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EVOLUTION UND AUSSTERBEN

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Die Art des evolutionären Wandels, dem sich sowohl Ursprungs- als auch Tochterart unterwerfen, heißt Kladogenese (siehe S. 16). Nach Abschluss der Kladogenese tritt die Tochterart mit allen anderen Arten im |16|lokalen Gebiet – inklusive der Ursprungsart – in Konkurrenz. Das Ergebnis des Kampfes um die endlichen Umweltressourcen könnte sein, dass sich die Größe der Tochterart und einer oder mehrerer ihrer Konkurrenten im Laufe der Zeit so weit reduziert, dass sie durch zufällige Fluktuationen der Populationsgröße entweder lokal oder global aussterben.


Beispieldiagramm von Anagenese und Kladogenese. Bei der Anagenese verändert sich infolge natürlicher Auslese eine ganze Population oder Art in ihrer Form und ihrem genetischen Aufbau. Von den Taxonomen wird ihnen in Anerkennung dieses Wandels ein neuer Name verliehen. Bei der Kladogenese durchläuft nur ein Teil der Art, meist eine isolierte Population, diese evolutionäre Transformation, während in anderen Gebieten die Ursprungsart bestehen bleibt.

Wenn sich dagegen die Merkmale, die diesen Wettbewerbsvorteil verschaffen, durch alle Populationen der Art verbreiten, dann besteht die Möglichkeit, dass die gesamte Art mit der Zeit ihren grundlegenden Charakter verändert. Wenn dies geschieht, vergeben die Taxonomen – jene Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung und der Namensgebung von Arten befassen – in Anerkennung des Wandels der Art einen neuen Namen, der sie von der älteren Form unterscheiden soll, die vorher existierte. Diese Weise der Benennung neuer Arten ist besonders unter den Paläontologen verbreitet, die zwischen der älteren und jüngeren |17|Form einer sich entwickelnden Linie unterscheiden müssen, die beide im Fossilbefund erhalten sind. Diese Art der Veränderung einer ganzen Population wird Anagenese genannt (S. 16).

Die Anagenese unterscheidet sich insofern fundamental von der Kladogenese, als die Ursprungsart bei der Anagenese aus dem biologischen Bestand verschwinden muss. Im Unterschied zum lokalen und globalen Aussterben ist dieses Verschwinden jedoch nicht das Resultat einer Unfähigkeit der Art, mit einer Veränderung der Umweltverhältnisse zurechtzukommen. Tatsächlich ist der Untergang der Ursprungsart in der Anagenese das Zeichen eines erfolgreichen Umgangs mit Umweltveränderungen, indem sie ihren Charakter durch Adaptation verändert. Da die Implikationen eines anscheinenden Artenverlustes durch Anagenese völlig andere sind als die Implikationen eines wirklichen Artenverlustes durch Wettbewerb, spricht man im ersteren Fall von Artumwandlung. In Wirklichkeit geht dabei nur der Name der Ursprungsart verloren.

Aus verschiedenen Gründen sah Darwin das Aussterben sowohl im Fall der Kladogenese wie in dem der Anagenese als einen graduellen Prozess an, der sich aus der natürlichen Selektion gemäß der oben beschriebenen Mechanismen ergibt. Im Besonderen wies er die Idee von der Hand, dass das Aussterben oft durch direkte physikalische Prozesse in der Form ungewöhnlicher Naturereignisse oder Naturkatastrophen hervorgerufen werde. Dies entsprach der Theorie des Gradualismus in natürlichen Prozessen, die viele von Darwins philosophischen und wissenschaftlichen Kollegen mit ihm vertraten (z.B. der Geologe Charles Lyell) und die von vielen, die seiner Theorie der natürlichen Auslese widersprachen (z.B. Sir Richard Owen), abgelehnt wurde. Deswegen spielt das Thema des Aussterbens weder in Darwins bahnbrechendem Buch über die Evolution, Über die Entstehung der Arten (1859), noch in einem anderen von Darwins Büchern eine große Rolle.

