Читать книгу Starke Porträts - Martin Frick - Страница 10

Оглавление

Wie mich ein Mönch zum Geschichtenerzähler gemacht hat

Vor einigen Jahren habe ich Freunde auf ihrem Hof in Südfrankreich besucht. Sie leben am Rande des Vercors, einer einsamen und wilden Gegend mit alpinem Charakter. Gemeinsam zogen wir mit einem Pferd, bepackt mit Motorsägen und Sensen, auf einen Pass, der für die Schafe und Ziegen zugänglich gemacht werden sollte. Damals habe ich erfahren, dass unweit des Passes ein Mönch als Einsiedler lebt, der von seinem Kloster entsandt wurde. Vielleicht, um die Welt zu retten – und vielleicht auch, um mich zu retten.

Seit mehr als 20 Jahren hauste er in einem Bretterverschlag, gegen den eine Schweizer Bushaltestelle luxuriös erscheint. Die Leute aus dem Dorf hielten Kontakt zu ihm. Er schien dort oben von der Hand in den Mund zu leben, aus unserer »zivilisierten« Sicht eine zutiefst ärmliche Lebensform. Die Hintergründe der Entsendung kenne ich nicht. Ich weiß nur eines: Der Mönch hatte den Ort dort oben in den Bergen selbst gewählt.

Mit Lena als Guide, der Tochter meiner Freunde, habe ich mich aufgemacht, um ihm einen Beutel Nüsse zu bringen. Wir saßen eine halbe Stunde zusammen, dann lud er uns in seinen kleinen Bet-Raum ein. Eine Heizung konnte ich nicht entdecken. Es war vollkommen dunkel bis auf eine kleine Luke, durch die ein Lichtstrahl auf das Kruzifix an der Wand fiel. Wir meditierten und beteten gemeinsam.

Die Begegnung hat mich nachhaltig beeindruckt. Wir redeten über Gott und die Welt und über die moderne Gesellschaft, zu der er nur über Bücher, christliche Schriften und sporadische Besuche Kontakt hielt. Die größte Gefährdung sah er in der Computertechnik, die seiner Meinung nach eindeutig von Satan höchstpersönlich käme und uns Menschen zerstören würde. Irgendwie muss er davon über Magazine erfahren haben, die ihm von seinem Kloster zugeschickt wurden. Wie bei den Schatten an Platons Höhlenwand konnte er nicht anders, als das dort Beschriebene für die Wirklichkeit zu halten. Die Chance, vor die Höhle zu treten, war ihm verwehrt.


In Südfrankreich lernte ich einen Einsiedler-Mönch kennen, der auf einem einsamen Pass lebte – eine Begegnung, die mich nachhaltig inspiriert hat.

Was mir von ihm in Erinnerung geblieben ist, war seine Präsenz. Seine Augen schienen mich zu durchdringen, als gäbe es nichts, was ich vor ihm geheim halten könnte, ganz so, als wollte er sagen: »Lebe jetzt!«

Wir haben uns gut unterhalten, sofern das mein Französisch zuließ, und herausgefunden, dass unsere Ansichten näher beisammen lagen, als wir zunächst glaubten.

Die anderen hatten in der Zwischenzeit die Büsche am Pass geschnitten, und als wir wieder zur Gruppe stießen, bepackten wir das Pferd und stiegen ins Tal hinab. Ganz ehrlich, ich habe danach jahrelang nicht mehr an den Mönch gedacht.

Wiedersehen

Vor ein paar Jahren führte mich mein Weg wieder zum Hof meiner Freunde, und in mir wuchs der Wunsch, erneut auf den Pass zu steigen. Ich wollte diesen Zeitgenossen ein zweites Mal besuchen, diesen Menschen, der irgendwie aus der Zeit gefallen war.

Inzwischen hatte ich Soziologie studiert, und mir war immer mehr klar geworden, wie relativ das ist, was wir als Normalität betrachten. Wenn ich daheim erzählte, wie dieser Mensch lebte, war die Verwunderung groß. »So etwas gibt es im 21. Jahrhundert in Mitteleuropa? Glaube ich nicht.«

Also habe ich mich wieder auf den Weg gemacht, dieses Mal zusammen mit meinem Reisekameraden. Sechs Jahre waren seit der ersten Begegnung vergangen. Oben angekommen, begrüßte mich der Mönch mit meinem Vornamen. Er rechnete mir vor, wann ich das letzte Mal da gewesen sein musste, und dass ich damals mit Lena gekommen war, da wir drüben am Übergang Büsche geschnitten hatten. Zu sagen, dass ich überrascht war, ist mehr als untertrieben. Als er hörte, dass wir in Montpellier waren, um das traditionelle japanische Bogenschießen zu lernen, schenkte er uns ein Glas Wasser ein, Wasser, das er zu Fuß von einer Quelle weiter unten mühsam hinauftragen musste. Absichtlich machte er das Glas bis zum Rand voll und reichte es uns. Wir verschütteten ein paar Tropfen. Da lachte er uns aus, weil wir nicht in der Lage waren, es ruhig zu halten. »Wofür sollte dann das Bogenschießen gut sein?«, fragte er, sichtlich darüber amüsiert, dass er uns mit seinen 80 Jahren feinmotorisch überlegen war.

