Читать книгу Das Ende - Матс Страндберг - Страница 6

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In Göteborg ist es heute Nacht zu einem Aufruhr gekommen. Es begann mit einer spontanen Demonstration, bei der mehrere Tausend Menschen auf die Straße gingen, um gegen das System der Rationierung zu protestieren, nach dem gebürtige Schweden mehr bekommen sollen als »die anderen«. Auch die Ministerpräsidentin hat sich geäußert und erneut versucht uns daran zu erinnern, dass wir hier in Schweden noch Glück haben. Es ist Sommer, sodass genügend Obst und Gemüse vorhanden ist, und es gibt zudem so viel Schlachtvieh, dass das Fleisch für mehrere Jahre reichen würde. »Aber es ist trotzdem ungerecht«, meint eine Demonstrantin, die im Fernsehstudio sitzt. »Ich habe mein ganzes Leben lang Steuern gezahlt und müsste allein schon deshalb mehr kriegen als die anderen.« Damit meint sie alle Menschen, die nicht hier geboren sind. Am liebsten würde ich ihr zurufen, dass unsere Gesellschaft nur dank »der anderen« noch so gut funktioniert. Diese Leute stellen nämlich den Großteil all jener, die noch freiwillig arbeiten, obwohl keine Löhne mehr bezahlt werden. Sie sind diejenigen, die die Menschen in den Zügen und die Lebensmittel in den Lkws befördern und die dafür sorgen, dass wir frisches Wasser aus dem Wasserhahn und Strom aus den Leitungen haben. Und zwar nicht, weil sie Heilige wären, sondern weil ihre Angehörigen nicht in Schweden leben. Zum Glück versuchen sie, ihrem Leben noch einen Sinn zu geben, anstatt allein zu Hause herumzusitzen und auf das Ende zu warten.

Wenn du dir unseren Planeten angeschaut hättest, wie er jetzt aussieht, hättest du keine voneinander abgegrenzten Länder erkennen können. Die Grenzen sind nie real gewesen, sondern existieren nur auf den Landkarten als von Menschen eingezeichnete Linien. Doch manche haben ihr Selbstverständnis von der Tatsache abgeleitet, auf welcher Seite der Linie sie gelandet sind. Eigentlich hatte ich angenommen, dass dies jetzt nicht mehr so wichtig wäre. Doch für viele wurde es umso wichtiger und die schreien es am lautesten heraus. (Dazu sind sie noch Idioten. Was oftmals miteinander einhergeht.)

Dies ist vielleicht eine gute Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass es auch ganz fantastische Menschen gibt. Bestimmt werde ich es immer mal wieder vergessen zu erwähnen. Aber ich sollte zumindest mich selbst öfter daran erinnern. Denn Katastrophen haben schon immer entweder unsere besten oder schlechtesten Eigenschaften zutage gefördert. Und die allermeisten Menschen versuchen einfach, ihr Leben so gut wie möglich zu leben.

Was ist also aus meinem Leben geworden, seit ich das letzte Mal von mir hören ließ? Was habe ich getan, um mich als Mensch weiterzuentwickeln, und was, um anderen zu helfen? Eigentlich habe ich fast nur geschlafen und mir auf dem Handy Fotos von alten Freunden angeschaut.

Heute Nacht haben sie in der Schwimmhalle gefeiert. Sie wirken mit ihren verschwitzten, sonnengebräunten Gesichtern alle so viel jünger, als ich mich fühle, und ihre Augen leuchten regelrecht. Auf der Wasseroberfläche schwimmen überall Plastikflaschen und Zigarettenkippen herum. Leute, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie rauchen würden, posieren plötzlich mit Glimmstängeln im Mundwinkel. Aber warum auch nicht? Schließlich besteht keine Gefahr mehr, dass sie noch an Krebs sterben könnten.

Tilda ist auf fast allen Fotos zu sehen. Sie hat noch immer dieselben breiten Schultern und kräftigen Arme. Ihre Rückenmuskeln zeichnen sich deutlich ab. Ich kann kaum glauben, dass mein Körper einmal genauso durchtrainiert war wie ihrer. Ansonsten hat sie sich ziemlich verändert. Die Tilda, die ich kannte, hätte kaum je Alkohol getrunken und definitiv keine Zigaretten geraucht. Wir sind auch nie auf Partys gegangen, weil wir selbst an den Wochenenden früh aufstehen und zum Schwimmtraining mussten. Mein Vater hat mir erzählt, dass sich ihre Eltern im vergangenen Sommer getrennt haben. Mich hat es nicht weiter gewundert, weil sie schon lange Probleme hatten, aber ich weiß nicht, wie es für Tilda ist. Außer was auf den Fotos zu sehen ist, weiß ich eigentlich gar nichts mehr über ihr Leben.

