Читать книгу Starke Porträts - Martin Frick - Страница 13

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Gehe in deiner Erinnerung zurück zu dem Moment, als du zum ersten Mal von einer Fotografie fasziniert warst. Was hat den Anstoß gegeben, was hat dich fasziniert? Gab es einen Menschen, der dich inspiriert hat, eine Anekdote, eine Fotostrecke in einem Magazin? Schreibe deine persönliche Geschichte auf mit dem (Unter-)Titel: »Warum ich fotografiere«.

Was genau finde ich interessant? Und was will ich damit zeigen?

Ist erst einmal klar, warum ich mich für einen Menschen oder ein Thema interessiere, kann ich mir leichter bewusst machen, worauf es bei meiner Fotografie ankommt, also was ich damit zeigen möchte. Zuerst könnte die Frage, was ich fotografieren möchte, ein bisschen lächerlich klingen. Wir sind vielleicht geneigt zu sagen: »Ich möchte meinen Vater porträtieren. Was soll die Frage?«

Ein gutes Porträt zeigt mehr als die abgebildete Person. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass wesentliche Eigenschaften einer Person gar nicht sichtbar sind. Solche Eigenschaften wie der Charakter eines Menschen, seine Einstellung zum Leben, seine Leidenschaften, seine Interessen und seine Lebenserfahrung spielen in einem guten Porträt eine zentrale Rolle – auch wenn wir sie visuell nur indirekt zeigen und nur erahnen oder hineininterpretieren können.

Manchmal möchten wir also einen Menschen nicht nur ablichten, sondern wir möchten Emotionen transportieren – eine Geschichte, etwas, was diese Person geprägt hat und in diesem Moment zum Ausdruck kommt. Etwas, mit dem sich die Person identifiziert, ein Lebensgefühl vielleicht.

Fragen, die in dieser Situation hilfreich sein können:

 •Was ist besonders?

 •Was daran wurde vorher so noch nie gesehen?

 •Was empfindet mein Modell oder der Betrachter?

 •Was geschieht hier?

 •Was bleibt verborgen?

 •Und was ist gerade abwesend, obwohl es zur Geschichte eigentlich dazugehört?

 •Was möchte ich zeigen oder dem Betrachter des Fotos (meinem Publikum) erklären?

 •Worin besteht der Kontrast, Konflikt oder Widerspruch in der aktuellen Situation?


Vor dem eigentlichen Shooting macht sich Bahau Lyn nochmal schick. Ich habe die Gelegenheit ergriffen und sie gefragt, ob ich sie dabei schon fotografieren darf.

Diese Fragen erscheinen theoretisch, und man kann sich schwer vorstellen, dass sich ein Fotograf darüber vorab Gedanken macht. Ich glaube jedoch, dass ein guter Fotograf genau das tut, mehr oder weniger bewusst, in Form von Beobachtungen, Recherche, Moodboards, Büchern und dergleichen. Außerdem funktioniert unsere Intuition da besonders gut, wo wir uns gut auskennen und über Jahre in ein Thema eingearbeitet haben. Je mehr wir also in unser Thema eintauchen, umso leichter fällt es uns, spontan und intuitiv auf eine Situation zu reagieren, die sich mehr oder weniger geplant vor unseren Augen auftut.

So ähnlich muss es Ken Schles ergangen sein, der in den 80er Jahren in einem heruntergekommenen Viertel New Yorks lebte und Fotografie studierte. Das Lower-East-Viertel von Manhattan war damals Brennpunkt von gestrandeten Künstlern, Junkies, Homosexuellen und Transvestiten. Über Jahre begleitete Ken Schles seine damaligen Nachbarn und Freunde, die buchstäblich am Rand der Gesellschaft und in besetzten Häusern lebten, unsichtbar für die meisten Leute. Weil er selbst Bewohner dieses Viertels und Student war, hatte er Zugang zu dieser Welt aus Alkohol, Aids, Drogen und zerbrochenen Träumen, aber auch zu Punk, Graffiti und Bands und Musikern wie Talking Heads, Blondie und Patti Smith.


Irgendwann muss ihm bewusst geworden sein, dass das, was in seiner Umgebung passiert, charakteristisch für diesen Ort und diese Zeit war. Er muss geahnt haben, dass nur wenige Fotografen Einblicke von dieser Unmittelbarkeit erhalten und dass diese Welt irgendwann verschwunden sein würde. Der Titel seines Buches »Invisible City« bringt es auf den Punkt: Mit seinen grobkörnigen Schwarzweiß-Fotos, die er zunächst hemdsärmelig in seiner eigenen Küche belichtete, machte er etwas sichtbar, was für viele Menschen unsichtbar blieb, weil es hinter verschlossenen Türen geschah. Gleichzeitig schuf er damit ein einmaliges Zeitdokument von einer Epoche, die nicht wiederkehren wird. So »… intim und direkt, dass es bisweilen in den Augen schmerzt«, schreibt Freddy Langer über das Buch.2 Heute ist die Lower East Side hip geworden, und die Designer-Läden treiben die Preise in die Höhe. In dieser oder ähnlicher Form wird sich diese Geschichte aber rund um die Welt immer dort wiederholen, wo Stadtteile von den Behörden vernachlässigt und sich selbst überlassen werden.

