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8.

Kiew hatte sich sehr verändert. Im Zentrum war das am besten zu sehen. Überall Werbeplakate mit westlichen Produkten, die an den russischen Mann oder Frau gebracht werden sollten. Die heruntergekommenen Fassaden wurden gut damit verdeckt.

Kleine Läden mit freundlichen Schaufenstern boten ihre Waren an. Es waren erste, behutsame Versuche etwas Neues zu schaffen, weg von der öden Versorgungswirtschaft. Hier und da gab es einige modern gestaltete Lokalitäten und bei schönem Wetter saßen Besucher vor den Cafés.

Nikolai Volkov saß in seinem modernen Büro hinter dem Schreibtisch und sah mit großem Interesse auf eine gegenüber liegende Baustelle. Das ehemalige ´Haus der Gewerkschaft´ wurde gerade eingerüstet, um es gründlich zu sanieren. Er hatte als Parteivorsitzender lange Jahre dort zugebracht. Das war vorbei. Nun musste er sich nach einem anderen Verdienst umsehen. Zum Glück hatte er gute, langjährige Beziehungen gepflegt, man half sich, so gut man konnte.

Alle Funktionsträger der ehemaligen Sowjetunion, sei es der Geheimdienst, Militär, Außenhandel oder diploma-tisches Korps, alle gehörten zur Nomenklatura. Alle sorgten dafür, dass es ihnen auch in Zukunft gut ging.

Nikolai Volkov lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, sah sich in seinem Büro um, faltete die Hände über seinen Bauch und schloß die Augen. Wie schön, er hatte es geschafft! Das Telefon klingelte, Volkov schreckte hoch. Er war wohl eingeschlafen. Leicht benommen nahm er das Gespräch an. Es war seine Frau Galina, sein Täubchen.

„Schatz, was hast du auf dem Herzen?“, fragte er und strich sich über sein graues, schütteres Haar.

„Nikolai, du denkst doch daran, dass dein Augenstern heute Abend zum Essen kommen will?“

„Ach, dass hätte ich doch glatt vergessen, natürlich Galina, natürlich“, säuselte er in den Apparat und legte auf. An seine Tochter Olga hatte er am heutigen Abend nicht mehr gedacht. Natürlich, Olga, sein Mädchen, sie studierte in Moskau Medizin und kam, so oft es ging, nach Hause. Er ließ sich von seiner Sekretärin die Termine für den morgigen Tag geben. Als sie ging, schaute er ihr lüstern hinterher. Was für ein Fahrgestell, was ein strammer Arsch, dachte er. Es gab keinen Grund, länger im Büro zu bleiben und er fuhr im Fahrstuhl zur Tiefgarage zu seinem Wagen. Er leistete sich einen schwarzen Mercedes S Klasse. Im Innern roch es nach Leder und dem typischen Geruch eines Neufahrzeugs. Ihm machte es Freude mit einem Wagen der Luxusklasse zu fahren. Ein leises Summen begleitete das automatische Getriebe und den Sechszylinder Motor. Schade, es waren die schlechten Straßen, die den Fahrspass trübten, Volkov wohnte weit draußen vor der Stadt.

Die Stadt als Industriestandort litt unter der permanenten Verschlechterung der Lebensqualität. Die Betriebe für Kohle und Stahl waren veraltet, die Produktion zu aufwendig und zu teuer. Rationalität und Wirtschaftlichkeit waren Fremdwörter.

Nikolai wusste das alles. Er wusste auch, dass er die Werktätigen belogen hatte. Über Jahre das Geschwätz von der großen Zukunft aller Menschen in der glorreichen Sowjetunion. Und nun der Zusammenbruch des maroden Systems. Aber das hatte er ja nicht zu verantworten. Er war davon überzeugt, dass die Fehler im System zu suchen waren.

Es hatte angefangen zu regnen und Volkov hatte große Mühe, den schweren Wagen um die wassergefüllten Schlaglöcher zu bugsieren. Es war hässlich und der graue Himmel tat ein Übriges.

