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… und wie ich meinen Horizont erweitere

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Es gibt ein schönes Buch vom japanischen Autor Haruki Murakami, in dem er über sein Hobby schreibt, das Marathonlaufen. Er hat sein Buch »Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede« genannt – und ich kann mir keinen treffenderen Titel vorstellen.

Ich finde diesen Titel auch deshalb so gut, weil Murakami damit etwas tut, was wir viel zu wenig tun: unsere vorgefassten Vorstellungen und Meinungen spielerisch und kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen, um sich selbst einen Spiegel vorzuhalten und eine persönliche Standortbestimmung vorzunehmen – und dann von dieser aus zu entscheiden, in welche Richtung wir weitermachen wollen. Genau dazu möchte auch ich einladen.

 •Wovon reden wir, wenn wir von einem guten Foto reden?

 •Was soll ein guter Fotograf können? Wer könnte das sein?

 •Von welchen Ideen lasse ich mich leiten im Bestreben, mir beim nächsten Foto mehr Mühe zu geben, ein besseres Foto zu machen?

Wenn ich einen Fotoworkshop gebe, bitte ich die Teilnehmenden, mir vorab ihre fünf Lieblingsfotos zu schicken, damit wir sie besprechen können. Dabei stellen wir gemeinsam zunächst nur Fragen. Die häufigsten Fragen sind: »Ist das ein gutes Foto?« und »Wie kann ich es besser machen?« Wahrscheinlich noch häufiger kommt die Frage: »Sollte ich mir eine neue Kamera kaufen oder brauche ich dafür nicht ein besseres Objektiv?«

Anstatt diese Fragen zu beantworten, gebe ich andere Fragen zurück:

 •Was ist das Motiv?

 •Welche Gestaltungsmittel hast du eingesetzt, um die gewünschte Bildwirkung zu erzielen?

 •Was ist die Botschaft des Bildes?


Grafik: Nanette Roth

Interessant ist auch immer, Fragen an die Gruppe zu richten:

 •Was seht ihr?

 •Was kommt rüber?

 •Welche Emotionen oder Fantasien löst das Bild bei euch aus?

Ich dachte mir, dass es einen Weg geben sollte, mit dem ich meinen Teilnehmern und Teilnehmerinnen mehr Klarheit und Orientierung geben kann. Und ich habe beobachtet, welche Fragen mich selbst beim Fotografieren beschäftigen und welche mich weiterbringen.

Dabei herausgekommen ist, was ich [the scope +1] nenne. Es setzt sich zunächst aus zwei einfachen Ideen zusammen, die ich mit zwei Fragen am Beispiel deiner Ausrüstung erklären möchte:

1 1.Wie zufrieden bist du aktuell mit dem Stand deiner Fotoausrüstung? Bitte stufe deine Zufriedenheit auf einer Skala zwischen 1 und 10 ein, wobei 10 den höchsten Wert darstellt. Nennen wir diesen Wert X.

2 2.Was wäre notwendig bzw. wie müsstest du deine Ausrüstung erweitern oder anpassen, um auf einen Wert von X+1 zu kommen?


Ein Beispiel: Angenommen, ich möchte die Gäste auf der Geburtstagsfeier meiner Schwester porträtieren und fotografiere mit einem 35-mm-Objektiv an einem APS-C-Sensor. Das entspricht dem Blickwinkel einer 50-mm-Normalbrennweite am Vollformat, ist also gut geeignet, wenn ich den ganzen Oberkörper und ein wenig vom Umfeld mit im Bild haben möchte. Wenn es mir aber darum geht, das Gesicht in den Fokus zu rücken und möglichst wenig Schärfentiefe zu erreichen, wäre eine längere Brennweite besser geeignet. Ein Objektiv mit (umgerechnet) 85 mm und einer maximalen Blende von f/2 wäre ideal, um den »Look« zu erzielen, den ich mir vorstelle, da ich damit mehr Freistellungspotenzial habe und die Proportionen des Gesichts noch besser wiedergegeben werden [+1].

Genauso könnte ich zum Ergebnis kommen, dass ich meine Porträts mit einem Reflektor aufwerten kann [+1]. Oder ich schaue mich nach einer Softbox für meinen Blitz um, um weicheres Licht zu bekommen [+1], oder organisiere mir für die zweite Lichtquelle einen Wabenvorsatz, damit ich das Kantenlicht genauer platzieren kann [+1] und so weiter. Die Möglichkeiten sind beinahe unbegrenzt, und ich muss mich irgendwie entscheiden.

