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Das Polizeigebäude war innen um Welten größer, als es der graue Steinziegelklotz von außen hätte vermuten lassen. Genaugenommen schienen die Relationen auf absurde Art und Weise nicht einmal im Mindesten zu stimmen. Esther erklärte Robert, dass hier zusätzlich zur normalen Streifenpolizei, die aber nur dann auf Streife ging, wenn es die Umstände erforderten, auch die meisten polizeilichen Sonderabteilungen untergebracht waren. Eine davon war das bis dato mit insgesamt nur neun Leuten besetzte Dezernat für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte. Die Polizei unterstand so wie alle Verwaltungs- und Exekutiveinheiten dem MFS, also dem Ministerium für Stadtinneres, das im Wesentlichen mit einer Art Stadtregierung beziehungsweise Stadtverwaltung gleichzusetzen war. Das MFS bestand aus zwölf vom Bürgermeister berufenen Mitgliedern, die einerseits für die ihnen zugeordneten und so weit wie möglich autonom agierenden Verwaltungs- und Exekutiveinheiten verantwortlich waren. Andererseits verbrachten sie erstaunlich viel Zeit damit, ihre eigene Korruption voran zu treiben, sich persönlich zu bereichern sowie als Marionetten des Bürgermeisters zu fungieren. Der Bürgermeister hatte den undemokratischen Vorsitz des Ministeriums über, wurde alle zehn Jahre durch Direktwahlen bestimmt und trug den Amtstitel "Grazer Leibhaftiger". Bürgermeister wurden im Regelfall einflussreiche und machtbesessene tote Männer, die es schafften, genug Einwohner dazu zu nötigen, ihnen ihre Stimme zu schenken. Die Annahme des Amtes ging mit der Annahme quasi-diktatorischer Macht einher, welche die unterschiedlichsten ideologischen Ausprägungen zu Tage brachte. Außerdem konnte aus dem zehnjährigen Wahlintervall schon mal ein zwanzigjähriges, oder bloß ein zehnmonatiges werden. Der sechsundsiebzigste amtierende Grazer Allmächtige konnte als relativ moderat bezeichnet werden, was letztendlich nichts anderes bedeutete, als dass er keiner besonderen politischen Ideologie anhing. Auch wenn er als christlich-konservativ bezeichnet werden konnte, handelte er zumeist im eigenen Interesse, ohne dabei die Bedürfnisse der Bevölkerung vollkommen außer Acht zu lassen. Im Parterre des Polizeigebäudes, wo Robert und Esther nun standen, befanden sich neben einem Foyer, einem Informationsschalter und einer durch eine Glaswand abgetrennte Betriebskantine, noch zwei normale Liftanlagen und ein Paternoster. Esther winkte kurz dem dicken Beamten zu, der hinter dem Schalter saß und gerade durch den Genuss eines unglaublich kalorienreich aussehenden Sandwichs abgelenkt war. Sie steuerte, ohne lang zu überlegen auf den türlosen, umlaufbetriebenen Aufzug zu und wartete darauf, dass Robert ihr nachfolgte. >>Wir nehmen den hier, weil gleich einmal Schichtwechsel ansteht. Der normale Aufzug braucht um diese Uhrzeit zehnmal solange, weil viele Cops ein bisschen Arbeitszeit schinden, indem sie jede Etage ansteuern.<<

Während Polizeipräsident Ignaz Rosegger seine Büroräumlichkeiten über den neunten und zehnten Stock ausdehnen konnte, mussten Robert und Esther in den achten, den sich das Dezernat für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte mit dem Dezernat für unautorisierte Bandenkriminalität teilte. Jener Bereich des achten Stockwerkes, der dem ersteren Dezernat zur Verfügung stand, war im Prinzip nichts anderes als ein typisches Großraumbüro, dessen Arbeitsplätze durch ein paar recht neu aussehende Raumteiler, welche vermutlich von IKEA stammten, zumindest einen Hauch von beruflicher Privatsphäre verliehen bekamen. Von den sieben Tischen war nur einer besetzt und zwar von einem Kollegen namens Rex Moser. Die anderen sechs Beamten waren zurzeit im Krankenstand oder befanden sich gerade im Fahrstuhl. Esther stellte die beiden einander vor.