Volkov war zuhause. Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich auf Knopfdruck, das konnte er vom Auto aus bedienen. Sein Anwesen war mit einem massiven Zaun mit Sichtschutz vor neugierigen Blicken geschützt. Für die Außen- und Gartenanlagen hatte er Personal angestellt. Auch für die Arbeiten im Haus gab es genügend Hilfe. Zusätzlich waren an vermeintlichen Schwachstellen Kameras angebracht. Das Wohnhaus hatte stattliche dreihundert Quadratmeter. Eine Vorhalle mit geschliffenem Marmorboden gab dem Raum eine besonders vornehme Note. In den Ecken standen große Vasen mit russischen Motiven. Beiderseitige Treppen führten in die obere Etage, wo sich das eigentliche Familienleben abspielte. Die Küche und andere Hauswirtschaftsräume befanden sich unten.

Volkovs Frau, eine dickliche Person mit einer grossen schweren Brust, erwartete ihren Mann, der in seiner Leibesfülle, völlig außer Atem, am Ende der Treppe seine Galina in die Arme schloss. Er war kleiner als sie, was zur Folge hatte, dass er in ihren fleischigen Armen, zwischen den üppigen Brüsten, förmlich verschwand.

„Galina, mein Täubchen, was haben wir für schlechtes Wetter“, sagte Volkov und löste sich von ihr.

„Was sagtes du, wann kommt Olga?“

„Sie hat noch mal angerufen, wegen des schlechten Wetters könnte es später werden, bis sie hier ist.“

„Sie will mit dem Auto kommen?“, fragte Volkov und sah besorgt aus dem Panoramafenster.

„Ja, sie ist mit dem Wagen unterwegs.“

Der anfängliche Regen hatte sich zu einem Unwetter entwickelt. Der Hausherr hatte sich einen bunten Hausmantel angezogen und setzte sich ins Esszimmer. Der Raum hatte dezentes Licht, über dem Esstisch sorgte eine kristallene Deckenlampe für zusätzliches, warmes Licht. Ein Fahrstuhl brachte das Essen, eine ältere Frau servierte eingeübt und ruhig die Speisen. Während der Mahlzeit wurde kaum gesprochen und danach machten sie es sich im Wohnzimmer gemütlich.

„Ehe ich das vergesse Nikolai, Grigori Moskwin hat angerufen, er kommt morgen um neun Uhr in dein Büro.“

„Gut, dass du mir das sagst, es ist sehr wichtig für mich“, sagte er und zündete sich eine Zigarre an. Galina war von dem Qualm und dem Geruch nicht angetan. Sein grosskotziges Getue ging ihr total auf die Nerven.

Sie kam aus bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater war Schlosser gewesen und im Krieg gefallen. Mit ihrer Mutter überlebte sie den Krieg in Leningrad. Die deutsche Belagerung hatte sie als schreckliche Zeit in Erinnerung. Hunger und Kälte vernichtete die Menschen und nicht selten kam es zu Kannibalismus. Sie kannte den Wert einer warmen Kammer und eines Kanten Brotes. Kurz nach der Befreiung war die Mutter an Typhus gestorben. Ihren Mann lernte sie in der Jugendbewegung des Komsomols kennen. Er war als kleiner Funktionär für die ideologische Unterweisung zuständig. Später wurde er zum Studium des Marxismus-Leninismus nach Moskau beordert. Sie sahen sich selten, doch ihre Beziehung hatte trotz vieler Widrigkeiten Bestand. Ihre Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin machte ihr viel Spass. Nach seinem Studium heirateten beide in Leningrad. Die Tochter wurde geboren und endlich bekamen sie eine kleine bescheidene Wohnung zugewiesen.

Nikolai fand an seiner Arbeit als Dozent, an der Hochschule für politische Wissenschaften, keinen Gefallen. Durch ein Inserat in der Leningrader Prawda, wurde er auf die Eisenbahnverwaltung aufmerksam. Die suchten eine Fachkraft mit politischem Studium für den Großraum Kursk. Eine Dienstwohnung wurde gestellt.

Galina wurde erst gar nicht gefragt, ob sie Leningrad verlassen würde. Nach den Zerstörungen war nach und nach alles wieder aufgebaut worden. Jetzt hieß die Stadt Sankt Petersburg, war reich an russischer Kultur und Geschichte und nicht zu vergleichen mit Kursk, einer Industriestadt. Wie Generationen von Frauen vor ihr, hatte Galina Volkov zu gehorchen. Die Revolution hatte das nicht zu ändern vermocht.

