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1.1.2 Die historische Entwicklung der evidence-basierten Pflege

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EBN – eine Erfolgsgeschichte

Seit 1999 wird im deutschsprachigen Raum das Konzept von Evidence-based Practice (EbP) oder Evidence-based Nursing (EBN) beschrieben. Es gilt in der modernen Pflegepraxis als grundlegend und wird in der Wissenschaft vielschichtig diskutiert (Thiel et al. 2001, S. 268; Köpke et al. 2013, S. 163). Es ist damit ein relativ junges und zugleich sehr erfolgreiches Konzept, das sowohl inhaltlich als auch zeitlich und international eine beachtliche Entwicklung genommen hat (Gross 2004, S. 196; Panfil 2005, S. 457). Beispielsweise wurden bereits in den drei Jahren von 2000–2003 über 850 wissenschaftliche Artikel zu dem Thema Evidence-based Nursing im angelsächsischen Raum publiziert. Sie beinhalten primär eine Beschreibung des Konzepts und seines potenziellen Wertes für die klinische Praxis sowie die Strategien für eine Implementierung in die Praxis (Hallas & Melnyk 2003). Estabrooks (1998) spricht von »evidence-based movement«, die sich in der Pflege- und den Gesundheitsberufen generell zu einer Wachstumsbranche entwickelte.

Das Konzept der evidence-basierten Pflege beruht sowohl auf der Übernahme des Konzeptes Evidence-based Medicine des kanadischen Epidemiologen David Sackett als auch auf der Übernahme aus der englischsprachigen pflegewissenschaftlichen Literatur in die deutsche Pflegelandschaft. Dies wird nachstehend näher erläutert.

Bereits in den 1970er-Jahren wurden, ausgehend von der Wissenschaft, Initiativen zur Verbesserung der Patient*innenversorgung und zur Fokussierung auf Forschungsergebnisse für die pflegerische und ärztliche Praxis durchgeführt. Dies führte zu einer signifikant besseren Nutzung von Forschungsergebnissen in der Praxis. Im Lauf des nachfolgenden Jahrzehnts wurde die Sichtbarkeit und Finanzierung für pflegerische und ärztliche Ausbildung, Forschung und die Verbindung zu besseren Patient*innenergebnissen aufgezeigt sowie weiterentwickelt. Einen Meilenstein zur Entwicklung von Evidence-based Medicine lieferte der Epidemiologe Archie Cochrane von der Oxford University, indem er eine Hierarchie wissenschaftlichen Wissens aufstelle. Darin haben beispielsweise randomisierte kontrollierte Studien eine höhere wissenschaftliche Qualität als Einzelfallstudien. Er begründete zugleich die Cochrane-Bewegung (heute Cochrane Collaborative). Das übergeordnete Ziel bestand darin, den klinisch Tätigen eine bessere Entscheidungsfindung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse – u. a. zusammengefasst in wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten – zu ermöglichen (Zimmermann 2017). Cochrane vertrat die Ansicht, dass Gesundheitsleistungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Beweise, nicht anhand des klinischen Eindrucks bewertet werden sollten. Darüber hinaus argumentierte er, dass bestimmte Formen von Studien (z. B. randomisierte kontrollierte Studien) geeigneter seien als andere, um eine effektive Maßnahme wissenschaftlich zu begründen. Cochranes innovative Ideen, die Forschung zu bestimmten Themen zusammenzubringen, zu synthetisieren und für die klinische Praxis verfügbar zu machen, prägten maßgeblich die Entstehung von Evidence-based Medicine. In Cochrane Collaboration Centers arbeiten heutzutage weltweit Wissenschaftler*innen und Angehörige des Gesundheitsversorgungssystems an der Erstellung und Verbreitung aktuellen Wissens, vorzugsweise in systematischen Übersichtsarbeiten (Panfil & Wurster 2005).