Darwins Ansichten über das Aussterben von Arten wurden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Orthodoxie. In den 40er- und 50er-Jahren hatte sich die allgemeine wissenschaftliche Auffassung über das Aussterben insoweit verschoben, dass es nun weniger als ein beiläufiger Nebeneffekt des Existenzkampfes betrachtet wurde, sondern eher als ein recht passiver Prozess, bei dem die ökologischen Nischen, die von einer ausgestorbenen Art hinterlassen wurden, möglicherweise für viele Millionen von Jahren brachlagen, bevor die natürliche Auslese einen neuen Bewohner dafür hervorbringen konnte. Der einflussreiche Wirbeltier-Paläontologe George Gaylord Simpson wies beispielsweise in seinem Buch Zeitmaße und Ablaufformen der Evolution (1951) darauf hin, dass gemäß dem Fossilbefund Millionen von Jahren vergangen waren, bevor die einst von den Ichthyosauriern besetzte Rolle |18|des marinen luftatmenden Räubers wieder von den Zahnwalen eingenommen wurde. Ebenso verstrichen mehrere Dutzend Millionen Jahre zwischen dem Niedergang der nichtvogelartigen Dinosaurier als der dominierenden großen Landwirbeltiere und dem Erscheinen ähnlich vielfältiger Populationen von Großsäugern. Alles in allem vertraten Simpson und andere seiner Zeit die Ansicht, dass das Aussterben sogar eine noch geringere Rolle in der Evolution spielte, als Darwin es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Man könnte das Dahinscheiden solch großartiger Kreaturen wie der Dinosaurier, Pterosaurier, Ichthyosaurier, Plesiosaurier, Säbelzahntiger, Mammute und Mastodonten betrauern, doch die fachkundige wissenschaftliche Meinung während der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre war es, dass das Aussterben ein beiläufiger Nebeneffekt der normalen natürlichen Auslese war und dass sich die Biosphäre mit dem Ersetzen der ausgestorbenen Gruppe Zeit ließ.


Der Barringer-Meteoritenkrater in der Nähe von Flagstaff, Arizona (USA). Dieses Gebilde wurde einst als das Ergebnis einer hydrovulkanischen Dampfexplosion angesehen. Doch als Eugene Shoemaker in den 1960er-Jahren eine seltene Form von Quarz vorfand, die nur durch extremen Druck entsteht, bewies er, dass der Krater tatsächlich durch einen Meteoriteneinschlag entstanden war. Dieser Krater war von einem Nickel-Eisen-Meteoriten mit einem Durchmesser von etwa 50 Metern verursacht worden.

Im 21. Jahrhundert änderte sich die Auffassung über das Aussterben grundlegend. Beginnend mit den Veröffentlichungen von Otto Schindewolf in Deutschland in den 1950er-Jahren und von Norman Newell in den USA in den 1960er-Jahren wurde der Katastrophismus (die Idee, dass die Erde wiederholt zum Opfer massiver Umwälzungen durch Naturkatastrophen |19|geworden ist) wiederbelebt. Die vorhergehenden Generationen von Geowissenschaftlern, darunter auch Darwin und Simpson, hatten die Katastrophismus-Theorie des 19. Jahrhunderts abgelehnt, weil sie sich auf vage und geheimnisvolle Vorgänge berief, die sich dem wissenschaftlichen Studium entzogen. – Anmerkung: Der Katastrophismus wurde ebenso aus politischen (Verbindung zur Französischen Revolution) und religiösen (Verbindung zum biblischen Fundamentalismus) Gründen abgelehnt. – In den 1960er-Jahren lagen inzwischen allerdings so deutliche paläontologische Indizien für den umfassenden Verlust bedeutender Tiergruppen über einen relativ kurzen erdgeschichtlichen Zeitraum vor, dass Lyells und Darwins Erklärung nicht länger glaubwürdig war, die solche Muster allgemein auf die Unzulänglichkeiten des Fossilbefunds zurückführte. Auch gab es in den 1970er-Jahren handfeste Hinweise auf riesige Vulkanausbrüche (größer als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte), auf grundlegende Veränderungen in der Höhe des Meeresspiegels und darauf, dass sogar ganze Kontinente über die Erdoberfläche trieben – und das alles innerhalb überraschend kurzer geologischer Zeitintervalle. Diese Hinweise waren einfach zu überzeugend, um sie mit all ihren Auswirkungen auf die Geschichte des Lebens ignorieren zu können.