Im Haus wurde es unruhig, man hörte Stimmen und Olga, die Tochter, stand im Wohnzimmer. Sie ließ sich von den Eltern umarmen, um sich sogleich in einen Sessel fallen zu lassen. Sie war schlank und trug eng anliegende Kleidung. Ihre langen Beine steckten in geschmeidigen Stiefeln, was ihr eine zusätzliche Strenge verlieh. Ihr dunkles, kurzgelocktes Haar und ihr offener Gesichtsausdruck vermittelte ein symphatisches Wesen.

„Mein Gott, was für ein Wetter. Die Straßen sind teilweise überschwemmt und es ist stockdunkel. Dabei sind unsere Straßen im miserabelsten Zustand. Eine Schande für unser Land. Wann wird endlich mal etwas gemacht?“

Nikolai Volkov paffte an seiner Zigarre und meinte belustigt: „Es wird schon, es wird schon, braucht alles seine Zeit. Warte es ab, mein Täubchen.“

„Nikolai Volkov“, unterbrach ihn seine Tochter, wenn sie ärgerlich war, nannte sie ihn bei vollem Namen, „ihr habt seit sieben Jahrzehnten Allen das Blaue vom Himmel versprochen und die Sowjetunion voll vor die Wand gefahren.“

„Olga, meine Liebe, hast du etwas auszustehen? Geht es dir schlecht? Ich glaube nicht.“

„Kinder, Kinder, es ist gut, lasst uns von anderen Dingen reden“, meldete sich die Mutter.

Immer wenn Olga nach Hause kam, gab es diese Auseinandersetzungen. Volkov liebte seine Tochter über alles und diese Meinungsverschiedenheiten gehörten einfach dazu. Die Mutter gab der Tochter in vielen Dingen Recht, aber nützte nichts, nur zu lamentieren. Es gab viele Ursachen für den Zusammenbruch, dass wusste auch eine einfache Frau wie Galina Volkov. Der Vater wollte ein anderes Thema und sagte: „Olga, ich möchte dir einen sportlichen Kleinwagen kaufen, ich denke da an ein deutsches Modell, was meinst du?“

Er beobachtete den Qualm seiner Zigarre, der sich langsam an der Zimmerdecke verteilte.

„Papa, du weißt ganz genau, dass ich meinen Lada behalten will. Er ist robust und zuverlässig und hat mich all die Jahre nie im Stich gelassen. Bei diesen schlechten Straßen ist er genau richtig. Gerade bei diesem Wetter habe ich einige Wagen gesehen, die am Straßenrand liegen geblieben sind, auch Autos aus dem Westen.“

Olga stand auf, um sich im Zimmer umzusehen. Inzwischen hatte die Hausdame Kaffee gebracht. Olga war neugierig. Oft fand sie teure Objekte, die ihr Vater kaufte, um seine Freunde und Saufkumpanen mit seinem Reichtum zu beeindrucken. Es waren kostspielige Extras, gekauft in Antiquitätenläden. Eine Wand, in ihrer ganzen Breite, war mit einer Glasvitrine bestückt, gefüllt mit Porzellanfiguren in prächtigen Gewändern. Exotische Tiere aller Art, eine einzige farbenprächtige Komposition. An einer anderen Wand historische Bilder russischer Maler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, vorwiegend Landschaftsmotive. Auf zierlichen Holztischen standen chinesische Vasen, verziert mit Ornamenten in Gold und Silber. In dem Raum fehlte der Platz für diese herrlichen Dinge. Sie kamen, trotz ihrer Schönheit, nicht zur Geltung. Olga war von der Sammelwut des Vaters nicht erfreut. Diese protzige Maßlosigkeit war nicht ihr Ding. Sie wusste noch genau, wie die Dienstwohnung in Kursk aussah. Für russische Verhältnisse eine große Wohnung, mit einem kleinen Büroraum. Sie war mit Möbeln aus den Fünfzigerjahren möbliert. An den Wänden billige Kopien des sowjetischen Realismus aus der Stalinzeit. Alle waren froh, so großzügig wohnen zu dürfen.

Der Regen hatte nachgelassen, es klarte auf. Durch das Fenster der Villa sah man weitere Wohnobjekte, weit größer, von Mauern umgeben, die keinen Blick ins Innere ermöglichten. Bewaffnete Männer mit Hunden bewachten die Reichen und Superreichen. Olga war nicht gekommen um mit ihrem Vater zu streiten und so wurde es doch noch ein gemütlicher Fernsehabend.

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