Mitte der 1990er-Jahre entwickelte Sackett mit Kollegen an der McMaster University in der Faculty of Health Sciences in Hamilton, Kanada, unter Nutzung von Kenntnissen aus der Epidemiologie und Biostatistik sowie unter Einbezug der genannten systematischen Bewertung von Studien das Konzept von Evidence-based Medicine (EbM) (Panfil 2005, S. 457). Es wurde als praxisorientierte klinische Lernstrategie für Studierende konzipiert (Galgon 2006, S. 285). Als solches ist es ein pädagogisches Konzept, dessen Grundlage das lebenslange Lernen bildet. Sackett und Kolleg*innen ging es damals u. a. darum, aussagekräftige Therapievergleiche tätigen zu können, folgenschwere Trugschlüsse in der Patient*innenversorgung zu vermeiden und unabhängig von Meinungsbildner*innen und eingefahrenen Routinen den Patient*innen eine bestmögliche Behandlung anzubieten (Meyer et al. 2014, S. 196). Das Konzept überwand den damaligen Theorie-Praxis-Konflikt in der Medizin. Es führt die produzierten wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Anwendung dieses Wissens durch Ärzt*innen in der Versorgung von Patient*innen zusammen. Im Vordergrund steht das zentrale Ziel, die Versorgungsqualität zu verbessern (Gross 2004, S. 197).

Sackett und Kollegen beschreiben Evidence-based Medicine als Problemlösungsprozess in mehreren Schritten (Thiel et al. 2001, S. 268). Sie definieren:

»Evidence-based Medicine is the conscientious, explicit and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence-based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research« (Sackett et al. 1996, S. 71).

Kanadische und angelsächsische Pflegewissenschaftler*innen, vornehmlich von der McMaster University in Kanada und der University of York in England, erkannten das Potenzial des Konzepts und übertrugen die Inhalte von Evidence-based Medicine auf die Pflege und passten es an die Bedingungen der Pflege – beispielsweise mit dem Einbezug der Wünsche und Bedürfnisse von Patient*innen – an (Gross 2004, S. 197). 1997 wurde an der University of York das erste europäische Zentrum für Evidence-based Nursing gegründet und 1998 erschien im ersten Jahrgang das Journal »Evidence-based Nursing«. Im deutschsprachigen Raum haben Behrens und Langer sehr erfolgreich das Konzept von Evidence-based Nursing and Caring eingeführt. Dazu gehören sowohl wegweisende Buchpublikationen als auch 1998 die Gründung des German Center for Evidence-based Nursing »sapere aude« an der Universität Halle-Wittenberg (Panfil 2005, S. 458). Es war das erste Zentrum auf europäischem Festland, nachdem ausgehend vom Vereinigten Königreich bereits in Australien und den USA Netzwerke und Zentren gegründet worden waren (Behrens 2012, S. 87). Zentrale Aufgaben der nationalen Zentren sind die gezielte Förderung der Aus- und Weiterbildung von EBN-Nachwuchs, die Förderung eines professionellen Umfeldes für eine evidence-basierte Praxis in allen Handlungsfeldern und die Zusammenarbeit mit anderen Zentren in anderen Ländern sowie von anderen Disziplinen.

Auch der Publikations- und Weiterbildungsmarkt zu dem Konzept des Evidence-based Nursing and Caring hat stark an Dynamik gewonnen und das Konzept selbst wird im Rahmen des Theorie-Praxis-Transfers überwiegend positiv in den pflegewissenschaftlichen Publikationen bewertet (Panfil 2005, S. 463).

