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1.2 Bewusstseinsbildung für die Umweltgestaltung

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Baukultur umgibt uns und entsteht jeden Tag neu; sie umschliesst «die Summe der menschlichen Tätigkeiten, welche die gebaute Umwelt verändern», so die Erklärung von Davos (FDHA/FOC, 2018, S. 3). Mit dieser Definition von Baukultur wird ein weites Feld eröffnet und das Verhältnis des Menschen zur Umwelt beschrieben. Als Ausgangspunkt jeder Definition hat, «darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen» (Luhmann, 2015a, S. 35). Umwelt und soziales System beschreiben eine «Differenz», so der Soziologe Luhmann; es handelt sich sozusagen um zwei Seiten derselben Medaille. Menschen sind «strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen» (ebd.). Gleichzeitig stellt sich die Welt für sie als «Gesamtheit der Eigenwerte» dar, die sie durch ihre Existenz bewusst oder unbewusst verändern beziehungsweise gestalten. «Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um die Welt als Welt erscheinen zu lassen» (Luhmann, 2015b, S. 15). Die Umwelt ist somit eine Voraussetzung, die eine Bildung des Bewusstseins über Differenzierungen erfordert. Das Bundesamt für Kultur beschreibt das Verhältnis Mensch–Umwelt in seinem Konzept für Baukultur auf folgende Weise: «Sei es als Bewohner[/-innen] oder als Architekt[/-innen] – alle Menschen prägen ihren Lebensraum. Dieser formt gleichzeitig das Zusammenleben jedes und jeder Einzelnen» (BAK, o. J.). Auch hier wird klargestellt, dass alle Menschen zur Gestaltung der Umwelt beitragen. Die Bildung des Umweltbewusstseins und der Gestaltungsfähigkeit des Menschen sind auch im schweizerischen Lehrplan verankert. Die Autorinnen dieser Publikation beziehen den Begriff Umwelt auf die Perspektiven der Fachbereiche Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). Konkret orientieren sie sich an den Bildungszielen für nachhaltige Entwicklung (BNE), fokussieren auf die «Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihrer Um- und Mitwelt» (NMG) und verbinden diese Inhalte mit den Kompetenzzielen der Fachbereiche Gestaltung (BG, TTG) (D-EDK, 2016b S. 17; 2016c, S. 5; 2016a, S. 3). Natürliche, kulturelle, wirtschaftliche, soziale und historische Phänomene werden mit den Schülerinnen und Schülern über interdisziplinäre Zugangsweisen erschlossen. Ausgehend von diesen Grundlagen ist das vorliegende Konzept für baukulturellen Unterricht entwickelt worden.

Baukulturelle Bildung als Allgemeinbildung erfordert eine Erklärung der Begriffe und den Aufbau eines fächerübergreifenden Verständnisses. Es erstaunt nicht, dass selbst der Begriff «Baukultur» für Lehrpersonen wenig fassbar ist, wie das Projektteam während der Durchführung feststellte. Auch Elisabeth Gaus-Hegner und ihr Team hielten in ihrer Studie 2019 zu Bestand und Bedarf der Baukulturellen Bildung an Schweizer Schulen fest: «Baukultur wird von Lehrpersonen und Dozierenden als wenig geläufiger und dehnbarer Begriff wahrgenommen» (Archijeunes, 2019, Vorwort). Es handelt sich um einen Ausdruck, der in unserem Sprachraum ausser in Fachkreisen der Architektur selten verwendet wird. Kinder verstehen ihn, wenn ihnen Baukultur als zusammengesetztes Wort von Bauen und Kultur erklärt wird. Wie der Begriff «Baukultur» in der Architektur definiert wird, zeigt die Erklärung von Davos: «Baukultur umfasst den gesamten Baubestand, einschliesslich Denkmälern und anderer Elemente des Kulturerbes, sowie die Planung und Gestaltung von zeitgenössischen Gebäuden, Infrastrukturen, vom öffentlichen Raum und von Landschaften» (BAK, 2018, S. 17). Der Begriff umfasst somit nahezu alle Bereiche der gebauten Umwelt.