Sie war meine beste Freundin. Meine wichtigsten Erinnerungen haben alle mit ihr zu tun und ich kann nicht erklären, wer ich bin, ohne von Tilda zu erzählen.

Wir haben uns so oft in diesem Becken aufgehalten, dass ich jeden einzelnen kleinen Riss im Fliesenboden und jedes Astloch oben an der Holzdecke beschreiben kann. Ich weiß noch genau, wie das Chlor mir in den Augen brannte, meine Haut aufweichte und unsere Badeanzüge ausleierte. Es fraß sich in alles hinein. Wir absolvierten sieben, acht oder gar neun Trainingseinheiten pro Woche plus mindestens einen Wettkampf. Oft hatte ich es als stinklangweilig und monoton empfunden. Und es zugleich geliebt. Ich lebte für die kleinen Momente der Euphorie. Wie den Adrenalinkick kurz vorm Start eines Wettkampfes oder die wenigen Augenblicke im Training, in denen die Bewegungen des Körpers perfekt mit der Atmung harmonierten. Ich fühlte mich im Wasser wohler als an Land. Eingehüllt. Leicht. Frei. Es war geradezu magisch.

Die Schwimmhalle war unser gemeinsamer Lieblingsort. Ohne sie hätte ich nie angefangen zu schwimmen oder gar ein Sportgymnasium besucht. Sie war es auch, die mich besser machte. Unser Trainer Tommy hatte immer gesagt, dass wir beim Schwimmen ausschließlich gegen uns selbst antreten, aber ich schwamm gegen Tilda. Dass ich nie annähernd so gut wurde wie sie, hatte mir nichts ausgemacht. Niemand konnte ihr das Wasser reichen, aber Elin, Amanda und ich kämpften um einen würdigen zweiten Platz. Tilda besaß das, was Tommy »ein Sieger-Gen« nannte. Sie verfolgte einen Plan; erst zu den schwedischen Jugendmeisterschaften, dann in die Nationalmannschaft und schließlich zu den Olympischen Spielen. Ihr Plan war nicht gerade realistisch und die Chancen ziemlich gering. Und die Aussicht auf genügend Sponsorenverträge, um davon leben zu können, noch kleiner. Dennoch habe ich nie daran gezweifelt, dass sie es schaffen würde.

Aber warum erzähle ich dir das alles? Weißt du überhaupt, was ein Wettkampf ist? Eine Schwimmhalle? Ich nehme an, dass du zumindest Wasser kennst.

Von meinem Fenster aus kann ich das Dach von Tildas Haus sehen. Als wir klein waren und uns zum Spielen verabredet hatten, nahmen wir immer die Abkürzung durch die Gärten.

Zuletzt habe ich sie vor einer Woche gesehen. Ich hatte frühmorgens beschlossen, zum ersten Mal seit Langem wieder in die Innenstadt zu gehen. Ich dachte, dass um diese Uhrzeit kein Risiko bestünde, irgendjemandem zu begegnen, doch als ich mich dem Marktplatz näherte, hörte ich auf einmal laute Bässe und Gegröle. Eine Gruppe torkelnder Mädels bog Arm in Arm um die Ecke. Sie johlten zu einem alten Song aus ihrem Smartphone mit, der plötzlich wieder zum Hit geworden war, Save The World. Dann entdeckte ich Tilda, die gerade mit einem Typen, den ich noch nie gesehen hatte, an einem offenen Fenster herumknutschte. Ihr Haar, um das ich sie schon beneidet hatte, als ich selbst noch welches hatte, schimmerte in der Morgensonne fast rötlich. Sie war perfekt geschminkt und ich fragte mich, wo sie es gelernt hatte. Wir hatten uns fast nie geschminkt.

Auch Elin und Amanda waren dort. Ich zog mich rasch zurück, bevor mich jemand von ihnen entdecken konnte.

Seitdem bin ich nicht mehr in der Stadt gewesen.

Was bedeutet es eigentlich für dich, wenn man siebzehn ist? Ist das jung oder eher alt? Kannst du dir vorstellen, wie es ist, noch jung zu sein, aber sich schon alt zu fühlen? Also ich meine, verbraucht? Verstehst du, was ich meine, wenn ich sage, dass ich jetzt schon so lange zurückgezogen lebe, dass ich keine Ahnung mehr habe, wie ich es anstellen soll, mich wieder zu zeigen?

Das Ende

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