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1.3.3 Die Wirkung von evidence-basierter Pflege auf den Prozess der Professionalisierung

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EBN und Erfahrungswissen

Vor einigen Jahren wurde noch bezweifelt, ob Pflege eine Profession sei oder werden könne. Inzwischen hat sich allgemein der Gedanke durchgesetzt, dass Pflege eine Semiprofession ist. Mit dem Zuwachs an wissenschaftlichem Wissen, der vermehrten Akademisierung der Pflege, der Entwicklung einer wissenschaftlichen Infrastruktur und veränderten gesetzlichen Vorgaben kommt es zu einer Erweiterung der pflegerischen Aufgaben (Friesacher 2008). In der Folge gewinnt die Professionalisierung an Dynamik. Wesentlich ist, dass dieser Prozess sich in der verbesserten Versorgung und Betreuung von Pflegeempfänger*innen und damit in allen Handlungsfeldern von Pflegenden niederschlägt (ebd.). Mit der EBN-Methode ist primär die Wissenschaftsbasierung pflegerischen Handelns verbunden (ebd.). Diese ist zugleich die Legitimation pflegerischen Handelns.

Insbesondere die Rahmenbedingungen von Pflege müssen hinterfragt und verbessert werden, um das EBN-Konzept auch im Sinne der Professionalisierung umzusetzen (Friesacher 2008). Denn ein ausschließlich technisches Umsetzen des EBN-Konzeptes in die Praxis reicht für eine Professionalisierung nicht aus. Zudem besteht die Gefahr, dass als Begründungslogik für eine Entscheidung primär das Wissen aus Forschungsarbeiten herangezogen wird. Wissenschaftliche Begründungslogiken sind als »Goldstandard« gesellschaftlich anerkannt. Im Vergleich dazu gilt das hermeneutische Fallverstehen als weniger anerkannte Wissensform, obwohl es sich aus Erfahrungswissen, Eigenverantwortung, kreativem und intuitivem Wissen sowie aus reflektiertem praktischem Wissen der Pflegenden entwickelt. Es ist aber ein nur wenig sichtbarer und zugleich nur schlecht messbarer Anteil von Pflege, der oftmals als nichtprofessionelle Wissensform abgewertet wird. So besteht die Gefahr, dass dieses Wissen, was gleichermaßen professionelles Handeln auszeichnet, in den Hintergrund gerät. Im Professionsdiskurs dominieren rational geprägte Wissensformen und andere (z. B. empirische) werden als »nichtprofessionalisierte« Wissensformen abgewertet (Friesacher 2008; Friesacher 2009).

Aber gerade in hochkomplexen Situationen – beispielsweise mit mehreren Aspekten von Pflegebedürftigkeit, mit mehreren Angehörigen und divergierenden Zielen der Betroffenen, mit Mehrdeutigkeiten und verschiedenen Handlungsoptionen – sind es gerade die hermeneutisch-interpretativen Sichtweisen, die im Vergleich zu scheinbar objektiven forschungsbasierten Wissensbeständen tragfähigere Lösungen ermöglichen. Denn je komplexer eine Situation ist, desto mehr Interventionen können zur Anwendung kommen und desto schwieriger scheint eine am Zweck ausgerichtete rationale Vorgehensweise. Im Gegenteil, dann ist eine hermeneutisch-interpretative Sichtweise für die hochkomplexen Pflegesituationen nötig. Zudem ist Erfahrungswissen nötig, wenn beispielsweise wissenschaftlich belegte Interventionen praktisch umgesetzt werden (Friesacher 2009).