Baukultur reicht also über die Wirkungsfelder von Architektur und Denkmalschutz hinaus, zielt auf öffentliche und private Bauten, Räume und Landschaften und auf baukulturelle Prozesse. Darüber hinaus strebt das Manifest für eine «hohe Baukultur» die Mitwirkung aller am jeweiligen Ort lebenden Menschen an. Das Qualitätskonzept, das im Nachgang zur Erklärung von Davos vom Bundesamt für Kultur verfasst wurde, präzisiert: «Ein spezifischer Genius Loci entsteht durch das soziale Gefüge, die Geschichte, Erinnerungen, Farben und Gerüche eines Ortes, die seine Identität und die Verbundenheit der Menschen mit ihm bestimmen» (BAK, 2021, S. 4). Die Authentizität eines Ortes entsteht also nicht nur durch die Bauten, sondern auch durch die Menschen, die eine gebaute Umwelt beleben und damit täglich verändern. Die Einladung für ein baukulturelles Engagement richtet sich damit nicht nur an Baufachleute; vielmehr braucht es dazu alle Bürgerinnen und Bürger, wie es bereits die damalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz (2007) anlässlich einer Eröffnungsansprache für einen Jugendwettbewerb formulierte. «Lebensraumgestaltung fängt im Kleinen an», sagte sie und führte aus: «[…] im Haus, in dem wir wohnen und arbeiten; in der Strasse vor dem Haus; auf dem Weg zur Schule, den wir mit dem Velo oder dem Bus zurücklegen; im Dorf oder im städtischen Quartierzentrum, wo wir uns einen Platz zum Begegnen wünschen».[5]

Baukulturelle Bildung bereichert die Fächer des Bildnerischen und Technischen Gestaltens mit dem Aspekt der Umweltgestaltung. Die Thematik schafft neue Möglichkeiten für schulische Projekte, fördert die Partizipation in der eigenen Wohngemeinde und befähigt Schüler und Schülerinnen zur Teilhabe an Veränderungsprozessen. Doch ein Interesse für die gebaute Umwelt ist keine Selbstverständlichkeit. Es nimmt seinen Anfang im Kindesalter mit der Wahrnehmung und Aneignung des unmittelbar vorhandenen Lebensraums. Raumeindrücke werden erfahren und Räume erkundet, befragt und verglichen. Kinder entwickeln Vorstellungen und Assoziationen und bewerten Räume emotional (vgl. Buether, 2010, S. 47). Sie entwickeln eine «räumlich visuelle Kompetenz» und setzen diese «im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess» ein, sei es im Innen- oder Aussenraum (ebd., S. 261). Kinder und Jugendliche entwickeln Fähigkeiten, um gemeinschaftliche Raumprojekte zu initiieren; ihr Interesse für das Bauen reicht von der Herstellung von Laub- und Baumhütten[6] bis hin zur Teilhabe an städtischen Entwicklungsprojekten. Diese Interessen werden in Schulen, Freizeit und Ferienangeboten seit jeher berücksichtigt. Pädagogische Hochschulen im In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, baukulturelle Bildung in ihr Lehrangebot aufzunehmen. Auch im Architekturstudium setzen sich Studierende vermehrt mit den ethischen Dimensionen ihres Fachbereichs auseinander. Die Technische Universität München TU beispielsweise zeigte der Öffentlichkeit in der Architekturausstellung Experience in Action! (2020) eine Auswahl an Partizipationsprojekten. Wie Hilde Strobl in der Projektdokumentation titelt: «Architektur ist zu wichtig, um sie den Architekten und Architektinnen zu überlassen» (Strobl in Bader & Lepik, 2020, S. 31). Eine umfassende baukulturelle Bildung für alle setzt somit eine sich kontinuierlich aufbauende Auseinandersetzung mit Raumeigenschaften, -beschaffenheiten und -wirkungen auf allen Ausbildungsstufen voraus.

Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book)

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