>>Sie sind wohl der frische Kollege. Freut mich, der letzte Neuzugang starb schon 1998. Soll ich euch zwei Hübschen einen Kaffee machen?<<

Der junge Mann mit der dunkelhaarigen Föhnfrisur hatte das Bild eines Schäferhundes auf dem Tische stehen und sprach mit Tiroler Akzent, der aber zwecks der besseren Lesbarkeit eingedeutscht wurde. Sein Namensschild auf dem Schreibtisch wies den Rang eines Gruppeninspektors aus, der um einen Grad niedriger war als jener von Esther.

>>Ich bin weder frisch, noch hübsch, noch ein Kollege. In meiner Jugend habe ich auf Leute wie euch faule Eier und Tomaten geworfen...<<

Esther unterbrach ihn, bevor sich Robert angesichts seiner prophezeiten Karriereaussicht in Rage reden konnte. Die friedfertig machende Wirkung des Marihuanas war bereits in der Straßenbahn verflogen und Robert entwickelte inzwischen unterbewusst ein wenig Zorn darüber, dass er wohl wirklich tot war.

>>Danke Rex, aber wir müssen zum Dicken. Ich nehme mal an, er sitzt in seinem Büro?<<

Als Rex dies mit einem Nicken bestätigte, zog Esther den sauer dreinblickenden Robert kurz an der Lederjacke und setze sich dann in Richtung des hinteren Raumendes in Bewegung. Dort stand ein türgroßes Bücherregal, welches mit Abenteuer- und Kriminalromanen bestückt war. Esther griff zielsicher nach einer gebunden Ausgabe des Paten und kippte sie nach vorne. Ein von rostigen Zahnrädern verursachtes Quietschen machte sich breit. Das Regal schob sich wie von Geisterhand zwei Meter nach rechts und machte so den Weg zu einem weiteren Raum frei, welcher wohl als Sekretariat diente.

>>Der Vorgänger des Dicken war ein Fan von solchen Sachen. Irgendwann begann er sich für Professor Moriarty zu halten und musste wegen beruflicher Unvereinbarkeit letztendlich abgesetzt werden. Sein Nachfolger wurde der jetzige Chefinspektor.<<

Im Sekretariat befand sich eine samtlederne Couch, ein kleiner Küchenblock, eine weitere Tür und ein verwaister Schreibtisch, dessen Besitzerin gerade vor jüngst erwähntem Küchenblock stand und Kaffee kochte.

>>Das ist Fräulein Groschengeld, aber sie hat wegen dem Türgequietsche immer Ohrenstöpsel drin und kann uns nicht hören<<, sagte Esther und deutete auf den Rücken der bieder gekleideten Frau. >>Lass uns gleich weiter spazieren, sie erschrickt immer so schön, wenn im Büro des Dicken plötzlich mehr Leute als erwartet drinsitzen.<<

Esther ging voraus und riss besagte weitere Tür auf, neben der ein Schild mit der Aufschrift "Chefinspektor Ferdinand von Krafft-Ebing, Dezernatsleiter" befestigt war. Das Erste, was ihr entgegen kam, war eine dicke Zigarrenqualmwolke und eine verrauchte, wütende Stimme, die sich darüber beschwerte, dass sie nie anklopfen konnte. Robert folgte ihr nach und fand sich einem Mann gegenüber stehend wieder, bei dem er unweigerlich an übergewichtige Wikinger und "Apocalypse Now" denken musste.

Krafft-Ebing erhob sich hinter seinem Schreibtisch, um Robert die Hand zu schütteln und dann auf die zwei freien Stühle zu deuten, die noch im Raum standen.

>>Bitte setzen Sie sich Herr Ziegenstätter. Und du kannst auch gleich bleiben, Braun.<<

Krafft-Ebing griff nach seiner Zigarre, die vor ihm im Aschenbecher lag, zog seine Hand aber wieder zurück und konzentrierte sich auf das, was er zu sagen hatte. Sogar seine Gesten erinnerten an Colonel Kurtz. Er betätige die Gegensprechanlage, die ihn mit seinem Vorzimmer verband, und orderte über die dort befestigte Lautsprecherbox erst einmal zwei Tassen Kaffee zusätzlich an. Die Worte erklangen so laut, dass sie im ganzen Gebäude zu hören gewesen sein mussten. Robert und Esther hielten sich mit eingezogenen Köpfen die Ohren zu.

