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1.7 Konzeptuelle Grundlagen und Ziele des Unterrichtskonzepts

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Als Teil des aktuellen Diskurses zur baukulturellen Bildung greifen die Autorinnen mit diesem Unterrichtskonzept die bildungstheoretische Verortung von Roland Reichenbach auf und richten es an den «Dimensionen ästhetischer Bildung» aus (Reichenbach, 2021, S. 66). Reichenbach versteht baukulturelle Bildung im weitesten Sinne als ästhetische Bildung. «Erleben, Empfindung und Wahrnehmung sind die leibphänomenalen Zugangsweisen zur Baukultur» (ebd., S. 61). Das griechische Wort «Aisthesis» beziehe sich auf die Sinneswahrnehmungen, so Reichenbach, und «sich ästhetisch zu bilden, soll im günstigen Fall dazu führen, mehr, bewusster und anders wahrzunehmen», als dies in alltäglichen Weisen der Fall sei (ebd.). Ästhetische Bildung beschränkt sich somit nicht auf den Kunstunterricht. Denn Ästhetik ist sowohl «eine Theorie der freien Künste» als auch «der sinnlichen Erkenntnis»; sie ist «eine Wissenschaft der spezifischen Erkenntnisweise sinnlicher Wahrnehmung» (Kirchner, 2020, S. 71 f.). Die Definition besagt, dass nicht nur wissenschaftlich deduktives Denken als vernunftgeleitetes Denken anzusehen ist, sondern dass daneben auch das ganzheitliche, unmittelbar sinnliche Erkennen als Erkenntnisform gelte. Man spricht von ästhetischer Wahrnehmung, ästhetischer Erfahrung oder auch ästhetischer Erkenntnis. Baukulturelle Bildung bietet demnach geeignete Voraussetzungen für eine ästhetische Wissenserweiterung. Reichenbach definiert Baukultur als «phänomenale Ganzheit», die es nicht zu zerlegen, sondern als Ganzes wahrzunehmen und zu verstehen gelte, das heisst, dass im Unterricht geeignete Rahmenbedingungen für ganzheitliche ästhetische Erfahrungen geschaffen werden sollen. Jedes «baukulturelle Erzeugnis – vom Innenraum einer Wohnung bis zum Strassennetz einer Grossstadt» gelte es «zunächst weniger zu analysieren, als vielmehr zu beschreiben und verstehen» (Reichenbach, 2021, S. 67f.). Dennoch definiert Reichenbach sechs Dimensionen, die unterschiedliche Perspektiven auf diese Ganzheit bieten und für die Diskussion rund um die Vermittlung von Baukultur wegweisend sind:

•Dimension Wahrnehmung (Wahrnehmung der baukulturellen Phänomene)

•Dimension Funktionalität (Kriterien der Funktionalität von baukulturellen Erzeugnissen)

•Dimension Materialität (Grundmaterialien und ihre Bearbeitungsmöglichkeiten)

•Dimension Wissenskorpus (Fachwissen, Orientierungswissen und Verfügungswissen)

•Dimension Gemeinsinn und Kommunikation (sprachlich-ästhetische Ausdrucksmöglichkeiten)

•Dimension Imagination und Kreation (Neuschöpfungen, Entwurf- und Produktion sowie Umsetzungen) (Reichenbach, 2021, S. 67)

Die «Dimension der Wahrnehmung», das heisst die Bildung der sinnlichen Vorstellung, ist, wie Reichenbach ausführt, eine Voraussetzung, welche die Imaginationsfähigkeit begünstigt. Die «Dimension der Imagination» also die Förderung der Imaginationsfähigkeit, erfüllt sich reflexiv im bewussten Umgang mit der gestalteten Welt. Die Imagination ist nicht unmittelbar an eine bestimmte Wahrnehmung gebunden, sie kann unbeabsichtigt und unabhängig von der Wahrnehmung auftreten. «Sie eröffnet die Anschauung eines Weltverhältnisses, das die augenblickliche Situation der Wahrnehmung überschreitet» (Seel, 2003, S. 137). Die beiden ersten Dimensionen Reichenbachs verweisen auf die Vermittlung grundlegender Voraussetzungen, die es Kinder und Jugendlichen ermöglichen, Fähigkeiten zu entwickeln, die es ihnen erlauben werden, die Welt gestalten zu können. Baukulturelle Bildung unterscheidet sich insofern von den gestalterischen Disziplinen Kunst und Design, als sie zusätzlich die Funktion und Form der gebauten Umwelt zum Inhalt hat. Elemente der baukulturellen Bildung, wie die «Dimension der Funktionalität» und die «Dimension der Materialität», sind auf allgemeinbildender Basis kongruent mit elementaren Lernzielen des technischen und bildnerischen Gestaltens – zum Beispiel bezüglich Material- und Verfahrenskunde oder Entwurfsstrategien –, reichen jedoch darüber hinaus. Baukulturelle Bildung orientiert sich an der Architektur. Auch für die «Dimension des Wissenskorpus» kann in der Grundschule an Lernziele des Lehrplans 21 angeknüpft werden. Das räumliche Basis- und Orientierungswissen ist Inhalt der Lernziele im Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) und wird im Rahmen der Modulinhalte «Räume, Zeiten, Gesellschaften» vermittelt. Für das Konzept der baukulturellen Bildung ist es von Bedeutung, Wissensbereiche zu verschränken und gleichzeitig Wissen und Können zu fördern. Die «Dimension des Gemeinsinns» legt eine fächerübergreifende Förderung nahe. Diese Dimension hat die Schärfung der Sinne und Ausdrucksfähigkeit, das heisst die Kommunikation der ästhetischen Erfahrungen zum Ziel. Die Voraussetzung für das Agieren und Reagieren ist, so Reichenbach, die Wahrnehmung baukultureller Phänomene mit Wissen und Erfahrung abzugleichen und sich zum hergestellten Lebensraum in leiblicher, emotionaler und geistiger Hinsicht zunehmend differenzierter in ein Verhältnis zu setzen» (Reichenbach, 2021, S. 68). Aufgrund der Omnipräsenz von Medien vermischen sich virtuelle und reale Erfahrungswelten – auch in der Vermittlung von Baukultur. Sich auf die Wahrnehmung ästhetischer Phänomene einzulassen, bedeutet somit, sich auch auf die Widersprüche und Heterogenität verschiedener Bildwelten beziehungsweise Wirklichkeiten einzulassen und diese in die Betrachtungen und Diskussionen miteinzubeziehen.

Ein Verständnis für gebaute Strukturen und Bauten kann sich aus der Sicht der Autorinnen am besten aus einem intrinsisch motivierten Interesse entwickeln. Damit sich Kinder und Jugendliche begeistern können und sich an der Gestaltung der Umwelt beteiligen wollen, ist es von Bedeutung, die baukulturellen Erzeugnisse im lebensweltlichen Erscheinungszusammenhang wahrzunehmen und ihre Funktion und Materialität zu begreifen sowie Grundprinzipien, Techniken und Materialien der Gestaltung und Formfindung kennenzulernen. Auf diese Weise kann es gelingen, baukulturelle Erzeugnisse vergleichend und assoziierend zu betrachten sowie individuelle Überlegungen einzubringen beziehungsweise zur Diskussion zu stellen. Wünschenswert ist eine ästhetische Bildung, die sich über alle Zyklen der Grundschule erstreckt und die Vermittlung der baukulturellen Grundlagen kontinuierlich aufbaut.

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Kopfkarte: Beispiel aus einem Kindergarten

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