Die im späten 20. Jahrhundert eintretende Neubewertung der Bedeutung relativ kurzfristiger und oft dramatischer Prozesse in der Erdgeschichte wurde häufig als Revolution des Neo-Katastrophismus in den Geowissenschaften angesehen. Im Rückblick ist dieser Fortschritt in unserem Verständnis der natürlichen Umwelt vielleicht eher als eine Erweiterung des Prinzips des Aktualismus anzusehen, also der Idee, dass heute ablaufende Prozesse auch in der Vergangenheit aktiv waren. Zu Darwins Zeiten war die Vorstellung einer Kollision eines Asteroiden mit der Erde oder eines mehrere Zehntausend Kubikkilometer Lava spuckenden Vulkans geradezu absurd. Doch bereits in den 1960er-Jahren hatten sich genügend Hinweise darauf angesammelt, dass die Erde im Verlauf ihrer gesamten Geschichte sehr viel brutaleren und folgenreicheren Naturkatastrophen ausgesetzt gewesen ist als jenen, die nur während der Menschheitsgeschichte stattfanden.

Die Identifikation großer runder Senken in der Erdoberfläche (siehe S. 18) als Meteoritenkrater, ähnlich den Einschlagspuren auf dem Mond, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für den Höhepunkt dieses Trends, den Bereich der als „natürlich“ geltenden Prozesse auszuweiten. Bislang waren diese Strukturen (auf dem Mond wie auch auf der Erde) als Produkte vulkanischer Prozesse angesehen worden. Es war Eugene Shoemaker, der schließlich feststellte, dass diese geologischen Charakteristika von außerirdischem Ursprung waren. Er fand seltene, unter hohem Druck entstandene |20|Formen von Quarz in und um die später als Barringer-Meteoritenkrater bekannt gewordene Einbuchtung im US-Bundesstaat Arizona. Durch Experimente konnte gezeigt werden, dass diese ungewöhnlichen Formen des Quarzes nur durch gewaltige physikalische Stoßkräfte entstehen, wie sie vom Einschlag eines Meteoriten von beträchtlicher Größe zu erwarten wären. Als die Möglichkeit einmal eröffnet war, globale Veränderungen auch durch solche seltenen Großereignisse wie Meteoriteneinschläge und massive Vulkanausbrüche (siehe unten) zu erklären, dauerte es nicht mehr lange, bis sich die Paläontologen zu fragen begannen, welche Auswirkungen diese Prozesse auf frühe Lebensformen hatten.

Die (Wieder-)Einführung katastrophaler physikalischer Ereignisse als potenzielle Triebkräfte für das Artensterben bedeutete ebenfalls, dass evolutionäre Vorgänge ohne direkten Wettbewerb zwischen den Arten nun nicht mehr ausgeschlossen werden konnten, wenigstens in der Theorie. Da Spezies eine begrenzte und erstaunlich kurze Lebensspanne besitzen, sind sie zu keiner Adaptation fähig, die es ihnen erlauben würde, seltene und drastische Umweltveränderungen zu überstehen, die während ihrer eigenen Lebensspanne, oder auch der ihrer Vorfahren, noch niemals aufgetreten sind. Dass eine Spezies ein solches Ereignis überlebt, könnte dann reiner Zufall sein: die Besiedlung einer Umgebung oder Region, die zufällig der Zerstörung entgeht; eine Umwelttoleranz, die zufällig ein Weiterleben unter ungewöhnlichen Bedingungen sichert; oder die Fähigkeit, sich ausgerechnet auf solche Ressourcen umzustellen, die nach einer Katastrophe verfügbar sind.