>>Fräulein Groschengeld trägt immer Ohrenstöpsel, sie hört mich sonst nicht<<, erklärte Krafft-Ebing.

Robert wartete bis die Rückkoppelung der Lautsprecheranlage verklungen war und sah Krafft-Ebing an.

>>Herr Ebing, warum zum Teufel, zum Leibhaftigen oder von mir aus auch zum entführten Lindberg-Baby bin ich eigentlich hier?<<

>>Weil Sie gestorben sind!<<

>>Nein, ich meinte...<<

>>Ich weiß schon, was Sie meinen Herr Ziegenstätter. Ich möchte dass Sie für mich arbeiten. Sie fangen mit dem Rang eines Bezirksinspektors an, weil Sie ja Akademiker sind, aber sagen Sie es nicht Rex Moser. Sogar Urlaubs- und Weihnachtskronen gibt es dank unserer sozialistischen Gewerkschaft. Sie sollten übrigens gleich beitreten.<<

Ein etwas verschrecktes Fräulein Groschengeld hatte inzwischen wortlos drei Tassen Kaffee gebracht. Krafft-Ebing erklärte Robert die Richtlinien des Rekrutierungsverfahren, unterschlug allerdings, dass ein bisschen nachgeholfen wurde. Auch sei das Jenseits zu einer kapitalistischen Zwangsherrschaft und Klassengesellschaft verkommen, welche die Aufnahme einer geregelten Arbeit unerlässlich mache. Es sei doch gerade aber auch Auftrag der Polizei, diesem neoliberalen Babylon etwas Recht und Ordnung zu vermitteln. Nach einer viertelstündigen Einführung in die gesammelten Werke von Karl Marx und einer kleinen Übersicht über das hiesige Wirtschaftssystem beendete Krafft-Ebing seinen Vortrag.

>>Na, wäre das etwas für Sie?<<

Robert überlegte und das noch nicht einmal äußert lange. Er war tot, brauchte hier - so wie jeder andere -Geld und hatte noch keinen Anspruch auf Arbeitslosenbezug. Selbst wenn die Alternative der Gang zum AMS gewesen wäre, bei seiner Schwarzfahrervergangenheit müsste er vermutlich von vornherein Straßenbahnen ziehen, anstatt sie zu fahren. Da er davon ausging, dass sozialwissenschaftliche Jobs wohl auch im Jenseits eher spärlich gesät waren und er mit Esther bereits jemanden gefunden hatte, der ihm ein wenig die neue Welt erklärte, willigte er schließlich ein.

>>Was soll's, ich bin dabei.<<

>>Wunderbar, dann fahren Sie morgen Vormittag fürs Erste einmal mit Esther ins transzentmographische Störungscenter. Wir haben möglicherweise seit letzter Woche ein echtes unautorisiertes Fluchtdelikt und viel mehr Leute wie euch beide haben dafür wir derzeit nicht zur Verfügung. Teilt, wenn nötig, auch Moser für Aufgaben ein! Ach ja, bevor ich es vergesse, meines Wissens haben wir in der Idlhofgasse noch freie Unterkünfte. Ihre Kollegin wird sich darum kümmern.<<

Robert musste mit Esther noch in das zweite Untergeschoss, in dem sich das polizeiliche Lager für allerlei befand. Der Schicht habende Beamte händigte ihm eine metallene Dienstmarke und den Schlüssel für eine Dienstwohnung aus. Um sämtliche andere Ausrüstungsgegenstände, die eventuell notwendig werden konnten, hatte er sich laut Kollektivvertrag offensichtlich selbst zu kümmern. Danach verließen sie das Gebäude, um mit der Straßenbahnlinie 666-5 nach Gries-Mitte in die Idlhofgasse zu fahren. Keine sieben Stunden zuvor hätte er ohne Probleme selbst dorthin gefunden, und wäre vor allem zu Fuß gegangen. Jetzt war er froh, dass Esther sich anbot, ihm den Weg zu zeigen.

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