verabredet waren, ist sie einfach nicht gekommen. Sie hat mich schlicht sitzen lassen. Schließlich habe ich mich gestern mit ihr ausgesprochen. Sie sagte, sie habe mich immer noch sehr lieb, habe aber gehört, dass andere sie für eine Jüdin halten, weil sie immer mit mir zusammen ist, und dass sie Angst habe. Sie wolle kein solches Kennzeichen tragen, zumal sie als gute französische Katholikin geboren sei und ihre Mutter meine, es sei ihre eigene Schuld, weil sie sich mehr mit mir abgebe als mit ihresgleichen.

9 octobre 1940

Wir sind alle vorschriftsmäßig registriert, eine der demütigendsten Erfahrungen in meinem Leben. Seit Marie Charlotte abtrünnig geworden ist, habe ich mich mit einigen jüngeren Leuten angefreundet, die ich vor einem Jahr noch für Rowdys gehalten hätte. Sie sind gewiss keine achtbaren bürgerlichen Elemente, aber sie sind nicht unintelligent, und sie scheinen keinerlei Vorurteile zu haben, anders als viele Leute, von denen man dachte, sie stünden über solchen Dingen. Sie hören viel Jazz, besonders amerikanischen Jazz, und kleiden sich wie Bohémiens.

Es fasziniert mich, dass sie keine strenge Alterstrennung kennen. Einige von dieser neuen Clique sind auf der Universität, einige wie ich im letzten Jahr vom lycée und einige nicht mehr in der Schule, aber auch noch nicht im Beruf. Es ist nicht die Besonderheit ihres Stils, die es mir angetan hat, sondern ihre Toleranz. Sie scheinen nicht von der Angst besessen, die deutschen Erlasse zu befolgen, und es kümmert sie nicht, was ich bin, nur, wer ich bin. Dafür achte ich sie. Sie denken, ich bin zu ernsthaft, aber sie würden mir schon den Kopf zurechtsetzen. Das bezweifle ich, aber es tut gut, ins Café Le Jazz Hot zu gehen, wo sie meistens sind, und mich zu Freunden zu setzen und willkommen zu fühlen. In diesen Tagen ist es selten geworden, sich willkommen zu fühlen, und hinter ihrer Lässigkeit verbirgt sich eine Höflichkeit, die ich schätze.

Jeden Tag wächst in mir die Ungewissheit, was aus uns werden soll, aus uns allen, und ob ich je eine Chance bekomme, irgendetwas zu werden, geschweige denn die Wahl habe, ob Lehrerin oder Schauspielerin, denn Türen scheinen schneller zuzuschlagen, als ich auf sie zugehen kann. Ich fühle mich, wie sich eine Kreatur der Tropen gefühlt haben muss, als die Eiszeit kam und die Gletscher niederwalzten, was einmal üppige und blühende Bananenwälder waren. Ich fühle mich, als gehörte ich eigentlich nicht mehr zu meiner Familie, aber ohne einen eigenen Platz oder eine eigene Rolle zu haben, ohne eigenen Ort, an dem ich wahrhaft zu Hause bin. So ist es kein Wunder, wenn ich jetzt mehr und mehr Zeit mit meinen neuen unbürgerlichen Freunden im Café Le Jazz Hot zubringe.

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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