Für die Durchsetzung von Strategien oder Konzepten im Gesundheitswesen ist Macht nötig (Friesacher 2009, S. 179). Pflege hat dazu ein zwiespältiges Verhältnis. Auf der einen Seite fehlt es ihr an Macht, um professionell begründete Interessen von Pflegebedürftigen gesellschaftlich durchzusetzen. Dies führt dazu, dass Pflege als »verhinderte Profession« bezeichnet werden kann (Friesacher 2009). Auf der anderen Seite verfügt die Berufsgruppe der Pflegenden aufgrund ihres personellen Anteils am Gesundheitssystem durchaus über eine gewisse Macht. Gerade für Pflegende liegt eine große Chance darin, den Wert ihres Berufs zu erhöhen, wenn sie als Meinungsbildner*innen im Gesundheitswesen den erweiterten Evidence-Begriff transportieren. Auf diese Weise können sie Leistungsträger wie Krankenkassen, Politiker*innen und andere Mitgestalter des Gesundheitssystems davon überzeugen, das Konzept der evidence-basierten Pflegepraxis mit dem erweiterten Begriff in ihre politischen und finanziellen Überlegungen und Handlungen mit einzubeziehen (Gross 2004).

Der traditionelle Ansatz, Forschungsergebnisse in praktisches Handeln zu überführen, indem wissenschaftliche Ergebnisse identifiziert, zusammengefasst, bewertet und zielgruppenspezifisch aufbereitet werden, reicht in der Regel nicht aus, um tatsächlich professionelles Handeln dauerhaft zu ändern (Voigt-Radloff & Lang 2015, S. 466). Wenn neue Behandlungsansätze (z. B. die Umsetzung von Leitlinien) implementiert werden müssen, dann erfordert dies nicht nur eine veränderte Handlungsweise eines einzelnen Professionsangehörigen, sondern auch eine Änderung von Versorgungsabläufen in ganzen Teams, Organisationseinheiten, Institutionen und mitunter eines gesamten Umfeldes (ebd.). Diese Änderungen bedürfen dann anderer Konzepte, z. B. aus der Implementationsforschung. Voigt-Radloff und Lang (ebd.) weisen in Anlehnung an Bernhardsson (et al. 2014) darauf hin, dass der Erfolg des Transfers von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis sich nicht nur an einem verbesserten professionellen Handeln messen lassen darf, sondern vielmehr zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Pflegeempfängern beitragen muss (Voigt-Radloff, Lang 2015, S. 466).

Behrens (2012, S. 87) versteht die Umsetzung des EBN-Konzeptes als eine Haltung. Evidence-basierte Pflegepraxis als Haltung zu verstehen, erfordert von den Pflegenden, für ihr Handeln und dessen Wirkung Verantwortung zu übernehmen (ebd.). Die Verantwortung muss primär gegenüber den individuellen Pflegebedürftigen übernommen werden, die sich als Individuen verstehen, ihren Willen fühlen, ihre Partizipationsmöglichkeiten auf ihre Weise nutzen wollen und an für sie biografisch ganz individuellen Lebensbereichen situiert sind (ebd.). Aus dieser Perspektive genügt es beispielsweise nicht, aus bester Absicht zu handeln, sondern professionelle Handlungen basieren sowohl auf einer selbstreflektierenden Haltung als auch auf einer individualisierten Pflege als Handlungswissenschaft (ebd.). Dieser Logik folgend, leistet insbesondere das EBN-Konzept mit dem erweiterten Evidence-Begriff einen grundlegenden Beitrag. Gerade die Erfahrungen der individuellen Pflegebedürftigen sind ebenso bestimmend für die pflegerische Handlungsweise wie das wissenschaftliche Wissen. Eine vernünftige und theoretisch wirksame Handlungsweise, die sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableitet, muss nicht zwangsläufig auch für den individuellen Pflegebedürftigen wirksam sein. Eine wirksame Pflege kann laut Behrens (2012, S. 88) nur aus der Begegnung mit dem Einzelfall unter Einbezug der wissenschaftlichen Erkenntnisse herausgearbeitet werden. Auch das aktuell verfügbare wissenschaftliche Wissen kann nicht die individuellen Ziele, Bedürfnisse oder Empfindungen eines Einzelfalls abbilden und somit auch nicht die Entscheidung vorgeben. Das bedeutet, dass eine evidence-basierte Handlungsweise unbedingt von den individuellen Bedürfnissen der Pflegeempfänger*innen her gedacht und herausgearbeitet werden muss (ebd.).