Dieses Szenario sagt voraus, dass es eine Gruppe von zum Aussterben führenden Mechanismen geben könnte, die im Prinzip jedweden Wettbewerbsvorteil, den eine Spezies durch Adaptation im Sinne Darwins erworben hat, zunichtemacht. Seltene und dramatische Umweltereignisse könnten tief greifende Auswirkungen auf den Kurs der Evolution haben – Auswirkungen, die als Resultate von Kräften auftreten, die sich außerhalb der Bandbreite normaler evolutionärer Prozesse befinden. Frei nach dem renommierten Paläontologen David Raup könnten die entscheidendsten Aspekte der Geschichte des Lebens damit weniger ein Ergebnis glücklicher Gene als vielmehr glücklicher Umstände sein.

Dieses Modell, nach dem die Extinktionsanfälligkeit einfach eine Sache des Pechs ist, kann dabei behilflich sein, zumindest einen der Gründe zu verstehen, warum die von Van Valen erstellten Überlebenskurven, die die Aussterberaten verschiedener Arten wiedergeben, konstant erscheinen. Über kurze Zeitspannen der Erdgeschichte mag die natürliche Auslese aussterberesistente Arten hervorbringen; doch könnten diese Arten durch einzelne oder in Kombination auftretende seltene Ereignisse, die das Ökosystem so massiv stören, dass Arten zufällig ausgelöscht werden, |21|auch aus dem evolutionären System verschwinden, ohne dass ihr bisheriger Anpassungserfolg bei normalen Umweltveränderungen und/oder beim zwischenartlichen Wettbewerb eine Rolle spielen würde – also bei jenen Veränderungen, denen sich die Spezies infolge normaler natürlicher Selektion ausgesetzt sehen. Solche raren Ereignisse würden zwar am äußersten Ende des Spektrums der Umweltherausforderungen stehen, denen sich die Arten kurz-, mittel- und langfristig stellen müssen. Betrachtet man jedoch den dynamischen Charakter der Umweltveränderungen auf allen Ebenen im Zusammenspiel mit dem unnachgiebigen (darwinistischen) Drang jeder Spezies, (mehr oder weniger) mit jeder anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung um überlebenswichtige Ressourcen zu konkurrieren, so scheint keine Spezies jemals einen Wettbewerbsvorteil entwickeln zu können, der sich langfristig erhält. Mit anderen Worten: Jede Art muss (im adaptiven Sinne) so schnell wie möglich „rennen“, nur um in derselben Position im lokalen Wettbewerb bleiben zu können. Wegen ihrer Anspielung auf eine Beobachtung der Roten Königin in Lewis Carrolls Geschichte Alice hinter den Spiegeln wurde diese Erklärung der konstanten Aussterberaten die Red-Queen-Hypothese genannt, welche Van Valen mit einem „neuen evolutionären Gesetz“ verglich.

Der Großteil dieses Buchs widmet sich einer detaillierten, wenngleich kurzen, Beschreibung der Resultate dieser Neubeurteilung der Bandbreite physikalischer Prozesse, die zur zufälligen Auslöschung von Organismen führen, sowie der Konsequenzen dieser Neubewertung für das Verständnis der Effekte von globalen Umweltveränderungen, die von uns Menschen verursacht werden. Im Besonderen werde ich der Frage nachgehen, ob hauptsächlich eine einzelne Klasse intensiver und ungewöhnlicher Ereignisse für die großen geologischen Aussterbeereignisse verantwortlich ist oder ob sich diese eher mit einer ungewöhnlichen Verkettung von Ereignissen in Verbindung bringen lassen, welche die globale Umwelt weniger stark, aber über längere Zeiträume stören. Zur Unterscheidung dieser beiden Szenarien werde ich das erstere als Einzelursachenszenario (EU-Szenario) und das letztere als Szenario der multiplen interaktiven Ursachen (MIU-Szenario) bezeichnen.

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