Wenn wir beginnen, unsere Fotografie durch diese Brille zu betrachten, verändern sich unsere Bilder, weil wir anfangen, anders zu sehen. Für mich persönlich war es der erste Schritt einer Reise, bei der die Kamera mein ständiger Begleiter wurde.


Wenige Türen neben mir lebt Dieter. Wenn er nicht gerade in seinem Wald arbeitet, treffen wir uns beim Frühstück in unserem Stammcafé.

Neben meinen Aufträgen als Unternehmensfotograf, bei denen es mich reizt, aus den Möglichkeiten vor Ort das Maximum herauszuholen, mit Menschen vor der Linse, die oft unfreiwillig fotografiert werden sollen, wurde mir langsam bewusst, wie ereignisreich mein Leben neben der Arbeit doch war. Die verrücktesten Geschichten spielen sich vor unserer Haustüre ab, und wenn wir darauf achten, sind wir ständig von Menschen umgeben. Menschen, die im Mittelpunkt stehen, und Menschen am Rande der Gesellschaft. Das Leben selbst wurde zu meinem Motiv. Auf die Frage, was ich fortan fotografieren wollte, fand ich meine Antwort: wer mich beeindruckt, was ich erlebe und empfinde.

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Suche fünf Porträtfotos heraus, die du gemacht hast, und lege sie nebeneinander auf den Tisch. Gibt es etwas, was sich durch alle Motive durchzieht, einen Stil, ein Thema? Warum war es dir wichtig, genau diese Menschen zu porträtieren? Beschreibe mit drei Worten, was diese fünf Porträtaufnahmen thematisch miteinander verbindet.

Wie bringe ich es zum Ausdruck?

Viele Fotografen beschäftigen sich intensiv damit, mit welcher Technik sie ein Motiv am besten »ins rechte Licht« rücken, um ihren Fotos mehr Ausdruck zu verleihen. Es gibt eine Menge Bücher, Workshops und YouTube-Tutorials über das beste Posing, das ausgefallenste Make-up, perfekte Retuschen in der Beauty-Fotografie, spannende Licht-Setups, die angesagtesten Lightroom-Presets und dazu, welchen Blendenwert ich bei welchem neuen Objektiv einstellen muss, um dieses coole Bokeh zu bekommen. Darum brauchen wir uns hier also nicht zu kümmern, obwohl ich am Rande auch darauf eingehen möchte, wann es Sinn ergibt, über die Anschaffung einer neuen Kamera oder eines lichtstarken Objektivs nachzudenken, welche Softbox am besten geeignet ist, in welchem Winkel ich meine Lichtquelle positioniere und welche fotografischen Fertigkeiten wir noch erlernen könnten, um mehr aus unseren Bildern herauszuholen.

Viel wichtiger erscheint mir aber etwas anderes. Auch auf die Gefahr hin, zu polarisieren: Wir können die tollsten Bilder machen, ohne den Hauch einer Ahnung davon zu haben, was eine Blende ist und wie viel Lumen das neueste LED-Panel hat – oder davon, wie ich meine Kamera richtig bediene. Ich sage das nicht, weil ich glaube, dass ich so grandios bin und es selbst kann. Ich sage es, weil ich diese Bilder gesehen habe. Zum Beispiel bei Kollegen, Dozenten, Freunden, Studenten und bei meinen Workshop-Teilnehmern. Was haben sie richtig gemacht?

Statt sich vorrangig mit der neuesten Technik zu beschäftigen, haben sie sich mit den folgenden Aufgaben befasst:

 •Wie finde ich ein spannendes Thema?

 •Wie finde ich interessante Charaktere?

 •Wie bereite ich mich vor und wie recherchiere ich?

 •Was sollte ich planen und was darf spontan passieren?

 •Wer kann mich unterstützen und auf welche Art?

 •Wie finde ich zu einer Bildsprache, die sich für meine Geschichte eignet?

 •Wie entwickle ich mich als Fotograf persönlich weiter?

 •Wie kommuniziere ich mit meinem Model und wie leite ich es an?


Internationale Straßenkünstler fesseln das Publikum beim »Spettacolo« am Ufer des Vier-waldstättersees.

Damit soll der technische Part der Fotografie überhaupt nicht kleingeredet werden. Unsere Ausrüstung sowie das Handwerk und Verständnis, sie richtig einzusetzen, sind ein wichtiger Teil der Porträtfotografie. Um wirklich starke Porträts zu schaffen, lohnt es sich aber auch, hinter die Kulissen des Mediums Fotografie zu schauen. Schritt für Schritt möchte ich in diesem Buch erforschen, welche Faktoren eine wichtige Rolle spielen und wie ein kreativer Prozess gestaltet werden kann.

Verlassen wir also die Diskussion über die Trends der Kameraindustrie und wagen den Ritt auf einem viel zu hohen Einrad ohne Stützräder an einem gewittrigen Sommerabend.

Starke Porträts

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