Wir unterhielten uns noch lange – und obwohl er nicht viel zu essen hatte, sollten wir auch vom Honig probieren. Eine erneute Probe. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst hatte: mitten in der Abgeschiedenheit der Berge einen Zuckerschock zu erleiden oder davor, dass er mir die Zunge abschneiden könnte mit dem rostigen Opinel-Messer, an dessen Klinge der Berg von Honig klebte.

Sein durchdringender Blick, seine Schlagfertigkeit und die starke Präsenz fielen mir auch dieses Mal auf. Ich konnte seine Lebensweise nicht wirklich nachvollziehen und empfand ein wenig Mitleid für seine Abkehr von der Welt da draußen. Aber sein Im-Hier-und-Jetzt-Sein war beeindruckend, und ich empfand tiefsten Respekt und fühlte mich im Vergleich dazu sehr, sehr klein.

Zum Abschied sagte er zu mir, dass er nicht mehr am Leben sein werde, wenn ich ihn das nächste Mal besuchen würde. Zwar habe er dies auch beim letzten Treffen gesagt, aber dieses Mal sei es wahr, betonte er. Wir verabschiedeten uns und stiegen den Berg hinunter. Der Pfad und die Landschaft beanspruchten unsere ganze Aufmerksamkeit. Wir kehrten schweigend ins Tal zurück, auf eine geheimnisvolle Art tief berührt und in der Gewissheit, etwas Einmaliges erlebt zu haben.

Einige Jahre später begann ich, einen Teil meines Lebensunterhalts mit der Fotografie zu bestreiten. Immer wieder habe ich an den Mönch gedacht, und der Wunsch, ihn mit der Kamera zu besuchen, um dieses außergewöhnliche Leben zu dokumentieren, wurde immer stärker.

Im Sommer begann ich konkret mit der Planung und war fest entschlossen, erneut dorthin zu fahren. Ein Telefonat mit meinen Freunden sollte mir eine gewisse Verbindlichkeit schaffen. Manchmal ist es eine gute Idee, andere in seine Pläne einzuweihen, um sich von der eigenen Kühnheit nicht einschüchtern zu lassen. Als meine Bekannte den Hörer abnahm, kam ich direkt auf meinen Plan zu sprechen, den Mönch ein weiteres Mal zu besuchen. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Türe sich geschlossen hatte und der Mönch tot war. Als sie ihm im Herbst etwas Essen bringen wollten, fanden sie auf dem Weg eine schwarze Mönchskutte unter dem ersten Schnee. Darin lag er, leblos. Meine Freunde riefen in seinem Kloster an, dann bei einem Arzt und der Polizei. Seine Mission war erfüllt, und er war heimgekehrt. Mich überfiel eine scheue Faszination und zugleich tiefe Traurigkeit.

Wenn ich darüber nachdenke, warum ich das Ganze hier aufschreibe, ist das Resultat ziemlich banal: Ich erzähle diese Geschichte, weil ich eine Begegnung, die nicht wiederkommen wird, festhalten möchte. Und weil ich dir davon erzählen möchte. Ich möchte dir diese und andere Geschichten erzählen. Überraschende Geschichten, schöne Geschichten, nachdenkliche Geschichten, fröhliche Geschichten, Geschichten über das Leben und über die Menschen und was sie bewegt. Über dich und mich. Geschichten, die dich und mich etwas angehen.

Durch diese Begegnung habe ich etwas erkannt. Ich habe jetzt die Kraft und den Mut, aufzubrechen, wenn ich fühle, dass es das Richtige für mich ist: etwas Neues zu wagen und nicht zu lange zu warten. Immer wieder schließt sich eine Türe, und immer wieder öffnet sich eine Türe. In diesem Fall habe ich bereut, nicht früher aufgebrochen zu sein. Das schmerzt. Daran habe ich etwas geändert. Und deshalb ist diese Geschichte für mich bedeutsam. Weil sie mir zeigt, warum ich tue, was ich tue.

Ich wünsche mir, dass diese Geschichte und alles, was im Buch noch folgt, auch dir etwas sagt. Dass du etwas sehen kannst, was du so noch nicht gesehen hast, etwas, das eine Bedeutung für dich hat. Und dass es dir hilft, zu erkennen, was dich bewegt, was deine Geschichten sind, was dir wert ist, erzählt zu werden.

Starke Porträts

Подняться наверх