Auch außerhalb der Porträtfotografie fallen mir einige Beispiele ein, wie ich mit der [+1]-Methode meine Ausrüstung besser an meine Bedürfnisse anpassen könnte:

 •Möchte ich zum Beispiel nachts die Milchstraße fotografieren, könnte ein stabileres Stativ oder ein dafür konzipierter Stativkopf meine Arbeit erleichtern.

 •Ein Sportfotograf würde von einer längeren Brennweite, einem schnelleren Autofokus und einer höheren Serienbildrate profitieren.

 •Für bessere Nahaufnahmen könnten mir Zwischenringe und ein Ringlicht ungeahnte Einblicke in die Makro-Welt erschließen.

 •Als Reisefotograf könnte ich beweglicher und spontaner auf eine Situation reagieren, wenn ich eine kleinere und leichtere Ausrüstung besäße.

So weit, so gut. Nur führt eine bessere Ausrüstung nicht automatisch zu besseren Bildern. Viel stärker hängt das Ergebnis davon ab, wie gut ich mit der Ausrüstung umgehen kann. Deshalb stelle ich mir dieselben Fragen auch in Bezug auf meine handwerklichen fotografischen Fähigkeiten.

1 1.Wie zufrieden bist du aktuell mit deinen fotografischen Fertigkeiten? Bitte stufe deine Zufriedenheit auf einer Skala zwischen 1 und 10 ein, wobei 10 den höchsten Wert darstellt. Nennen wir diesen Wert Y.

2 2.Was würdest du gerne besser können und was möchtest du lernen, um auf einen Wert von Y+1 zu kommen?

Schauen wir uns das wieder anhand mehrerer Beispiele an:

 •Ich könnte zum Schluss kommen, dass ich mit meinen Porträts eine Zufriedenheit von 2 habe und es eine 3 wäre, wenn die Gesichter besser ausgeleuchtet wären. Also schaue ich mich nach einem Buch oder einem Kurs um, das oder der sich mit der Lichtsetzung in der Porträtfotografie beschäftigt, um mich fit zu machen im Umgang mit weichem Licht.

 •Vielleicht ist ein Teil meiner Fotos unscharf. Ich habe eine Zufriedenheit von 1 und erreiche die 2, indem ich mich mit dem Autofokus-System meiner Kamera besser auseinandersetze, den Fokuspunkt manuell wähle und die Scharfstellung auf den Back-Button-Fokus umstelle.

 •Ich könnte auch mit meiner Selbsteinschätzung bei einer 5 landen und das Ziel verfolgen, mich durch ein perfektes Posing meines Models auf eine 6 zu steigern. Oder ich erreiche dies, indem ich einen Make-up-Workshop besuche und mein Model entsprechend besser vorbereiten und stylen kann.

 •Oder ich denke, meine Zufriedenheit liegt bei 3 und wäre bei einer 4, wenn die Fotos besser bearbeitet wären. Dann kann ich mich schlau machen, welche Techniken bei RAW-Entwicklung, Retusche und Bildbearbeitung eingesetzt werden.

Diese mentale Übung lässt sich auf jede beliebige Situation anwenden, in der wir etwas lernen und uns weiterentwickeln möchten. Wie ich an mir selbst und an meinen Workshop-Teilnehmern beobachten konnte, bewirkt sie mindestens drei Dinge:

1 1.Ich beginne, mich selbst zu reflektieren und im Hinblick auf mein Ziel zu verorten.

2 2.Ich mache mir bewusst, was genau ich brauche, um dorthin zu kommen.

3 3.Sie hilft mir, mich auf den entscheidenden nächsten Schritt zu fokussieren, anstatt mich im Meer der Möglichkeiten zu verlieren.

Wir könnten das auch so beschreiben: Diese Übung macht uns selbst zum Lehrmeister unserer fotografischen Entwicklung. Was wir daran auch erkennen können: Es ist vollkommen unwichtig, ob ich am Anfang meines Weges stehe oder kurz davor bin, mein Ziel zu erreichen – falls es so etwas überhaupt gibt. Wichtig ist allein, welches der nächste Schritt ist – und die Herausforderung, die es hier und jetzt zu meistern gilt.

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