Pflegeempfänger*innen sind nicht nur Konsument*innen von pflegerischen Leistungen, sondern sie sind auch Mitwirkende (Behrens 2012, S. 88). Durch ihre Mitwirkung tragen sie selbst wesentlich zur Pflegeleistung bei, indem sie Entscheidungen über ihre Behandlung treffen (Behrens 2012, S. 88). Beispielsweise verfügen Menschen mit einer chronischen Erkrankung über umfangreiches Erfahrungswissen im Umgang mit ihrer Erkrankung; sie haben Präferenzen für ihr Leben entwickelt, kennen wirksame Maßnahmen und befinden sich während der Begegnung mit professionell Pflegenden in einer für sie besonderen Phase der Erkrankung. Diese Phase kann von einem frühen Krankheitsstadium bis zu einer terminalen Phase reichen. Dementsprechend ändern sich Erlebnisweisen, Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen nach Partizipation an der Versorgungsleistung. Auch die individuellen Zielsetzungen ändern sich. Die Bedürfnisse können zudem durch akute Ereignisse wie Schmerzen verändert werden. Erst in Gesprächen und unter Einbezug des hermeneutischen Fallverstehens treten die tatsächlichen Ziele und Bedürfnisse hervor (Behrens 2012, S. 87).

Der Deutsche Pflegerat e. V. (DPR) ist seit 1998 der Dachverband der bedeutendsten Berufsverbände des deutschen Pflege- und Hebammenwesens. Er hat 2004 eine Rahmen-Berufsordnung für professionell Pflegende herausgegeben und damit allgemeine Grundsätze und Verhaltensregeln für professionell Pflegende in der Ausübung ihres Berufes formuliert (DPR 2004). Darin sind Pflegende verpflichtet, ihr Wissen auf dem aktuellen Stand der pflege- und bezugswissenschaftlichen Erkenntnisse zu halten und dieses Wissen so einzusetzen, dass Patient*innen und Bewohner*innen eine ihren Zielen, Bedarfen und Bedürfnissen entsprechende Pflege erhalten (DPR 2004). Hieraus lässt sich die zwingende Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen ableiten. Das Konzept evidence-basierter Pflege knüpft genau hier an und kann theoretisch einen Beitrag zu einer wissenschaftsbasierten Handlungsweise in der Pflege leisten. Sie kann die Versorgung der Pflegeempfänger verbessern, kann helfen, den Wert des Berufs zu stärken, sich an fachlichen Diskussionen zu beteiligen und berufspolitische Entwicklungen mit zu beeinflussen (Huhn 2015, S. 21). Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Diskussionen über neue berufsgruppenübergreifende Behandlungsansätze überwiegend von ärztlicher Seite bestimmt, geführt und in der Konsequenz auch umgesetzt werden (Schlömer 2000, S. 48).

Internationale Studien zeigen, dass relevante Forschungsergebnisse nur von etwa 20 % der Pflegenden umgesetzt werden. Angesichts der noch jungen Disziplin der Pflege und damit einer relativ jungen Forschungstradition sollten die Erwartungen an eine ausreichend wissenschaftlich belegte Praxis nicht zu hoch gesteckt werden (Panfil & Wurster 2005, S. 36). Auch Ärzt*innen handeln ähnlich zurückhaltend gegenüber den Forschungsergebnissen. Selbst die Medizin arbeitet nach Expertenschätzung nur zu ca. 20 % auf der Grundlage evidence-basierten Wissens (Panfil & Wurster 2001). Der geringe Anteil der Nutzung aktueller Forschungsergebnisse ist als unzureichend zu bewerten, weil Pflegende beweisen müssen, dass ihre Arbeit einen nachweisbaren Nutzen insbesondere für die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Patient*innen/Bewohner*innen aufweist (Schlömer 2000, S. 48).

Zusammengefasst kann die Evidencebasierung der Pflege als derzeit richtiger Weg zur Professionalisierung bezeichnet werden, wenn die Rahmenbedingungen zur Konzeptumsetzung in den pflegerischen Handlungsfeldern gesellschaftskritisch in den Blick genommen werden (Friesacher 2009).

Evidence-basiertes Pflegehandeln

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