Evidence-based Practice

Die ursprüngliche Definition von Evidence-based Medicine wurde auch von zahlreichen anderen Gesundheitsprofessionen als das Konzept der Evidence-based Practice weiterentwickelt und für den originären Gegenstandsbereich der jeweiligen Disziplin adaptiert. Die Bezeichnung »Evidence-based« im Kontext von Medizin, Pflege, anderen Gesundheitsfachberufen oder dem Gesundheitssystem sowie der Entscheidungsfindung hielt erfolgreich Einzug in die jeweiligen Disziplinen. Insbesondere der allgemeine Begriff der evidence-basierten Praxis kann dahingehend als Querschnittbegriff verstanden werden, wonach die Praxis der jeweiligen Disziplinen in den Handlungswissenschaften auf validen wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Die konzeptionellen Grundlagen, das zentrale Ziel und die leitende Fragestellung sind dabei nahezu identisch. Letztere lautet »Was ist zu tun – was ist vielleicht auch zu unterlassen?« (Meyer 2015, S. 12). Die Antworten auf diese Frage beschäftigen gleichermaßen die professionell Handelnden in Pflege, Medizin und weiteren Gesundheitsfachberufen (Meyer 2015, S. 12). Es ist eine charakteristische und zugleich essenzielle Frage für alle Praxisdisziplinen bzw. Handlungswissenschaften (Schnittger et al. 2012, S. 140). In der täglichen Praxis arbeiten Pflegende, Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und andere Gesundheitsfachberufe gemeinsam mit den Pflegebedürftigen oder Patient*innen. Insbesondere das Zusammenwirken mehrerer Disziplinen in der Versorgung von Pflegebedürftigen oder Patient*innen kann auf der Basis wissenschaftsbasierter Erkenntnisse und Entscheidungsfindung als Evidence-based Practice verstanden werden (Gross 2002). Sackett et al. (1999) beschreiben für eine evidence-basierte Praxis fünf essenzielle Schritte: 1.) Informationsbedarf in beantwortbare Fragen übersetzen; 2.) möglichst effizientes Aufspüren der besten Evidence zur Beantwortung dieser Fragen; 3.) kritische Bewertung der Evidence hinsichtlich ihrer Validität und Nützlichkeit; 4.) die Ergebnisse dieser Bewertung in die klinische Praxis umsetzen und 5.) die eigene Leistung evaluieren.

Gerade die Entwicklung der evidence-basierten Medizin hat für einen »Quantensprung« in den Entscheidungsprozessen in der Gesundheitsversorgung gesorgt. EbM war und ist ein essenzieller Fortschrittsgenerator in der Medizin (Berchthold et al. 2005). In der Folge hat sich auch die gesetzliche Krankenversicherung daran orientiert. So gilt bis heute der wissenschaftliche Standard zur Bestimmung des allgemein anerkannten Erkenntnisstandes in den Disziplinen als Handlungsgrundlage (Roters 2012).

Begriffsbestimmung mit vier Merkmalen

In der pflegewissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Begriffe für das Konzept der evidence-basierten Pflegepraxis verwendet. Es finden die Bezeichnungen Evidence-based Care (EBC), Evidence-based Practice (EBP) und Evidence-based Nursing (EBN) sowie Evidence-based Nursing and Caring Verwendung (Smoliner et al. 2008, S. 288). Dabei werden die Begriffe EBN und EBP meist synonym verwendet. Die einzelnen Begriffsbeschreibungen stimmen darin überein, dass mit dem Konzept ein Entscheidungs- und Problemlösungsprozess assoziiert und die Komponente von Forschung für die klinische Entscheidungsfindung formuliert ist. Scott und McSherry (2008) haben 13 Begriffsbestimmungen in wissenschaftlichen Publikationen von EBN und EBP anhand der inhaltlichen Merkmale, Schlüsselelemente und Hauptaussagen miteinander verglichen. Dabei stellten sie fest, dass elf Schlüsselelemente identisch waren. Alle Definitionen beinhalteten das derzeit beste Wissen aus der Forschung als Wert für die Praxis im Rahmen klinischer Entscheidungsfindungen. Die Konzepte unterscheiden sich dahingehend, dass EBN den Einbezug der Patient*innen in der Umsetzung stärker fokussiert. Sie kommen zu dem Ergebnis:

»EBN could be defined as ›an ongoing process by which evidence, nursing theory and the practitioners‹ clinical expertise are critically evaluated and considered, in conjunction with patient involvement to provide delivery of optimum nursing care for the individual« (Scott & McSherry 2008).

Eine von allen getragene Definition von Evidence-based Nursing gibt es nicht und ist im wissenschaftlichen Diskurs auch nicht erforderlich (Kleibel & Smoliner 2012, S. 27).

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